Urteil des VG Düsseldorf vom 05.03.2008

VG Düsseldorf: eltern, jugendhilfe, familie, auflage, icd, lese, gespräch, gesellschaft, schwimmen, zeugnis

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 K 1659/07
Datum:
05.03.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 K 1659/07
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe
von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die
Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die am 00.0.1997 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten die Übernahme einer
jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in Form einer Lese- und
Rechtschreibtherapie bei der Dipl.-Psych. T in X. Es werden die bereits entstandenen
Kosten für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis zum 31. Januar 2008 in Höhe von 2.680
Euro geltend gemacht, sowie Hilfe ab dem 1. Februar 2008 zwei Stunden die Woche bis
zum Ende des derzeit laufenden Schuljahres.
2
Die Klägerin lebt zusammen mit ihren beiden älteren Schwestern B, geboren 00.0.1992,
sowie M, geboren 00.0.1994, und ihren leiblichen Eltern in einem Haushalt in X.
3
Nach Angaben der Eltern haben sich bei der Klägerin im Verlauf der kindlichen
Entwicklung frühzeitig nicht unerhebliche Sprachschwierigkeiten herausgestellt, so
konnte sie mit vier Jahren noch kein Wort deutlich sprechen. Sie wurde daher vom Jahre
2001 bis zum Ende des Jahres 2004 logopädisch betreut. Von Sommer 2000 bis 2002
ging sie in einen ortsnahen Regelkindergarten, danach besuchte sie einen
Sprachheilkindergarten in Y. Im Sommer 2003 wurde sie in die
Gemeinschaftsgrundschule C eingeschult. Nachdem sonderpädagogischer
Förderbedarf für Sprachbehinderte festgestellt worden war, erhielt die Klägerin bis Ende
des zweiten Schuljahres wöchentlich zwei Stunden Unterricht durch eine
Sprachheilpädagogin. Als die Sonderförderung eingestellt wurde, kam es in der dritten
4
Schulklasse zu weiteren Problemen im Verhalten der Klägerin. Daher stellten die Eltern
diese gegen Ende des Jahres 2005 dem Sozialpädiatrischen Zentrum des Nhospitals in
X - SPZ X - vor. Die von Dr. med. S, Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater,
Psychotherapie und Allergologie, und dem Dipl. Psych. C1 daraufhin unter dem 29.
Dezember 2005 gefertigte Stellungnahme kommt zu der Diagnose, es liege vor allem
eine Lese- und Rechtschreibstörung sowie eine Sprachentwicklungsstörung vor. In den
Empfehlungen gaben sie an, zur eingehenderen Beurteilung weitere Untersuchungen
vornehmen zu müssen. Diese fanden im März, April und Juni des Jahres 2006 ebenfalls
im SPZ X statt und ergaben die unter dem 4. Juli 2006 festgehaltenen Diagnosen:
1. Lese-Rechtschreibstörung (ICD 10 F81.5)
5
2.
6
3. Psychogene Anpassungsreaktion mit generalisierter Misserfolgserwartung und
beeinträchtigter Selbstwertentwicklung (ICD 10 F43.2),
7
4.
8
5. Zn. Sprachentwicklungsstörung mit Auffälligkeiten in der Artikulation sowie in der
expressiven und rezeptiven Sprache (ICD 10 F80.0Z , F80.1Z, F80.2Z),.
9
6.
10
7. Hyperreagibles Bronchialsystem (ICD 10 J.45.1).
11
8.
12
Bei der Untersuchung der seinerzeit acht Jahre alten Klägerin erzielte diese in der
Testung ihrer allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten einen Standard IQ von 110, also
einem Ergebnis im oberen Durchschnittsbereich. Das Sozialpädiatrische Zentrum
sprach die Empfehlung aus, die Klägerin nach dem LRS-Erlass von 1991 systematisch
fördern zu lassen, ferner eine spezifische LRS-Therapie durch einen qualifizierten LRS-
Therapeuten vornehmen zu lassen und eine individuelle Elternberatung durchzuführen.
Auf eine Antragstellung zur Übernahme der Kosten beim Jugendamt wurde
hingewiesen. Es wurde eine Evaluation der LRS-Therapie zwölf Monate später
anempfohlen.
13
Unter Vorlage dieser Begutachtung beantragte die Klägerin durch ihre Eltern unter dem
28. August 2006 die Gewährung von ambulanter Jugendhilfe in Form von
Eingliederungshilfen nach § 35 a SGB VIII.
14
Mitarbeiter der Beklagten nahmen daraufhin am 5. Oktober 2006 bei der Familie der
Klägerin einen Hausbesuch vor, bei dem die Klägerin und ihre Eltern anwesend waren.
Nach Schilderung der Vorgeschichte gaben die Eltern der Klägerin an, die
Rechtschreibschwierigkeiten äußerten sich darin, dass ihre Sätze oft dysgrammatisch,
unvollständig und unzusammenhängend wirkten und schwer verstanden würden. Die
Hausaufgabensituation zu Hause sei geprägt durch Druck, Frustration und Demotivation
sowie Misserfolge, die Aufgaben würden häufig nicht fertiggestellt, die Klägerin lese
schlecht, könne bestimmte Wörter gar nicht aussprechen und verweigere sich teilweise
völlig, sodass die Mutter nicht mehr an sie rankomme. Sie gehe zwar regelmäßig in die
15
Schule, wiederholt klage sie morgens über Kopfschmerzen und Bauchweh. Sie sei in
der Klasse eine "Störerin", das selbstbewusste, willensstarke Kind habe aggressive
Impulse und sei laut, unruhig und mische andere auch auf, sei aufgedreht und könne
sich dann nicht mehr steuern. Die Klägerin habe keine richtigen Freundinnen, nur
flüchtige Klassenkontakte zu Gleichaltrigen. Sie nehme an einer Sportgruppe Shaolin
teil und könne sich auch dort schwer konzentrieren und bändigen. In die Familie passe
die Klägerin eigentlich nicht hinein. Die Geschwister seien Theoretiker, die Klägerin ein
Praktiker und werde auch von den Geschwistern damit aufgezogen. Sie sei aber
gleichwohl in die Familie integriert.
Die zur Stellungnahme aufgeforderte Klassenlehrerin der Klägerin Frau L hielt in ihrem
Bericht vom 20. Oktober 2006 unter Punkt 2. "Lern- und Arbeitsverhalten sowie soziale
Integration" fest:
16
"Manchmal fällt ihr es noch schwer, sich auf den Unterrichtsinhalt zu konzentrieren, da
sie stets an allen Belangen ihrer Mitschüler interessiert ist. G kümmert sich um ihre
Tischnachbarn, ist immer hilfsbereit und erinnert sie an das Einhalten von Regeln. Sie
selbst ist temperamentvoll und meist gut gelaunt. Mitunter fällt es ihr noch schwer,
besonders bei Fachlehrern und LAA, ihren Mitteilungsdrang zu zügeln und sich selbst
immer an die Gesprächsregeln zu halten. G hat in ihrer offenen Art stets Kontakt zu
vielen Kindern der Klasse, entwickelte aber noch keine festen Freundschaften. Häufig
sucht sie das Gespräch mit der Lehrerin."
17
Unter dem Punkt 3. "Befindlichkeit des Kindes in der Schule unter dem Aspekt der LRS-
Belastung" teilte die Lehrerin mit, dass G einen fröhlichen Eindruck mache und gern zur
Schule komme. Sie arbeite bereitwillig auch an den Aufgaben aus dem Sprachbereich
mit. G lese nicht gerne, da es ihr Mühe bereite, sie setze sich aber mit den geforderten
Arbeiten auseinander. Unter Punkt 5. heißt es, G mache kontinuierliche Fortschritte und
lerne mit ihren Schwierigkeiten umzugehen.
18
Mit Bescheid vom 16. November 2006 lehnte die Beklagte die Übernahme der Kosten
im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII ab, im wesentlichen mit der
Begründung, eine bestehende oder drohende Beeinträchtigung der Teilhabe im Leben
in der Gesellschaft liege nicht vor, insoweit seien die Anspruchsvoraussetzungen nicht
gegeben. Es sei nicht feststellbar, dass die Klägerin derartige Probleme habe, denn sie
sei im häuslichen Umfeld integriert und werde von den Eltern altersadäquat gefördert.
Die Schule ermögliche der Klägerin die Teilnahme an einer LRS-Förderung, um die
schulische Integration weiterhin positiv zu beeinflussen.
19
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin durch ihre Eltern mit Schreiben vom 28.,
eingegangen am 30. November 2006, Widerspruch. Zur Begründung gab der die Eltern
der Klägerin vertretende VdK Sozialverband NRW im wesentlichen an, die Förderung
der Klägerin sei unter anderem eine Empfehlung der Gemeinschaftsgrundschule in dem
Zeugnis vom 19. Januar 2007. Im übrigen wurde auf die Stellungnahme des
Sozialpädiatrischen Zentrums des Nhospitals vom 4. Juli 2006 Bezug genommen, in der
ausdrücklich eine weitere Förderung durch entsprechende Therapien empfohlen werde.
20
Die Beklagte lehnte mit Widerspruchsbescheid vom 27. März 2007 die Übernahme der
Kosten der Eingliederungshilfemaßnahme für die Klägerin im wesentlichen unter
Vertiefung ihrer Begründung ab. Sie führte im Einzelnen an, dass sowohl der
Schulbericht als auch die Zeugnisse und die Situation der Klägerin in der Familie
21
deutlich machten, dass eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft nicht gegeben sei.
Mit der am 23. April 2007 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin das Begehren weiter.
Zur Begründung hat sie weitere Berichte des Sozialpädiatrischen Zentrums des
Nhospitals in X vom 8. Januar 2007 und 21. August 2007 vorgelegt, in denen die oben
genannten Diagnosen bestätigt wurden. Eine weitere Intelligenztestung ergab danach
u.a. einen Wert von 130 im nonverbalen Testteil. Auch in den neueren Stellungnahmen
wurde neben der schulischen Förderung nach dem LRS-Erlass weiterhin eine LRS-
Therapie nach den bereits beschriebenen Kriterien empfohlen. Auch die
zusammenfassenden Empfehlungen entsprechen im wesentlichen denen der
Vorgutachten. Ferner wurde ein Bericht über die (seit Anfang Dezember 2006 zwei Mal
wöchentlich jeweils eine Stunde zu einem Vergütungssatz von 40,00 Euro
stattfindende) Legasthenietherapie bei der Dipl. Psychologin T vom 10. September 2007
vorgelegt, in dem es zum Verhalten der Klägerin heißt:
22
"Bei der therapeutisch geleiteten Arbeit war G interessiert und begeistert dabei. Sie
konnte die gezeigten Zusammenhänge als auch die Strategien schnell begreifen und
umsetzen, sodass ihr innerhalb der Arbeit regelmäßig Erfolge möglich waren, die sie als
solche auffassen und die sie auf ihre neuerworbenen Fähigkeiten zurückführen konnte.
Immer dann, wenn G Hausaufgaben von der Schule mitbrachte, zu denen sie Hilfe
erbat, weil sie die Aufgaben nicht selbstständig lösen konnte, erlebte ich ein ganz
anderes Mädchen: den Tränen nahe, mutlos, unglücklich über die eigenen
mangelhaften Fähigkeiten, während die Klassenkameraden damit nicht solche
Schwierigkeiten hatten. In solchen Situationen fiel G in Sprechmuster der
Kindergartenzeit zurück. Mit dem Verweis, dass ihr die Therapie helfen könne,
demnächst diese Schwierigkeiten nicht mehr zu haben und dem Hinweis auf das bisher
erreichte, ließ sich G meistens zu weiterer Arbeit motivieren."
23
Die Mitarbeiterin der Beklagten führte am 23. Oktober 2007 ein Gespräch mit der Mutter,
in dem diese u.a. angab, die Klägerin werde von der Klassengemeinschaft tendenziell
ausgeschlossen, sie sei in der Grundschulzeit in vier Jahren nur vier Mal zu Mitschülern
eingeladen, in der neuen Schule in B1 sei sie bisher ein Mal eingeladen worden. Sie
habe keine richtigen Freunde und erfahre Ablehnung. Die Kinder wollten nicht mit ihr
spielen. Im häuslichen Umfeld stehe sie hinter ihren beiden Schwestern zurück und sei
ihnen verbal unterlegen. Sie ziehe sich dann häufig ins Zimmer zurück und sehe fern.
Nur durch die Motivationsarbeit der Eltern nehme sie an dem Shaolinkurs und
wöchentlich ein Mal beim DLRG Schwimmen teil.
24
In einem Gespräch mit der Grundschullehrerin, Frau L, am 29. Oktober 2007 schilderte
diese, dass sich die Klägerin bis zu den Sommerferien im Jahre 2007 deutlich
überfordert gezeigt habe. Erst als klar gewesen sei, dass sie nicht in die Realschule
gehe, sondern weiter die Hauptschule besuche, habe die Klägerin erleichtert gewirkt.
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Ein weiteres Gespräch führte die Beklagte mit dem Dipl. Psych. C1 vom SPZ. Dieser
habe auf die generalisierte Misserfolgserwartung im schulischen Bereich der Klägerin
und eine Übertragung der negativen Erfahrungen generell auf andere Situationen
hingewiesen. Es bestehe zwar grundsätzlich keine Beeinträchtigung, im alltäglichen
Leben an Dingen teilzunehmen, allerdings könne die Klägerin z. B. Informationsmedien
nicht nutzen, Inhalte nicht verstehen und sei dadurch beeinträchtigt, z. B. könne sie
keine BRAVO lesen. Es komme dadurch zu Rückzugsverhalten und einer
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beeinträchtigten Selbstwertentwicklung. Ein Gespräch mit der jetzigen Deutsch- und
Englischlehrerin, Frau C2, vom 7. November 2007 ergab, dass diese mit dem
Sozialverhalten der Klägerin zufrieden ist. Sie sei in die Klasse integriert und kein
Außenseiter. G habe Kontakt zu anderen Mädchen; Jungs beschwerten sich allerdings,
dass G sie "haue". Frau C2 fände es wichtig, dass die LRS-Therapie weitergehe, da G
dadurch im Selbstvertrauen gestärkt würde und sie sich besser in den Unterricht
einbringen könne.
Die Klägerin beantragt,
27
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 16. November 2006 und des
Widerspruchsbescheides vom 27. März 2007 zu verpflichten, im Rahmen der
jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe die LRS-Therapie bei der Diplompsychologin
und Legasthenie-Therapeutin T in X für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis zum Ende
des Schuljahres 2007/2008 zu bewilligen.
28
Die Beklagte beantragt,
29
die Klage abzuweisen.
30
Zur Begründung vertieft die Beklagte im wesentlichen die bereits vorgetragene
Begründung.
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Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Dipl. Psych. C1 als
sachverständigen Zeugen. Wegen der Ergebnisse der Aussage wird auf das Protokoll
der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2008 verwiesen.
32
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
sowie des vorgelegten Verwaltungsvorganges des Beklagten (Beiakte Heft 1)
ergänzend Bezug genommen.
33
Entscheidungsgründe:
34
Die Klage ist zulässig, hat aber der Sache nach keinen Erfolg.
35
Die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom 16. November 2006 und 27. März
2007 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in eigenen Rechten (§ 113 Abs. 5
Satz 1 VwGO). Sie hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung von
Eingliederungshilfe nach § 35a Sozialgesetzbuch-Achtes Buch (SGB VIII) - Kinder- und
Jugendhilfe - für den Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis zum 30. Juni 2008 (Ende des
laufenden Schulhalbjahres 2007/2008) in Form der begehrten Legasthenie-Therapie.
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Die Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 SGB VIII liegen im streitgegenständlichen
Zeitraum nicht vor. Nach der genannten Vorschrift haben Kinder und Jugendliche
Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen
Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2).
37
1.)
38
Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und auch durch fachärztliche
Stellungnahmen belegt, dass bei der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum eine
Lese- und Rechtschreibstörung im Sinne der Internationalen Klassifikation psychischer
Störungen der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10 Kapitel V, F 81.5) vorlag.
Zusätzlich war es in Folge dieser Störung zu einer "Psychogenen Anpassungsreaktion
mit generalisierter Misserfolgserwartung und beeinträchtigter Selbstwertentwicklung"
(ICD 10 F43.2) gekommen, die nach den überzeugenden Angaben des untersuchenden
Dipl. Psychologen C1 in der mündlichen Verhandlung ebenfalls eine Abweichung der
seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 Ziff. 1 SGB VIII darstellt.
39
Die seelische Gesundheit der Klägerin wich zudem von dem für ihr Lebensalter
typischen Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate ab. Dies ergibt
sich schon aus den Stellungnahmen des Sozialpädiatrischen Zentrums des Nhospitals
in X, die unter Leitung von Dr. med. S, Kinderarzt, Kinder- und Jugendpsychiater,
Psychotherapie und Allergologie durch den Dipl. Psych. C1 durchgeführt wurden. Die
erste Begutachtung fand Ende 2005 statt, die letzten Befunde wurden Ende 2007
erhoben. Die Diagnosen sind von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden. Auch
im Hinblick auf die Angaben der Mutter der Klägerin ist mithin davon auszugehen, dass
diese emotionale Störung auch über einen längeren Zeitraum als sechs Monate
bestand.
40
Es kann hier dahin stehen, ob sich eine andere Beurteilung ergeben würde, wenn die
oben beschriebenen Befunde bezogen auf die seelische Gesundheit der Klägerin allein
oder jedenfalls zu einen großen Teil ursächlich auf eine nicht behandelbare, auditive
Wahrnehmungsstörung, die selbst keine seelische Störung darstellt, zurückzuführen
wären. Dies musste nicht weiter aufgeklärt werden, weil die zweite Voraussetzung für
die Gewährung einer Hilfe nach § 35a SGB VIII nicht gegeben ist.
41
2.)
42
Es ist nämlich nicht feststellbar, dass aufgrund der oben genannten Befunde die
Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft im streitgegenständlichen Zeitraum
beeinträchtigt war oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten war.
43
Allein eine diagnostizierte seelische Beeinträchtigung im Sinne von § 35a Abs. 1 Nr. 1
SGB VIII ist noch nicht als (drohende) seelische Behinderung zu qualifizieren.
44
Wiesner, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 3. Auflage 2006, § 35a Rdnr.: 21; Fischer,
in: Schellhorn, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 3. Auflage 2007, § 35a Rdnr.: 11f;
Mrozynski, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 4. Auflage 2004, § 35a Rdnr. 6; Vondung,
in: Kunkel (Hrsg.), Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 3. Auflage
2006, § 35a Rdnr. 7; Frankfurter Kommentar zum SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 5.
Auflage 2006, §35a Rdnr.: 33.
45
Vielmehr ist das Vorliegen einer (drohenden) Beeinträchtigung der Teilhabe zusätzlich
festzustellen. Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne einer Partizipation
wird gekennzeichnet durch die aktive, selbstbestimmte und altersgemäße Ausübung
sozialer Funktionen und Rollen, in den das Kind/Jugendlichen betreffenden
Lebensbereichen wie Familie, Verwandtschafts- und Freundeskreis, Schule und
außerschulischen Betätigungsfeldern (z.B. Sportvereine kirchliche Gruppen, Pfadfinder)
sowie Ausbildungsbereichen.
46
Fischer, in: Schellhorn, SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe, 3. Auflage 2007, § 35a Rdnr.:
11f;
47
Die Beeinträchtigung dieser Partizipation wird nach der Intensität der Auswirkungen auf
das gesamte Leben in der Gemeinschaft beurteilt und zu den regelmäßig und häufiger
im Entwicklungsprozess auftretenden Problemen abgegrenzt. Bloße Schulprobleme
und Schulängste, die andere Kinder teilen, beeinträchtigen noch nicht die Fähigkeit zur
Eingliederung in die Gesellschaft
48
BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38/97 -, FEVS 49, 487 ff., ebenso Urteil
vom 11. August 2005 - 5 C 18/04 -, juris; Vondung, in: Kunkel (Hrsg.), Kinder- und
Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Auflage 2003, § 35a Rdnr. 7
49
Erforderlich ist vielmehr eine nachhaltige Beeinträchtigung der (psycho-)sozialen
Funktionstüchtigkeit bzw. Integrationsfähigkeit.
50
Vondung, in: Kunkel (Hrsg.), Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, 3.
Auflage 2006, § 35a Rdnr. 7. Stähr, in: Stähr (Hrsg.), SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe,
Stand Dez. 2005, § 35a Rdnr. 29 ff.;
51
Anzeichen hierfür sind etwa in totaler Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus
allen Sozialkontakten, sei es in der Familie oder Schule oder auch den sonstigen
Freizeitbereichen, sowie in sekundären Neurotisierungen wie Schlafstörungen, Ritzen,
Einnässen, Nägelkauen zu sehen.
52
In Anwendung dieser Grundsätze war die Teilhabe der Klägerin am Leben in der
Gesellschaft weder im Hinblick auf schulische Anforderungen noch im Hinblick auf ihre
soziale Eingliederung im Sinne von § 35a SGB VIII beeinträchtigt; dass ihr im
streitgegenständlichen Zeitraum eine entsprechende Beeinträchtigung drohte, lässt sich
ebenfalls nicht feststellen.
53
Nach dem sich dem Gericht bietenden Gesamtbild weichen die festgestellten
Lebensumstände nicht in nachhaltiger und schwerwiegender Weise von denen
Gleichaltriger ab. Vielmehr lebt die Klägerin - anders als viele andere Kinder - in einer
normalen, weitgehend behüteten Familiensituation, in der sie unterstützt und gefördert
wird. So ist etwa die Mutter unter großem Einsatz bereit, bei den Deutsch- und
Sprachproblemen sowie den Hausaufgaben insgesamt zu helfen, gemeinsam mit den
Geschwistern findet das DLRG-Schwimmen statt, man motiviert sie, den Shaolinkurs als
körperliche Kompensation zu nutzen.
54
Die Beeinträchtigung oder das Drohen einer solchen lässt sich nicht schon aus der - der
Klägerin unter Ziff. 2 der Stellungnahmen des SPZ attestierten - "Psychogenen
Anpassungsreaktion mit generalisierter Misserfolgserwartung und beeinträchtigter
Selbstwertentwicklung (ICD 10 F43.2)" entnehmen. Dies ergibt sich aus der eindeutigen
Stellungnahme des sachverständigen Zeugen Dipl. Psychologen C1, der diese
Diagnose als mögliche Folge der Lese- Rechtschreibstörung darstellt und den Befund
ebenfalls als Abweichung der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35a Abs. 1 Ziff. 1
SGB VIII versteht. Demzufolge kann aus diesem Befund nicht für sich genommen bereits
eine Wahrscheinlichkeit für das Drohen einer Teilhabebeeinträchtigung geschlossen
werden.
55
Auch aus den übrigen zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten ist eine solche
Folge nicht mit der für eine zusprechende Entscheidung erforderlichen Gewissheit zu
entnehmen. Selbst die Schilderungen des Dipl. Psychologen C1 lassen einen solchen
Schluss nicht zu. Vielmehr hat dieser in seinem Gespräch vom 30. Oktober 2007
gegenüber der Beklagten deutlich gemacht, dass bei der Klägerin grundsätzlich keine
Beeinträchtigung, im alltäglichen Leben an Dingen teilzunehmen, bestehe. Er schildert
sie als aufgewecktes Kind. Trotz der beobachteten Rückzugstendenzen gibt er z.B. für
die Testsituation am 10. März 2006 in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2006 an, die
Klägerin zeige sich aufgeschlossen, freundlich, zur Mitarbeit bereit, schildert die
Testmotivation als gleichbleibend gut, ohne erhöhte Ablenkbarkeit durch Außenreize
oder verstärktes Auftreten motorischer Unruhe. Auch die Dipl. Psychologin und
Therapeutin T schildert die Interaktion mit der Klägerin eher positiv. Die Klägerin habe
mit Interesse und Begeisterung die Therapiestrategie aufgegriffen und umgesetzt. Selbst
wenn sie sehr unglücklich darüber gewesen sei, dass sie schulische Hausaufgaben
nicht bewältigen konnte, sei sie mit dem Hinweis auf die Arbeitserfolge in der Therapie
erneut zu motivieren, weiter zu arbeiten. Es wird weder eine Totalverweigerung noch
sonstiges nachhaltiges Rückzugsverhalten geschildert. Vielmehr ist G mit
entsprechenden Bemühungen wieder zu aktivieren.
56
Diese Einschätzung entspricht auch im wesentlichen den aus dem schulischen Bereich
vorliegenden Erkenntnissen. So liegen die Zeugnisse der Klägerin vom Beginn ihrer
Schulzeit in der Gemeinschaftsgrundschule Büderich bis zum letzten Zeugnis aus der
Gemeinschaftshauptschule B1 vor. In den Hinweisen zum Arbeits- und Sozialverhalten
der Grundschul-Klassenlehrerin L wird die Klägerin als "immer fröhlich, hilfsbereit und
sehr lieb" bezeichnet oder ausgeführt: "G hat in ihrer offenen Art Kontakt zu vielen
Kindern der Klasse", "im Sportunterricht zeigt sie Einsatz und Durchhaltevermögen",
"sie singt und musiziert mit Freude" (Zeugnis Klasse1). Entsprechendes wird im Kern
auch nach der Klasse 2 attestiert: "sie kam mit allen Kindern gut aus, bei
Auseinandersetzungen setzte sie sich vermittelnd ein, gern und zuverlässig übernahm
G Aufgaben der Gemeinschaft". Dem entspricht auch der Bericht der Klassenlehrerin L
zu der hier vorliegenden Problemstellung unter dem Aspekt der LRS-Belastung. Danach
macht G einen fröhlichen Eindruck, sie "kommt gerne zur Schule, sie arbeitet bereitwillig
auch an den Aufgaben aus dem Sprachbereich".
57
Das Gericht geht auch davon aus, dass die Wahrnehmungen der Klassenlehrerin
authentisch und nicht - wie von der Klägerseite unterstellt - geschönt sind. Zum einen
hat die Klassenlehrerin das Verhalten der Klägerin über einen längeren Zeitraum -
nämlich 4 Schuljahre hinweg - beobachtet und die Bewertungen ausführlich und im
wesentlich ähnlich geschildert. Widersprüche oder Ungenauigkeiten, unschlüssige
Wendungen sind nicht zu erkennen. Auch wenn die Eltern der Klägerin dagegen den
Eindruck vermitteln, die Klassenlehrerin habe regelmäßig die Situation zu positiv
dargestellt, kann dem so nicht gefolgt werden. Denn nach Angaben der Eltern hat die
Klassenlehrerin es etwa abgelehnt, die Klägerin in den Deutsch-Noten unter
Berücksichtigung der LRS- Problematik zu bewerten, sodass sie in Deutsch eher
bessere Noten hätte bekommen müssen. Dies spricht jedenfalls nicht dafür, dass sie
das Bild der Klägerin insgesamt geschönt wiedergab. Zum anderen haben die
Bewertungen der beiden Lehrer auf der Hauptschule B1, die gegenüber den
Mitarbeitern der Beklagten im Oktober und November 2007 abgegeben wurden, eine
entsprechende Tendenz. Nach den Angaben der Deutsch- und Englischlehrerin arbeitet
G "motiviert mit, ist in der Klasse integriert und kein Außenseiter, sie hat Kontakt zu
58
anderen Mädchen, Jungs beschweren sich, dass G sie "haue". Auch der
Mathematiklehrer sieht "keine großen Schwierigkeiten in der Klassengemeinschaft".
Nicht zuletzt sprechen auch die Angaben der Mutter der Klägerin nicht für nachhaltige
Probleme mit der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, denn ausweislich ihrer
Angaben ist die Klägerin trotz aller Probleme in die Familie integriert. Auch wenn sie die
sportlichen Aktivitäten (Shaolin-Sportgruppe, DLRG- Schwimmen) nicht ausschließlich
aus eigenem Antrieb betreibt, so ist sie aber durch die Familie erfolgreich motivierbar,
daran teilzunehmen. Die Förderung von sportlicher Betätigung durch die Familie
kompensiert dabei die von der Mutter angegebenen aggressiven Impulse des
willensstarken Kindes. Wenn darüber hinaus davon berichtet wird, dass die Klägerin
wiederholt mit Bauch- oder Kopfschmerzen zur Schule gehe, so geht dies über häufig
vorhandene Schulängste vieler anderer Kinder nicht hinaus.
59
Auch wenn G von den Dipl. Psychologen in der Testsituation als verletzlich dargestellt
wird, wenn ihr etwas nicht gelingt, so lässt sie sich in aller Regel aber wieder motivieren,
ohne dass sie etwa in Depression oder völligen Rückzug verfällt. Eine Depression als
solche ist nach Angaben des Zeugen C1 auch nicht zu erwarten.
60
Wenn nach alledem von einer Störung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft oder
einem Drohen einer solchen Störung nicht ausgegangen werden kann, kommt es auch
nicht mehr streitentscheidend darauf an, ob die am 1. Dezember 2006 selbst beschaffte
Hilfe schon aus den Gründen des § 36a SGB VIII nicht von der Beklagten zu über
nehmen ist, weil die Hilfe nicht auf einer Entscheidung der Beklagten beruhte.
61
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung
zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
62