Urteil des VG Düsseldorf vom 05.11.2004

VG Düsseldorf: politische verfolgung, verein, bundesamt, neue beweismittel, gesetzliche frist, unmittelbare gefahr, persönliche freiheit, anerkennung, mitgliedschaft, folter

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 20 K 3784/03.A
Datum:
05.11.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
20. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
20 K 3784/03.A
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin ihre Klage
zurückgenommen hat.
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Bundesamtes
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Mai 2003
verpflichtet, das Asylverfahren wieder aufzunehmen und festzustellen,
dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei
vorliegen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen
Kostenschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen
Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abzuwenden,
wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die am 00.0.1976 geborene, unverheiratete Klägerin ist türkische Staatsangehörige
kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste nach ihren eigenen Angaben am 20.
November 1999 gemeinsam mit ihrem minderjährigen Sohn T2 auf dem Luftweg über
den Flughafen Köln/Bonn erstmals in das Bundesgebiet ein.
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Unter dem 2. Dezember 1999 beantragte sie ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Im
Kern begründete sie ihren Asylantrag damit, dass sie - wie auch ihre Brüder - politisch
tätig gewesen sei, weshalb man sie in der Türkei für drei Monate inhaftiert habe. Mit
Bescheid vom 18. Januar 2000 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag ab, stellte aber zugleich fest,
dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorlägen.
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Hiergegen erhob der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten Klage, der das
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Verwaltungsgericht Düsseldorf durch Urteil vom 10. August 2000 - 17 K 1830/00.A -
stattgab und den angefochtenen Bescheid aufhob. Im Kern führte das
Verwaltungsgericht hierzu aus: Die Klägerin sei vor ihrer Ausreise aus der Türkei nicht
in asylrelevanter Weise verfolgt worden. Eine solche Verfolgung habe auch nicht
unmittelbar gedroht. Sie sei mithin unverfolgt ausgereist. Der im gerichtlichen Verfahren
vorgelegte Haftbefehl des 1. Staatssicherheitsgerichts Istanbul vom 29. April 1997 sei
offensichtlich nachträglich verfälscht worden. Auch der Vortrag zu den politischen
Aktivitäten und zu ihrer angeblichen Verhaftung sei unglaubhaft. Einer Rückkehr in die
Türkei stehe nicht die Gruppenzugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden entgegen, da
jedenfalls für unverfolgt ausgereiste Kurden im Westen der Türkei eine zumutbare
inländische Fluchtalternative zur Verfügung stehe. Die Klägerin habe bei einer Einreise
in die Türkei nicht mit asylerheblichen Maßnahmen zu rechnen. Exilpolitische
Aktivitäten von derartigem Gewicht, dass - jedenfalls bei unverfolgt ausgereisten Kurden
- die Voraussetzungen einer Asylanerkennung unter dem Gesichtspunkt der Fortführung
einer in der Türkei bereits gefestigten politischen Einstellung bzw. die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 AuslG bejaht werden könnten, seien nicht vorgetragen worden.
Den gegen diese Entscheidung gerichteten Antrag der Klägerin auf Zulassung der
Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG
NRW) durch Beschluss vom 19. Oktober 2000 - 8 A 4516/00.A - ab.
5
Nach Anhörung der Klägerin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 23. November
2000 fest, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG nicht vorlägen. Zugleich
forderte es die Klägerin zur Ausreise auf und drohte ihr die Abschiebung in die Türkei
an. Die daraufhin vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf erhobene Klage - 25 K
8438/00.A - nahm die Klägerin unter dem 13. Juni 2001 wieder zurück, nachdem das
Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 15. Dezember 2000 - 25 L 3782/00.A - ihren
Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt hatte.
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Bereits am 21. Februar 2001 stellte die Klägerin einen Folgeantrag, mit dem sie erneut
ihre Anerkennung als Asylberechtigte und die Feststellung von
Abschiebungshindernissen nach dem AuslG begehrte. Zur Begründung machte sie im
Wesentlichen geltend: Seit Abschluss des ersten Asylverfahrens habe sich die Sach-
und Rechtslage in entscheidungserheblicher Weise verändert. Sie habe sich nämlich in
„hochprofilierter" Weise im Bundesgebiet exilpolitisch betätigt. Sie sei (Mit- )Begründerin
und Leiterin des Vereins für anatolische Frauen in E - Anadolu Kadin Merkezi - (AKM).
In der Versammlung vom 00.00.0000 sei sie zur stellvertretenden Vorsitzenden des
Vereins gewählt und am 00.0.0001 in dieser Eigenschaft in das Vereinsregister
eingetragen worden. Der Verein AKM habe sich zum Ziel gesetzt, türkische und
kurdische Frauen auf der Grundlage der Philosophie einer demokratischen Republik,
die von Öcalan propagiert werde, aufzuklären, zu vereinen und als organisierte Kraft
gegen den faschistischen türkischen Staat zu kämpfen. AKM vertrete die Interessen der
Frauen, die in der Türkei sexuell belästigt und vergewaltigt worden seien. In ihrer
Eigenschaft als stellvertretende Vorsitzende habe sie verschiedene Veranstaltungen
organisiert. Um ihren Asylantrag zu stützen, legte die Klägerin zahlreiche Unterlagen,
u.a. Zeitungsausschnitte, Bescheinigungen von in Deutschland lebenden Kurden,
Auszüge aus dem Vereinsregister sowie die Satzung und Protokoll der
Gründungsversammlung des Vereins AKM vor.
7
Im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung am 2. Mai 2001 vor dem Bundesamt
ergänzte und vertiefte die Klägerin ihren Vortrag und legte weitere Unterlagen vor.
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Insbesondere machte sie geltend, sie unterhalte seit Anfang 2000 Kontakt zu kurdischen
Vereinen. Sie sei 2. Vorsitzende des AKM und außerdem seit dem 00.0.0001
Vorstandsmitglied im „Kurdistan-Solidaritätszentrum E e.V.". Außerdem engagiere sie
sich im E Friedenskomitee.
Mit Bescheid vom 23. Mai 2003 - abgesandt am 27. Mai 2003 - lehnte das Bundesamt
die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und die Abänderung des Bescheides
vom 23. November 2000 bzgl. der Feststellungen zu § 53 AuslG für die Klägerin ab. Im
Kern führte das Bundesamt zur Begründung seiner Entscheidung aus, einige Aktivitäten
seien schon außerhalb der Fristen des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG vorgetragen worden.
Hinsichtlich der übrigen geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten sei festzuhalten,
dass diese niedrigen Profils und deshalb insgesamt nicht geeignet seien, eine für die
Klägerin günstigere Entscheidung herbeizuführen. Das Vorbringen der Klägerin und die
vorgelegten Unterlagen ließen kein hervorgehobenes politisches Engagement
erkennen.
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Die Klägerin hat am 9. Juni 2003 Klage erhoben.
10
Sie trägt unter Vorlage weiterer Unterlagen vor: sie habe in ihrer Eigenschaft als
Vorstandsmitglied des Kurdistan-Solidaritätszentrums erhebliche Aktivitäten entfaltet.
So habe sie Zeitungsartikel geschrieben, Versammlungen angemeldet, die Anreise zu
Demonstrationen organisiert und dafür Busse angemietet, sowie für den Verein
Räumlichkeiten angemietet. Außerdem habe das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
durch Urteil vom 7. Januar 2003 einer Frau, die ebenso wie die Klägerin
Vorstandsmitglied des AKM sei, Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG
zuerkannt. Der Verein AKM sei nach Auffassung des Polizeipräsidiums E politisch aktiv
und habe seine Aktivitäten in die Räume des Kurdistan Solidaritätszentrums in E
verlegt. Diese Organisation wiederum sei als ein von der PKK streng hierarchisch
geführter Verein einzustufen. Der Verein AKM sei nach den Feststellungen des
Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen zu dem Zweck gegründet worden, insbesondere
kurdische Frauen an die kurdische Sache zu binden. AKM und Kurdistan-
Solidaritätszentrum würden eng zusammenarbeiten. Wenn Versammlungen oder
Demonstrationen durchgeführt würden, würden die Aufgaben vom Solidaritätszentrum
verteilt und gemeinsame Beschlüsse unter Nutzung der wechselseitig verschränkten
Vorstandsfunktionen gefasst. Der Verein AKM sei durch seine enge räumliche,
personelle und organisatorische Verflechtung mit dem Kurdistan Solidaritätszentrum als
exilpolitische Vereinigung in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden getreten.
Wegen der Beeinflussung durch die PKK werde die Vereinigung in hohem Maße als
staatsgefährdend eingestuft. Das Kurdistan-Solidaritätszentrum sei Mitglied der
Föderation YEK-KOM und werde wie diese von der PKK/KADEK hierarchisch geführt.
Innerhalb der Organisation nehme E den Platz eines Gebietes (Bölge) ein, an dessen
Spitze ein Bölge-Leiter in einer Kaderfunktion stehe. Dass sie - die Klägerin -
zwischenzeitlich aus dem Vorstand beider Vereine ausgeschieden sei, sei nicht von
Belang, da eine Gesamtwürdigung der Aktivitäten ergebe, dass sie weiterhin im
Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden stehe.
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Auf den Antrag der Klägerin vom 19. Juli 2003 hat das erkennende Gericht mit
Beschluss vom 23. September 2003 - 20 L 2745/03.A - im Wege der einstweiligen
Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO die Beklagte dazu verpflichtet, gegenüber der
zuständigen Ausländerbehörde sicherzustellen, dass gegen die Klägerin bis zur
Entscheidung im Hauptsacheverfahren keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen
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ergriffen werden.
In der mündlichen Verhandlung, in der die Klägerin mit Hilfe eines Dolmetschers für die
türkische und kurdische Sprache gehört worden ist, hat die Klägerin ihre Klage
zurückgenommen, soweit diese auf die Anerkennung als Asylberechtigte im Sinne von
Art. 16a GG gerichtet war. Wegen der Einzelheiten der klägerischen Angaben im
Übrigen wird auf die Niederschrift vom heutigen Tage Bezug genommen.
13
Die Klägerin beantragt nunmehr,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 23. Mai 2003 zu verpflichten, das Asylverfahren wieder
aufzunehmen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
vorliegen,
15
hilfsweise,
16
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 23. Mai 2003 zu
verpflichten, das Verfahren hinsichtlich § 53 AuslG wieder aufzunehmen und unter
Abänderung des Bescheides vom 23. November 2000 festzustellen, dass in bezug auf
die Klägerin hinsichtlich der Türkei Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG
vorliegen.
17
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
18
die Klage abzuweisen.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten 20 K 3784/03.A, 20 L 2745/03.A, 20 L 2244/03.A, 17 K 1830/00.A, 25 K
8438/00.A und 25 L 3782/00.A -, den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der
Beklagten und der Ausländerbehörde sowie auf die zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemachten Auskünfte und Erkenntnisse Bezug genommen.
20
Entscheidungsgründe:
21
Soweit die Klägerin ihre Klage zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäß § 92
Abs. 3 VwGO einzustellen.
22
Die Klage mit dem noch zur Entscheidung gestellten Hauptantrag ist zulässig und
begründet.
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Soweit das Bundesamt in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides die Durchführung
eines neuen Verfahrens auch in Bezug auf § 51 Abs. 1 AuslG und damit zugleich die
Feststellung abgelehnt hat, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen,
ist der Bescheid rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 S.
1 VwGO). Zu Unrecht hat die Beklagte die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens
und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Abschiebungsschutzes
nach § 51 Abs. 1 AuslG abgelehnt.
24
Gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, wenn die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, wenn sich also entweder die
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der ersten Asylversagungsentscheidung zu Grunde liegende Sach- oder Rechtslage
nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat (Ziffer 1) oder neue Beweismittel
vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben
würden (Ziffer 2) oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben
sind.
Die Klägerin, die geltend macht, sie sei in der Zeit von 00.0.0000 bis 00.0. 0000 als
Vorstandsmitglied des Vereins „Anadolu Kadin Merkezi (AKM) Anatolisches
Frauenzentrum E e.V." sowie in der Zeit vom 00.0. 0000 bis zum 00.00.0000 als
Vorstandsmitglied (Beisitzerin) des Kurdistan-Solidaritätszentrum e.V. /Region E" im
Vereinsregister eingetragen gewesen und sei für beide Vereine auch politisch aktiv
geworden, kann sich mit diesem Vortrag erfolgreich auf eine Änderung der Sachlage
berufen. Zwar genügt es für die Beachtlichkeit eines Folgeantrages wegen
nachträglicher Änderung der Sachlage nicht, dass eine Änderung der Sachlage
pauschal behauptet wird. Vielmehr muss sich aus dem Vorbringen eine nachträgliche
Änderung im Verhältnis zu dem früher geltend gemachten Sachverhalt tatsächlich
ergeben,
26
vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 - 9 C 33.90 - EZAR 212 Nr. 8; Urteil vom 23. Juni
1987 - 9 C 251.86 - DVBl. 1987, 1120; OVG NW, Beschluss vom 30. November 1988 -
16 B 22084/87 -,
27
was wiederum voraussetzt, dass eine Änderung der früheren Sachlage glaubhaft und
substantiiert vorgetragen wird,
28
BVerfG, Beschluss vom 13. März 1993 - 2 BvR 1988/92 - InfAuslG 1993, 300.
29
Den Darlegungen muss mithin wenigstens ein schlüssiger Ansatz für eine mögliche
politische Verfolgung zu entnehmen sein. Diese Anforderungen sind durch den
vorgetragenen Sachverhalt aber erfüllt. Zur weiteren Begründung wird zwecks
Vermeidung von Wiederholungen auf den Beschluss des Einzelrichters vom 23.
September 2003 im Verfahren 20 L 2745/03.A Bezug genommen.
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Die Klägerin ist mit ihrem Vorbringen weder nach § 51 Abs. 2 VwVfG ausgeschlossen,
noch hat sie die gesetzliche Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG versäumt. Die 3-Monats-Frist
des § 51 Abs. 3 VwVfG ist gewahrt, weil die Eintragung der Klägerin als
Vorstandsmitglied des AKM im für jedermann einsehbaren Vereinsregister erst am
19.0.0000 erfolgte, der Folgeantrag aber schon im Februar 2001 gestellt wurde. Als
Beisitzerin und Vorstandsmitglied des Kurdistan- Solidaritätszentrums wurde die
Klägerin sogar erst am 24.0. 0000 in das Vereinsregister eingetragen. Die Klägerin ist
mit ihrem Vorbringen auch nicht nach § 51 Abs. 2 VwVfG ausgeschlossen. Sie hätte die
maßgeblichen Umstände nämlich nicht im früheren Asylverfahren vortragen können,
denn dies wurde in erster Instanz (Tatsacheninstanz) durch das Urteil des VG
Düsseldorf vom 10. August 2000 - 17 K 1830/00.A - abgeschlossen. Zwar hätte die
Klägerin ihre exilpolitischen Tätigkeiten und insbesondere ihre Eintragung im
Vereinsregister schon im Verfahren 25 K 8438/00.A einführen können. Indessen
handelte es sich hierbei eben nicht um ein Asylklageverfahren, sondern um ein
Klageverfahren gerichtet auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53
AuslG und die Aufhebung der Abschiebungsandrohung, welche vom Bundesamt im
Nachgang zur Aufhebung des Bescheides vom 18. Januar 2000 durch das Urteil des
VG Düsseldorf vom 10. August 2000 - 17 K 1830/00.A - erlassen wurde.
31
Die Sachlage hat sich nachträglich in der Weise verändert, dass der Klägerin
Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt werden muss. Nach dieser
Vorschrift darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein
Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen
Überzeugung bedroht ist. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sind
deckungsgleich mit denjenigen des Asylanspruchs aus Art. 16 a Abs. 1 GG, so weit es
die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der
Verfolgung betrifft. Im Gegensatz zum Asylanspruch setzt der Anspruch auf politischen
Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG hingegen nicht den
Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht sowie das Fehlen
anderweitiger Verfolgungssicherheit (§ 27 AsylVfG) voraus,
32
vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 - DVBl. 1992, 843.
33
Sowohl für einen Asylanspruch nach Art. 16 a Abs. 1 GG als auch für das
Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG gilt folgendes:
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Asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen sind stets solche, die eine unmittelbare Gefahr
für Leib, Leben oder die persönliche Freiheit beinhalten. Beeinträchtigungen anderer
Rechtspositionen bilden nur dann einen Verfolgungstatbestand, wenn sie nach
Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was
die Bewohner des Heimatstaates auf Grund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben, die sie also nach ihrer Intensität von der übergreifenden
Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.
35
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80, 315.
36
In Anlehnung an das durch den Zufluchtgedanken geprägte normative Leitbild des
Asylgrundrechts gelten auch für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch
Verfolgter im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG ist, unterschiedliche Maßstäbe, je nachdem,
ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender
politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik
Deutschland gekommen ist. Im erstgenannten Fall ist Abschiebungsschutz zu
gewähren, wenn der Ausländer vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sein
kann (sog. herabgestufter Prognosemaßstab). Hat der Ausländer sein Heimatland
jedoch - wie hier aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts
Düsseldorf vom 10. August 2000 feststeht - unverfolgt verlassen, so kann sein
Feststellungsbegehren nach § 51 Abs. 1 AuslG nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund
von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (sog.
gewöhnlicher Prognosemaßstab).
37
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. - BVerfGE 54, 341, 361.
38
Nach ständiger Rechtsprechung des OVG NRW,
39
vgl. Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - S. 62, m.w.N.,
40
begründen exilpolitische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland ein beachtlich
wahrscheinliches Verfolgungsrisiko für türkische Staatsangehörige im Allgemeinen nur,
41
wenn sich der Betreffende politisch exponiert hat, wenn sich also seine Betätigung
deutlich von derjenigen der breiten Masse abhebt.
Nur wer politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten
oder Taten von Deutschland aus maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik
und insbesondere auf seine in Deutschland lebenden Landsleute zu nehmen versucht,
ist aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates ein ernst zu nehmender
politischer Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Das ist zum Beispiel anzunehmen bei
Leitern von größeren und öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen und
Protestaktionen sowie Rednern auf solchen Veranstaltungen, ferner bei Mitgliedern und
Delegierten des kurdischen Exilparlaments, unter Umständen auch bei
Vorstandsmitgliedern bestimmter oppositioneller Exilvereine,
42
vgl. dazu ausführlich: OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000, Rdnr. 262 ff, Beschluss
vom 5. September 2000 - 8 A 927/00.A - Beschluss vom 8. September 2000 - 8 A
4351/00.A - und vom 16. Februar 2001 - 8 A 628/01.A.
43
Nicht beachtlich wahrscheinlich zu politischer Verfolgung führen demgegenüber
exilpolitische Aktivitäten niedrigen Profils. Dazu gehören alle Tätigkeiten von
untergeordneter Bedeutung. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der Beitrag des
Einzelnen entweder - wie bei Großveranstaltungen - kaum sichtbar oder zwar noch
individualisierbar ist, aber hinter den zahllosen deckungsgleichen Beiträgen anderer
Personen zurücktritt. Derartige Aktivitäten sind ein Massenphänomen, bei denen die
Beteiligten ganz überwiegend nur die Kulisse abgeben für die eigentlich agierenden
Wortführer. Das ist zum Beispiel anzunehmen bei schlichter Vereinsmitgliedschaft, der
damit verbundenen regelmäßigen Zahlung von Mitgliedsbeiträgen sowie von Spenden,
schlichter Teilnahme an Demonstrationen, Hungerstreiks, Autobahnblockaden,
Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminaren, Verteilung von Flugblättern und
Verkauf von Zeitschriften, Platzierung von namentlich gezeichneten Artikeln und
Leserbriefen in türkischsprachigen Zeitschriften,
44
OVG NRW, Urteil vom 28. Oktober 1998 - 25 A 1284/96.A - S. 84.
45
Auch die Gesamtzahl der für sich genommen niedrig profilierten exilpolitischen
Aktivitäten kann diese nicht asyl- oder abschiebungsschutzrechtserheblich machen,
weil kein Anlass für die Annahme besteht, dass insoweit quantitative in qualitative
Gesichtspunkte umschlagen können,
46
OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A - S. 90.
47
Die Betätigung in einer der PKK bzw. KADEK/Kongra-Gel nahe stehenden,
linksextremistischen oder aus anderen Gründen als militant staatsfeindlich eingestuften
Exilorganisation ist hingegen im Regelfall als exponierte exilpolitische Tätigkeit
einzustufen, wenn der Betreffende zu dem aus dem Vereinsregister ersichtlichen
Vorstand der Organisation zählt, weil dies auf eine lenkende oder jedenfalls
maßgebliche Funktion im Rahmen von Bestrebungen hinweist, die von den türkischen
Sicherheitskräften und dem Geheimdienst als in hohem Maße staatsgefährdend
betrachtet werden.
48
Sind hingegen konkrete Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass ein Asylbewerber aus der
Sicht des türkischen Staates gleichwohl nicht als exilpolitisch exponiert zu betrachten
49
sein könnte, ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Anhaltspunkte dieser Art können
sich etwa daraus ergeben, dass ein Asylbewerber zwar Vorstandsmitglied eines PKK-
Vereins ist, aber nicht erkennbar ist, dass er dort mehr als nur untergeordnete Aufgaben
zu erfüllen hat, also nur eine passiv-untergeordnete Stellung einnimmt. Entsprechende
Anhaltspunkte bestehen auch bei unverhältnismäßig großen Vereinsvorständen oder
bei Vorständen, deren Mitglieder auffällig häufig wechseln,
vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 20. Mai 2003 - 8 A 2109/03.A - , vom 12. Mai 2003 - 8
A 1946/03.A - und vom 27. Juni 2002 - 15 A 2891/01.A -.
50
In Fällen dieser Art muss im Rahmen einer Gesamtwürdigung ermittelt werden, ob die
Vorstandsmitgliedschaft im Zusammenhang mit den übrigen Aktivitäten des Betroffenen
diesen in so hinreichendem Maße als Ideenträger oder Initiator in Erscheinung treten
lassen, dass von einem Verfolgungsinteresse des türkischen Staates auszugehen ist.
Allerdings ist ein solcher Fall nicht schon dann gegeben, wenn der Betroffene „nur" für
kulturelle Aktivitäten (Folklore, Bildung und Ausbildung von Jugendlichen) oder dafür
zuständig ist, die Vereinsmitglieder zum Erscheinen bei Mitgliedervollversammlungen
zu bewegen. Die hier angesprochene Fallgruppe einer passiv-untergeordneten Stellung
dient lediglich zur Abgrenzung exponierter exilpolitischer Tätigkeit gegenüber
Personen, die für den türkischen Staat trotz ihrer Mitgliedschaft in einem als
staatsgefährdend angesehenen Verein ohne Interesse sind, etwa weil ihre
Mitgliedschaft erkennbar nur für Zwecke des Asylverfahrens begründet worden ist. Wer
in einem PKK-Verein oder einer vergleichbaren Exilorganisation als Mitglied des
Vorstands die von ihm zu erfüllenden Aufgaben aktiv wahrnimmt, zählt zu dieser
Fallgruppe auch dann nicht, wenn seine Tätigkeiten lediglich mittelbar als „politisch"
einzustufen sind,
51
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Mai 2003 - 8 A 2109/03.A -.
52
Ausgehend von diesen Grundsätzen droht der Klägerin aufgrund ihrer exilpolitischen
Aktivitäten im Bundesgebiet bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Die exilpolitische Tätigkeit der Klägerin kann
nach den oben dargestellten Maßstäben nicht als lediglich niedrigprofiliert eingestuft
werden.
53
Zwar ist die Antragstellerin gegenwärtig nicht mehr als Vorstandsmitglied eines
exilpolitischen Vereins im Vereinsregister eingetragen. Indessen lässt sich hieraus nicht
ohne weiteres schlussfolgern, ein eventuelles Verfolgungsinteresse der türkischen
Behörden sei mit Löschung der Eintragung ebenfalls erloschen, zumal der Zeitraum, in
dem die Antragstellerin als stellvertretende Vorsitzende des AKM und als Beisitzerin im
Kurdistan Solidaritätszentrum fungierte, nicht als bedeutungslos kurz bezeichnet werden
kann und die Klägerin ihre Betätigung innerhalb der Vereine - wenngleich als einfaches
Mitglied - fortgesetzt hat.
54
Die (frühere) Mitgliedschaft in den Vorständen der genannten Vereine ist aber geeignet,
die Klägerin in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden geraten zu lassen.
Entsprechend der im Verfahren 20 K 5557/03.A eingeholten Auskunft des
Polizeipräsidiums E vom 26. Mai 2004 an das VG Düsseldorf ist nämlich davon
auszugehen, dass das am 23. Dezember 1993 gegründete Kurdistan-
Solidaritätszentrum E e.V. die PKK bzw. KADEK/Kongra-Gel in personeller, finanzieller,
propagandistischer und organisatorischer Hinsicht fördert und unterstützt und dieser
55
Verein der in Deutschland verbotenen PKK bzw. KADEK/Kongra-Gel im Gegenzug als
Plattform für Propagandazwecke und Massenmobilisierung dient,
vgl. hierzu auch schon die frühere Auskunft des Polizeipräsidiums E an das VG
Düsseldorf vom 22. Januar 1999.
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Gestützt wird diese Annahme nach Auskunft des Polizeipräsidiums E durch die
Aufmachung und Einrichtung der Vereinsräume und durch die Teilnahme der
Vereinsmitglieder an Aktivitäten mit eindeutigen Kongra-Gel-Bezügen. An und in den
Vereinsräumen seien immer wieder Aufrufe zur Teilnahme an örtlichen und
überörtlichen Versammlungen vorgefunden worden. In den vergangenen Jahren seien
wiederholt Ermittlungsverfahren hauptsächlich wegen Verstößen gegen das
Vereinsgesetz wegen sog. Propagandadelikte geführt worden und eine Vielzahl von
Aktivitäten, wie Demonstrationen, Infostände, Mahnwachen und ähnliche Aktionen zur
Kurdistanproblematik aktenkundig erfasst. Nach Überzeugung des Polizeipräsidiums
wurden alle Aktivitäten von dem Kurdistan-Solidaritätszentrum geplant und
durchgeführt. Deutlich sei dies geworden, wenn es aus Anlass von Versammlungen
unter freiem Himmel zu sog. Kooperationsgesprächen gekommen sei, an denen
regelmäßig vertretungsberechtigte Vereinsvorstandsmitglieder teilgenommen hätten.
Häufig seien die Aktivitäten im Rahmen von landesweiten Kampagnen durchgeführt
worden und hätten sich auf symbolträchtige Daten bezogen. Die Einbindung der
Vereinsaktivitäten in solche Kampagnen lasse deutlich die zentrale und hierarchische
Steuerung und deren auftragsgemäße Durchführung auf örtlicher Ebene erkennen.
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Ferner ist davon auszugehen, dass der Verein AKM und das Kurdistan-
Solidaritätszentrum personell und inhaltlich eng zusammenarbeiten. So löste am 10.
März 2002 Frau L ihre Vorgängerin, Frau H, als 1. Vorsitzende des AKM ab, welche
bereits früher (von Juli 2000 bis August 2001) im Kurdistan- Solidaritätszentrum das Amt
der Kassiererin inne hatte und nach ihrem Ausscheiden aus dem Vorstand des AKM
zunächst wieder zur Kassiererin, später dann zur stellvertretenden Vorsitzenden des
Kurdistan-Solidaritätszentrums gewählt und (am 17. Oktober 2002 bzw. 2. Januar 2004)
in diesen Funktionen in das Vereinsregister eingetragen wurde. Von einer derartigen
Verflechtung der beiden Vereine ist auch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen nach
Beweisaufnahme in seinem Urteil vom 7. Januar 2003 - 14a K 2367/02.A -
ausgegangen. Den dortigen Ausführungen schließt sich der Einzelrichter an.
58
Ist folglich davon auszugehen, dass der „Kurdistan-Solidaritätszentrum e.V. E" durch
den türkischen Sicherheitsdienst als staatsgefährdend eingeschätzt und observiert wird,
ist auch der Verein AKM verfolgungsinteressant profiliert.
59
Dass der Vorstand des Kurdistan-Solidaritätszentrums häufig wechselt, führt angesichts
der vorliegenden staatsschutzrechtlichen Erkenntnisse nicht zu der Annahme, es
handele sich um einen Verein, der seinen Zweck vorwiegend in der „Beschaffung" von
Nachfluchtgründen („Asylbeschaffung") finde und dessen Vorstandsmitglieder generell
und von vornherein für die türkischen Sicherheitsbehörden uninteressant seien.
60
So aber offenbar VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Januar 2004 - 4 K 2636/03.A -.
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Der Einzelrichter setzt sich mit seiner Entscheidung nicht in Widerspruch zu der eigenen
Entscheidung vom 28. Mai 2004 - 20 K 5557/03.A -. In dem genannten Urteil hat das
erkennende Gericht die Mitgliedschaft im Vorstand des Kurdistan- Solidaritätszentrums
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in E nicht für eine positive Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG ausreichen lassen. Maßgebend für diese Entscheidung war jedoch, dass
bei dem dortigen Kläger nicht erkennbar war, dass er als Vorstandsmitglied des
Kurdistan-Solidaritätszentrums mehr als nur untergeordnete Aufgaben zu erfüllen hatte,
also nur eine passiv-untergeordnete Stellung einnahm. Insbesondere konnte der dortige
Kläger Aktivitäten als Vorstandsmitglied nicht nachweisen. Ausweislich der Auskunft
des Polizeipräsidiums E wurden seinerzeit alle verfügbaren Unterlagen, die sich auf die
Vereinsaktivitäten bezogen, ausgewertet. Der Name des dortigen Klägers war jedoch in
keinem der Dokumente verzeichnet. Anders hingegen im vorliegenden Fall: die Klägerin
hat nachweislich Veranstaltungsräume und Reisebusse im Namen des Kurdistan-
Solidaritätszentrums angemietet. Sie gehört zudem nachweislich zu den
Gründungsmitgliedern des mit dem Solidaritätszentrum verflochtenen AKM und ist mit
Gründung dieses Vereins in den Vorstand gewählt worden. Als Mitglied „erster Stunde"
entzieht sie sich dem Verdacht, als „Strohfrau" und allein aus Gründen der
Verbesserung ihrer Chancen für ein Aufenthaltsrecht in den Vorstand des AKM gewählt
worden zu sein. Hierdurch erscheint auch ihre Mitgliedschaft im Vorstand des Kurdistan-
Solidaritätszentrums in einem anderen Licht.
Hiernach ist im vorliegenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei befürchten muss, im
Rahmen der Einreisekontrollen wegen des Verdachts staatsfeindlicher Aktivitäten und
zum Zweck der Überprüfung ihrer Verbindungen zur KADEK/Kongra-Gel festgehalten
und von der Polizei oder den Sicherheitsbehörden verhört und in asylrechtsrelevanter
Weise misshandelt zu werden. Folter wird insbesondere im Kampf gegen linksgerichtete
und des Separatismus verdächtige Personen als unverzichtbares Mittel eingesetzt. Ein
hohes Risiko, zum Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden, besteht für jede
Person, die ins Blickfeld der Sicherheitskräfte gerät, im türkischen Polizeigewahrsam;
die weitaus meisten der dokumentierten Fälle von Folter betreffen den
Polizeigewahrsam vor Einleitung eines Strafverfahrens. Dies gilt sowohl für die
ländlichen Gebiete Ostanatoliens als auch für die Städte im Osten und Weste der
Türkei, und zwar unabhängig davon, aus welchem Anlass die Festnahme erfolgt
(Razzia, Verteilung kurdischer Publikationen, Unterstützung verdächtiger Parteien und
Organisationen). Vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams ist die Gefahr
für den Inhaftierten, Opfer körperlicher Misshandlungen bis hin zur Folter zu werden,
sehr hoch. Denn zum einen sind die Sicherheitskräfte bestrebt, mit allen Mitteln
Informationen über dritte Personen zu beschaffen und ein Geständnis über die eigenen
Aktivitäten des Festgenommenen herbeizuführen, weil die Beweisführung türkischer
Sicherheitskräfte und Gerichte in hohem Maß auf Geständnissen beruht. Zum anderen
ist die besondere Gefährdung der in Gewahrsam genommenen Personen darauf
zurückzuführen, dass es ihnen in den ersten Tagen verwehrt ist, mit
Familienangehörigen, Rechtsanwälten oder Vertretern von
Menschenrechtsorganisationen Kontakt aufzunehmen.
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Die verbreiteten Foltermethoden - Falaka, Misshandlung durch Schläge,
Elektroschocks, Druckwasser, „palästinensisches Hängen" - führen nicht selten zu
schweren körperlichen und seelischen Schäden; auch folterbedingte Todesfälle und
Fälle des „Verschwindenlassens" kommen vor. Gefährdet sind auch Mädchen und
Frauen, weil sie einem hohen Risiko sexueller Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung
ausgesetzt sind und die Täter in vielen Fällen davon ausgehen können, dass die Opfer
aus Angst und Scham über die Folter nicht sprechen werden. Hinzu kommen
Bemühungen, Foltermethoden zu entwickeln, die bei medizinischen Untersuchungen
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weniger leicht festgestellt werden können. Auch dies zeigt, dass Folter nach wie vor in
erheblichem Umfang praktiziert wird und als unverzichtbares Mittel im Kampf gegen den
Terrorismus eingesetzt werden soll. Die Gefahr asylerheblicher Misshandlung im
Polizeigewahrsam besteht trotz einiger Verbesserungen der Rechtslage und
Menschenrechtspraxis fort.
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A - S. 38 ff m.w.N., vom 17.
April 2003 - 8 A 1274/00.A - und vom 13. August 2003 - 8 A 5583/99.A -.
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Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin im Rahmen ihrer
Zusammenarbeit mit den verschiedenen Organisationen zu Gewalt aufgerufen oder an
gewalttätigen Aktionen teilgenommen hat. Vielmehr beschränken sich ihre Aktivitäten
auf die geistige Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat. In diesem Sinne hat sie
Flugblätter verteilt, Zeitungsartikel verfasst, an friedlichen Demonstrationen
teilgenommen und friedliche Veranstaltungen organisiert bzw. an der Organisation
mitgewirkt. Da mithin kein Ausschlussgrund nach § 51 Abs. 3 AuslG vorliegt, ist der
Klägerin hinsichtlich der Türkei Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zu
gewähren.
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Ist dem Hauptantrag stattzugeben, so bedarf es einer Entscheidung über den Hilfsantrag
nicht mehr.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 VwGO, 83b Abs. 1 AsylVfG.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 11, 711 ZPO.
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