Urteil des VG Düsseldorf vom 07.01.2011

VG Düsseldorf (bundesamt für migration, italien, bundesrepublik deutschland, amnesty international, verordnung, vorläufiger rechtsschutz, durchführung, antrag, unhcr, www)

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 21 L 2285/10.A
Datum:
07.01.2011
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
21 L 2285/10.A
Schlagworte:
Durchführung eines Asylverfahrens Abschiebungsanordnung Italien
vorläufiger Rechtsschutz Dublin Dublin II-Verordnung UNHCR
Normen:
AsylVfG § 34a AsylVfG § 27a VwGO § 123
Tenor:
Der Antragstellerin wird für das Verfahren des vorläufigen Rechts-
schutzes Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt N aus
Gütersloh beigeordnet.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abge-lehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichts-
kosten nicht erhoben werden.
Das Gericht entscheidet im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß §
76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG als Einzelrichter.
1
I.
2
Der Antragstellerin war für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe
zu bewilligen und Rechtsanwalt N aus H beizuordnen (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ff. ZPO).
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Vgl. zum Maßstab der Bewilligung etwa Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom
14. Juni 2006 – 2 BvR 626/06 u.a. –; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen, Beschluss vom 17. März 2010 – 5 E 1700/09 –, juris.
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II.
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Der am 22. Dezember 2010 bei Gericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
sinngemäß - gestellte und auf der Grundlage der §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO zu Gunsten der
Antragstellerin ausgelegte Antrag,
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der Antragsgegnerin zu 1. im Wege der einstweiligen Anordnung Maßnahmen zum
Vollzug der Verbringung der Antragstellerin nach Italien bis zu einer Entscheidung im
Klageverfahren 21 K 7052/10.A vorläufig zu untersagen,
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hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber nicht begründet.
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1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere fehlt der Antragstellerin nun nicht mehr das
Rechtsschutzbedürfnis, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch Bescheid vom
13. Dezember 2010 die Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik
Deutschland abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet hat.
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Anders noch im Verfahren VG Düsseldorf, Beschluss vom 28. Oktober 2010 – 21 L 1733/10.A
-.
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Der Zulässigkeit des Antrages steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf
die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie
hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt worden ist, nicht nach § 80 oder 123 VwGO
ausgesetzt werden. Die vorläufige Untersagung der Abschiebung kommt nach § 123 VwGO
jedoch in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60 AufenthG in Frage
stellende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben
ist.
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Die Vorschrift des § 34a AsylVfG ist auch im Hinblick auf die Fälle des § 27a AsylVfG
verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen in
den sicheren Drittstaat, namentlich auf der Grundlage der sog. Dublin II-Verordnung
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Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur
Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen
in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist, vom 18. Februar 2003 (ABl. EU L
50 vom 25. Februar 2003, S. 1), geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1103/2008 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14.
November 2008, S. 80)
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nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den
allgemeinen Regeln möglich bleibt. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung in den Drittstaat
oder in den nach europäischem Recht oder Völkerrecht für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann
der Ausländer danach dann erreichen, wenn es sich auf Grund bestimmter Tatsachen
aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2
GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An die
Darlegung eines solchen Sonderfalles sind allerdings strenge Anforderungen zu stellen, doch
ist ein Antrag nach § 123 VwGO in diesen Fällen auch in Ansehung von § 34a AsylVfG nicht
generell unzulässig.
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Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49, sowie
Beschlüsse vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, und vom 8. Dezember 2009 - 2 BvR
2780/09 -, juris.
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Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei
Überstellungen nach der sog. Dublin II-Verordnung besteht zudem nicht. Vielmehr sieht das
Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen
Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20
Abs. 1 Buchst. e Satz 4 Dublin II-Verordnung selbst vor.
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BVerfG, Beschlüsse vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, und vom 22. Dezember 2009 - 2
BvR 2879/09 -.
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2. Der Antrag ist aber nicht begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis nur zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden
Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder Gefahren zu vereiteln oder
aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus,
dass der zugrunde liegende materielle Anspruch (Anordnungsanspruch) und die
Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht sind (§ 123
Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
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Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.
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Zwar liegt ein Anordnungsgrund vor, da die zuständige Ausländerbehörde der
Antragsgegnerin zu 2. mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2010 unter Hinweis auf eine
Mitteilung der Zentralen Ausländerbehörde L mitgeteilt hat, dass eine Rückführung der
Antragstellerin nach Italien für den 13. Januar 2011 vorgesehen ist.
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Ein Anordnungsanspruch ist allerdings nicht glaubhaft gemacht. Eine verfassungskonforme
Reduktion des Anwendungsbereichs des § 34a Abs. 2 AsylVfG ist vorliegend nicht geboten.
Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin von einem der im normativen
Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht
aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. Es gibt keine überzeugenden Hinweise dafür, dass
das Asylsystem in Italien diesem Konzept nicht (mehr) entsprechen könnte. Dies ergibt sich
aus folgenden Überlegungen:
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Das UNHCR hat jüngst ausgeführt, dass es an seiner seit April 2008 geltenden Empfehlung
festhalte, Asylsuchende nicht mehr auf der Grundlage der Dublin-II-Verordnung nach
Griechenland zu überstellen. Vielmehr sollten die Mitgliedstaaten von ihrem
Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung Gebrauch machen.
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UNHCR, Stellungnahme an das Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsbeschwerde
2 BvR 2915/09 -, Februar 2010, S. 3 f.; abrufbar unter
http://www.unhcr.de/fileadmin/unhcr_data/pdfs/rechtsinformationen/2_EU/2_EU-
Asyl/B.01_Dubliner_Uebereinkommen/BVerfGStellungnFinal.pdf.
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Eine entsprechende Empfehlung hinsichtlich Italiens gibt es seitens des UNHCR hingegen
nicht.
24
Zur Stellung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen vgl. auch § 9
AsylVfG.
25
Dem Gericht sind auch keine entsprechenden Empfehlungen anderer
Menschenrechtsorganisationen – wie etwa Amnesty International oder Human Rights Watch
– bekannt.
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Zum Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht siehe die
Ausführungen unten.
27
Des weiteren ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der österreichische Asylgerichtshof
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- Spruch vom 3. Mai 2010 - S16 412.104-1/2010-4E -, veröffentlicht unter
http://www.ris.bka.gv.at, dort insbes. Ziffer 2.2.2.2.1. "Kritik am italienischen Asylwesen"
m.w.N. -
29
als auch das schweizerische Bundesverwaltungsgericht
30
- vgl. etwa Urteile vom 15. Juli 2010 – D-4987/2010 - und vom 18. März 2010 - D-1496/2010 -,
jeweils veröffentlicht unter
http://www.bundesverwaltungsgericht.ch/index/entscheide/jurisdiction-datenbank/jurisdiction-
recht-urteile-aza.htm -
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die Rückführung von Asylsuchenden nach Italien auch in Ansehung der dortigen
Asylverfahrenspraxis grundsätzlich als zulässig ansehen.
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Vgl. bereits VG Düsseldorf, Urteil vom 30. Juli 2010 – 13 K 3075/10.A -.
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Soweit Medien über Probleme von Asylsuchenden berichtet haben, wurde dort der Fokus auf
die Situation von Flüchtlingen gelegt, die in Booten über das Mittelmeer nach Italien zu
gelangen suchen. Diese Situation ist mit Asylsuchenden, die im Rahmen des Dublin II-
Verfahrens in ein anderes EU-Land überstellt werden nicht zu vergleichen. Diese werden
vielmehr am Flughafen von der Polizei im Empfang genommen und bevorzugt behandelt.
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Vgl. Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Stand:
November 2009; abrufbar unter
http://www.beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_divers/Berichte/Bericht_DublinII-
Italien.pdf.
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Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es nach dem genannten Bericht, der sich mit der
Situation in Rom und Turin befasst, örtliche Probleme mit den Aufnahmekapazitäten bei den
Unterkünften gibt, die allerdings nicht unmittelbar den Zugang zum italienischen Asylsystem
betreffen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Situation derart verschlechtert haben könnte,
dass die Antragstellerin, die nach Mailand verbracht werden soll, mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit diesen Problemen ausgesetzt sein wird. Sollte es im Falle der
Antragstellerin im Zusammenhang mit Unterbringung oder Lebensunterhalt Schwierigkeiten
geben, wäre das in Italien bestehende Rechtsschutzsystem, ggf. unter Anrufung der
zuständigen Gerichte, zu nutzen.
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Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte,
die Überstellungen von Asylsuchenden im Rahmen des Dublin II-Verfahren vorübergehend
ausgesetzt haben,
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VG Minden, Beschlüsse vom 7. Dezember 2010 – 3 L 625/10.A -; vom 28. September 2010 –
3 L 491/10.A – und vom 22. Juni 2010 – 12 L 284/10.A -; VG Darmstadt, Beschluss vom 9.
November 2010 – 4 L 1455/10.DA.A (1) –; VG Weimar, Beschluss vom 15. Dezember 2010 –
5 E 20190/10 We –; VG Frankfurt/Main, Beschluss vom 2. August 2010 – 8 L 1827/10.F.A –,
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sich zumeist nicht darauf stützen, dass in Italien die Durchführung eines den
Mindestanforderungen genügenden Asylverfahrens generell nicht gewährleistet sei, sondern
werfen verschiedene Fragen auf, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf der
Ebene der Interessenabwägung zu Gunsten der jeweiligen Antragsteller als offen angesehen
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wurden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b
AsylVfG nicht erhoben.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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