Urteil des VG Düsseldorf vom 23.01.2007

VG Düsseldorf: aufschiebende wirkung, grundstück, gebäude, grenzabstand, form, bebauungsplan, öffentlich, neubau, einheit, vollziehung

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 9 L 2380/06
Datum:
23.01.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
9 L 2380/06
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die
Baugenehmigung vom 7. September 2006 in der Fassung des
Änderungsbescheides vom 28. November 2006 zum Neubau eines
Einfamilienhauses mit Doppelgarage auf dem Grundstück Istraße 6 in L
wird angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe:
1
Der aus dem Tenor ersichtliche, sinngemäß gestellte Antrag, ist begründet.
2
Das Gericht macht von der ihm durch §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO eingeräumten
Befugnis, einem Widerspruch bzw. einer Klage aufschiebende Wirkung zu geben,
Gebrauch, wenn das Interesse des Nachbarn an der Suspendierung der angefochtenen
Baugenehmigung das öffentliche Interesse sowie das des Bauherrn an deren
Vollziehung überwiegt. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Baugenehmigung
gegen Rechtsvorschriften verstößt, die zumindest auch dem Schutz des Nachbarn zu
dienen bestimmt sind, sein Rechtsbehelf in der Hauptsache also voraussichtlich Erfolg
haben wird. Die hierzu erforderliche Prognose kann nur mit Mitteln des Eilverfahrens
getroffen werden. Hingegen können im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
weder schwierige Rechtsfragen ausdiskutiert noch komplizierte
Tatsachenfeststellungen getroffen werden.
3
Ausgehend von diesen Grundsätzen überwiegt das Interesse der Antragsteller an der
Aussetzung der Vollziehung der angegriffenen Baugenehmigung. Es sprechen bei der
hier allein möglichen summarischen Prüfung greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die
genannte Baugenehmigung zum Neubau eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück
Istraße 6 in L baurechtliche Nachbarrechte der Antragsteller jedenfalls unter
4
bauordnungsrechtlichen Aspekten verletzt. Die angegriffene Baugenehmigung ist
nämlich voraussichtlich mit den Abstandflächenvorschriften nicht vereinbar ist.
Dies gilt zunächst, wenn man § 6 BauO NRW in der zum Zeitpunkt der
Genehmigungserteilung (7. September 2006 bzw. 28. November 2006) geltenden
Fassung - BauO 2000 - zugrundelegt.
5
Die Einhaltung der Abstandflächen ist vorliegend erforderlich. Insbesondere ist sie nicht
nach der Bestimmung des § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2000 entbehrlich. Gemäß § 6
Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2000 ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine
Abstandfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an der Nachbargrenze gebaut
werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften das Gebäude ohne Grenzabstand
gebaut werden muss [lit a)] oder wenn das Gebäude ohne Grenzabstand gebaut werden
darf und öffentlich-rechtlich gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ebenfalls
ohne Grenzabstand gebaut wird [lit. b)]. Als bauplanungsrechtliche Vorschrift kommt hier
allein der Bebauungsplan Nr. 20/24 der Stadt L vom 6. Juli 1995 in Betracht, von dessen
Wirksamkeit im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auszugehen ist. Dieser
Bebauungsplan enthält für das Teilgebiet 3, in dem die Grundstücke der Antragsteller
und der Beigeladenen gelegen sind, - anders als für andere Teilgebiete - keine
Festsetzungen zur (geschlossenen oder abweichenden) Bauweise. Die Festsetzung
einer geschlossenen Bauweise ist der Sache nach auch nicht durch die Festsetzung
„nur Einzel- und Doppelhäuser" erfolgt. Bei dieser Hausform handelt es sich zwar um
eine Bauform der offenen Bauweise, innerhalb der Gesamtbaukörper müssen aber die
selbständigen Gebäudeeinheiten an eine seitliche Grundstücksgrenze gebaut werden.
Daher muss ein Gebäude dann, wenn Doppelhäuser zwingend vorgeschrieben sind
(vgl. § 22 Abs. 3 BauNVO), bezüglich der „inneren Ordnung" bei Errichtung auf
verschiedenen benachbarten Grundstücken an der Grenze errichtet werden.
6
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. August 2005 - 10 A 3611/03 -, BauR 2006, 342 (345
ff.) m.w..N.
7
Nach diesen Grundsätzen ist auf Grund der Vorgaben des Bebauungsplans Nr. 20/24
zu den Hausformen nicht davon auszugehen, dass an die Nachbargrenze gebaut
werden muss. Zum einen ist auf Grund der Vorgabe des Bebauungsplans „nur Einzel-
und Doppelhäuser zulässig" eine Doppelhausbebauung nicht zwingend. Auch die
Baugenehmigungen zur Errichtung der Häuser auf den Grundstücken der Antragsteller
und der Beigeladenen sind nicht in einer Weise aufeinander bezogen, dass man von
einem „Doppelhaus" sprechen könnte: Hinsichtlich der Antragsteller ist mit Bauschein
vom 22. April 1966 die Genehmigung „zur Errichtung eines [Einfamilien-]Wohnhauses"
erteilt worden; dass in der Nebenbestimmung Nr. 12 zu dieser Baugenehmigung davon
die Rede ist, die Trauf- und Firsthöhe des Nachbarhauses sei zu übernehmen, dürfte als
solches für die Annahme eines Doppelhauses wohl nicht ausreichen. Auch die
vorliegend angegriffene Baugenehmigung vom 7. September 2006 in der Fassung vom
28. November 2006 ist nicht auf das Grundstück der Antragsteller bezogen, sondern
damit ist der „Neubau eines Einfamilienwohnhauses mit Doppelgarage" genehmigt
worden. Unabhängig von diesen Erwägungen würde mit der angegriffenen
Baugenehmigung der - unterstellte - Charakter eines Doppelhauses gesprengt. Ein
Doppelhaus setzt nämlich voraus, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken
durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit
zusammengefügt werden. Dabei ist zwar nicht erforderlich, dass die Doppelhaushälften
gleichzeitig oder deckungsgleich (spiegelbildlich) errichtet werden. Das Erfordernis
8
einer baulichen Einheit im Sinne eines Gesamtbaukörpers schließt auch nicht aus, dass
die ein Doppelhaus bildenden Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze
zueinander versetzt oder gestaffelt aneinandergebaut werden. Es kommt vielmehr
darauf an, dass die beiden Gebäude in wechselseitig verträglicher und abgestimmter
Weise aneinandergebaut werden.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Februar 2000 - 4 C 12.98 -, BRS 63 Nr. 185 und König in
König/Roeser/Stock, Baunutzungsverordnung, 2. Auflage 2003, § 22 Rz. 16 f. m.w.N.
9
Nach diesen Grundsätzen würde die genehmigte (zweigeschossige) Bebauung
jedenfalls deshalb den (unterstellten) Charakter einer Doppelhausbebauung zerstören,
weil sie in einer Tiefe von (jedenfalls) 2,5 m und mit einer Höhe von ca. 7,30 m im
rückwärtigen Bereich des Baugrundstücks verspringt; infolge der Lage des
Baugrundstücks südlich zum Grundstück der Antragsteller wird damit eine mehr als nur
unerhebliche Verschattungswirkung eintreten. Deswegen sowie wegen der Errichtung
der Balkone im Obergeschoss kann von einer wechselseitig verträglichen oder gar
abgestimmten Bebauung im o.g. Sinne keine Rede sein.
10
Auch ein Fall des § 6 Abs. 1 Satz 2 lit. b) BauO NRW 2000 ist nicht gegeben. Zwar darf
nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Nachbargrenze gebaut werden; der
Bebauungsplan Nr. 20/24 steht einer Bebauung an der Nachbargrenze nämlich nicht
von vornherein entgegen. Es fehlt aber - jedenfalls wegen des dargelegten
rückwärtigen, in Länge und Höhe nicht nur unerheblichen Versprungs - an der
erforderlichen öffentlich-rechtlichen Sicherung (z.B. in Form einer Baulast) bzw. an
einem Bauwerk von vergleichbaren Gewicht.
11
Vgl. in diesem Zusammenhang OVG NRW, Urteile vom 20. März 2006 - 7 A 1358/04 -
und vom 4. Juni 1998 - 10 A 1318/97 -, BRS 60 Nr. 72 sowie Beschluss vom 17. August
2005 - 7 B 1288/05 -, NWVBl 2006, S. 29 f..
12
Dass das genehmigte Vorhaben gegen die Abstandflächen (auf der Grundlage des § 6
BauO NRW 2000) verstößt, weil die rückwärtige Abstandfläche (T3) z.T. auf dem
Grundstück der Antragsteller und damit nicht auf dem Baugrundstück (vgl. § 6 Abs. 2
Satz 1 BauO NRW 2000) gelegen ist, ist zwischen den Antragstellern und dem
Antragsgegner nicht umstritten; die Beigeladenen sind den diesbezüglichen
Ausführungen jedenfalls nicht entgegen getreten. Im Übrigen hält der genannte
rückwärtige Versprung gar keine Abstandfläche ein.
13
Die Erteilung einer Abweichung auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW
2000 kommt nicht in Betracht. Liegt - wie hier - keiner der in § 6 BauO NRW 2000
geregelten „Abweichungsfällle" vor, kommt die Erteilung einer Abweichung nur dann in
Betracht, wenn eine atypische Grundstückssituation vorliegt, die von dem Normalfall,
der den gesetzlichen Regelungen zugrundeliegt, so deutlich abweicht, dass die strikte
Anwendung des Gesetzes zu Ergebnissen führt, die der Zielrichtung der Norm nicht
entsprechen. Die Abweichung gemäß § 73 BauO NRW ist nämlich kein Instrument zur
Legalisierung „ganz gewöhnlicher" Verletzungen der Abstandflächen.
14
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - 7 B 1351/05 -m.w.N..
15
Ein solcher atypischer Fall liegt nicht vor. Die vom Antragsgegner in diesem
Zusammenhang zitierte Entscheidung
16
OVG NRW, Beschluss vom 12. Februar 1997 - 7 B 2608/96 -, BRS 59 Nr. 162
17
ist mit der hier in Rede stehenden Fallgestaltung nicht vergleichbar. Dort ging es darum,
dass das zu bebauende Grundstück sich im rückwärtigen Bereich erheblich verjüngte,
was zusammen mit der festgesetzten geschlossenen Bauweise - ohne Zulassung der
Abweichung - zur Konsequenz gehabt hätte, dass die Gebäudeabschlusswand einer
Bebauung auf dem Grundstück, um den Anforderungen der Abstandflächenvorschriften
zu genügen, immer einen „Knick" aufgewiesen hätten. Um einen solchen Fall geht es
hier aber nicht: Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Beigeladenen
ihr Grundstück nur bei dem völligen Verzicht auf die Einhaltung von Abstandflächen im
straßenseitigen Bereich wirtschaftlich sinnvoll nutzen können. Sie müssten vielmehr die
Bebauungstiefe nur um ca. 2 m verringern bzw. zum straßennahen Bereich hin
verschieben, um - in dem Bereich, der auf dem Grundstück der Antragsteller bereits
bebaut ist - eine den Anforderungen des § 6 Abs. 1 Satz 2 lit b) BauO NRW 2000
entsprechende Anbausicherung vorzufinden. Im Übrigen wären die Voraussetzungen
des § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2000 auch deshalb nicht erfüllt, weil die Abweichung
mit den nachbarlichen Interessen der Antragsteller nicht vereinbar wäre. Durch die
Bebauung in der genehmigten Form tritt - wie dargelegt - eine nicht nur unerhebliche
Verschattungswirkung ein.
18
Es lässt sich auch nicht feststellen, dass den Antragstellern die Berufung auf den
Abstandflächenverstoß verwehrt ist. Die Antragsteller können sich auf den gegebenen
Abstandflächenverstoß wohl berufen, ohne mit Blick auf das nachbarschaftliche
wechselseitige Austauschverhältnis treuwidrig zu handeln.
19
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. Dezember 2005 - 7 B 1411/05 - m.w.N..
20
Der dargelegte abstandflächenrechtliche Verstoß im rückwärtigen Bereich des
Baugrundstücks führt zu Bedenken an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen
Baugenehmigung insgesamt, da es sich nicht um ein teilbares Vorhaben, sondern um
die Umsetzung eines Gesamtkonzeptes handelt.
21
Bei der vorliegend allein möglichen summarischen Prüfung ist ferner davon
auszugehen, dass auch unter Berücksichtigung der §§ 6 und 73 BauO NRW in der
Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Landesbauordnung für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 2006 - BauO NRW 2006 -, die am 28.
Dezember 2006 in Kraft getreten ist, ein Abstandflächenverstoß vorliegt, der auch nicht
durch eine Abweichung ausgeräumt werden kann.
22
Die Einhaltung der Abstandflächen ist nach § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006 nicht
entbehrlich. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 2 lit a) BauO NRW 2006 liegen
nicht vor: Aus den o.g. Gründen ist weder zwingende weder eine geschlossene (oder
vergleichbare) Bauweise vorgegeben, und auf Grund des Bebauungsplans Nr. 20/24 ist
auch nicht die Bebauung mit einem geringeren [als dem „normalen"] Grenzabstand
vorgeschrieben. Ein Fall des § 6 Abs. 1 Satz 2 lit b) BauO NRW 2006 ist ebenfalls nicht
gegeben. Nach der Neufassung dieser Vorschrift ist zwar nicht mehr erforderlich, dass
die Anbausicherung öffentlich-rechtlich gesichert ist; vorliegend ist aber überhaupt nicht
- auch nicht zivilrechtlich - gesichert, dass vom Grundstück der Antragsteller aus
angebaut wird.
23
Die Abweichung auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BauO NRW 2006
kommt voraussichtlich ebenfalls nicht in Betracht. Diesen Bestimmungen (bzw. der
entsprechenden Gesetzesbegründung) ist schon nicht (ausdrücklich) zu entnehmen,
dass der Gesetzgeber von der o.g. gefestigten Rechtsprechung abweichen wollte, die
die Abweichung bei einem Verstoß gegen Abstandflächen nur ausnahmsweise zulässt
und die hier zur Unzulässigkeit der Abweichung führt. Das Gericht legt die oben
dargestellten Grundsätze daher - bis auf weiteres - zugrunde. Selbst wenn man dies
wegen § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2006, der auch die Erteilung von Abweichungen
von § 6 ausdrücklich zulässt, anders sieht, kann eine Abweichung hier wohl rechtmäßig
nicht erteilt werden. Denn aufgrund der dargelegten Verschattungswirkung ist das
genehmigte Vorhaben unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen
Belangen nicht vereinbar (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW 2006) und beeinträchtigt
nachbarliche Interessen auch nicht nur unerheblich (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW
2006).
24
Ist sowohl nach § 6 BauO NRW 2000 als auch nach § 6 BauO NRW 2006 das
Vorhaben nicht zulässig und nach § 73 Abs. 1 BauO NRW 2000 bzw 2006 auch in der
vorliegenden Form nicht legalisierungsfähig, kann offenbleiben, ob für die Frage, ob
eine angefochtene Baugenehmigung den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, auf den
Zeitpunkt der Genehmigungserteilung abzustellen ist,
25
so wohl OVG NRW, Beschluss vom 11. Juli 2003 - 609/03,
26
oder ob nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn zu berücksichtigen sind,
27
vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 1998 - 4 C 40.98 -, BRS 60 Nr. 178.
28
Angesichts des oben dargelegten abstandflächenrechtlichen Verstoßes mag
offenbleiben, ob das Vorhaben auch in bauplanungsrechtlicher Hinsicht
nachbarrechtlichen Bedenken begegnet.
29
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht
nicht der Billigkeit, dem Antragsgegner auch die außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese keinen Antrag gestellt und sich damit auch
keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).
30
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 GKG.
31
32