Urteil des VG Darmstadt vom 11.01.2011

VG Darmstadt: genfer flüchtlingskonvention, abschiebung, asyl, ausländer, menschenrechte, vollzug, rechtsschutz, aussetzung, stadt, verordnung

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Gericht:
VG Darmstadt
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 L 1889/10.DA.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 123 Abs 1 VwGO, § 34
AsylVfG, § 27a AsylVfG, § 34a
Abs 2 AsylVfG
Aussetzung des Vollzugs einer Abschiebung eines
Asylbewerbers nach Italien
Tenor
1. Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt
B., B-Stadt, Prozesskostenhilfe ohne Pflicht zur Ratenzahlung
bewilligt.
2. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des
Antragstellers nach Italien vorläufig auszusetzen.
3. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu
tragen.
Gründe
Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da er nach seinen
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung
nicht aufbringen kann. Wie sich den nachfolgenden Erwägungen entnehmen lässt,
bietet der Antrag hinreichende Aussicht auf Erfolg, er scheint insbesondere nicht
mutwillig im Sinn von § 114 ZPO i. V. m. § 166 VwGO. Die anwaltliche Vertretung
des Antragstellers erscheint erforderlich im Sinne des § 121 Abs. 2 ZPO i. V. m. §
166 VwGO.
Das mit seinem Antrag zu 1. verfolgte Eilbegehren des Antragstellers auf
vorläufigen Schutz vor Abschiebung nach Italien während des Laufs des
Hauptsacheverfahrens ist in der Sache erfolgreich.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, der hier in Betracht kommt, kann das Gericht auf
Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf
den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des
Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Die tatsächlichen
Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs und der Grund für eine
notwendige vorläufige Sicherung sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 ZPO i. V.
m. § 123 Abs. 3 VwGO).
Der Zulässigkeit des Eilbegehrens steht die Rechtsvorschrift des § 34a Abs. 2
AsylVfG nicht entgegen. Diese Vorschrift, die die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes nach § 80 oder § 123 VwGO für die Fälle ausschließt, in denen ein
Ausländer unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens
zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, ist im Lichte der
grundrechtlich geschützten Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs.4 GG)
jedenfalls dann verfassungskonform und in Übereinstimmung mit den
Bestimmungen zum vorläufigen Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 2 Satz 3 der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und
Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist,
(Dublin – II – VO) dahingehend auszulegen, dass die Überprüfung des
Abschiebungsvorhabens nach § 123 VwGO entgegen dem Wortlaut der Vorschrift
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Abschiebungsvorhabens nach § 123 VwGO entgegen dem Wortlaut der Vorschrift
des § 34a AsylVfG dann zulässig ist, wenn der Ausländer von einem der durch das
sogenannte normative Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle
betroffen ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil v. 14. Mai 1996, BVerfGE 94,
49).
Unter Berücksichtigung des durch eidesstaatliche Versicherung des Antragstellers,
die mit Antragsschriftsatz vom 23. Dezember 2010 dem Gericht vorgelegt wurde,
bekräftigten Vorbringens des Antragstellers einerseits und die damit
korrespondierenden allgemein bekannten Informationen zu der tatsächlichen
Ausgestaltung des Asyl- und Flüchtlingsschutzes in Italien andererseits,
insbesondere bezogen auf die humanitäre, vor allem wirtschaftliche,
gesundheitliche und Wohnungssituation der in Italien schutzsuchenden
Drittstaatsangehörigen bestehen bei dem Gericht berechtigte Zweifel daran, ob
die Republik Italien noch die hinreichende Gewähr dafür bietet, dass Ausländer wie
etwa der Antragsteller, die dort einen Asyl- oder Schutzantrag gestellt haben, nicht
von individueller Gefährdung bedroht sind. Hier ist nach allem in Betracht zu
ziehen, dass sich Italien seiner in völkerrechtlichen Verträgen wie der Konvention
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950
(BGBl. 1952 II S. 685) oder des Abkommens über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 559) eingegangenen und bisher
generell auch eingehaltenen Verpflichtungen gelöst hat und einem bestimmten
Ausländer den Schutz dadurch verweigert, dass sich Italien seiner ohne jede
Prüfung des Schutzgesuchs entledigen will oder nicht (mehr) willens oder in der
Lage ist, ihm gegenüber die vereinbarten europaweiten Mindeststandards zu
gewährleisten. Im Hinblick darauf kann dem Antragsteller deshalb der begehrte
vorläufige Rechtsschutz nicht vornherein unter Hinweis auf die Rechtsvorschrift des
§ 34a Abs. 2 AsylVfG verwehrt werden, ohne dadurch seine Grund- und
Menschenrechte zu verletzen.
Der zureichende Grund für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung
liegt darin, dass die Antragsgegnerin ihren Bescheid vom 25. November 2010,
544408-273, mit dem sie den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig
bewertet und seine Abschiebung nach Italien anordnet, bereits der für die
Durchführung der Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde des Landkreises
Bergstraße zur Zustellung an den Antragsteller nach § 31 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG –
"so weit möglich erst am Überstellungstag" – zugeleitet hat.
Der Antragsteller kann sich ferner auf den erforderlichen Anordnungsanspruch
stützen. Das substantiierte und glaubhaft gemachte Vorbringen des
Antragstellers, insbesondere seine Schilderungen über die von ihm erlebten
Zustände im italienischen Asyl/Schutzverfahren, die im allgemeinen von den in
das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln gestützt werden, lassen starke
Zweifel daran aufkommen, dass sein Asyl- oder Schutzbegehren in Italien nach
dem genannten (s. o. Seite 3) normativen Vergewisserungskonzept in
Übereinstimmung mit den einschlägigen europarechtlichen Konventionen
bearbeitet und entschieden wird. Die Antragsgegnerin hat den Vortrag des
Antragstellers auch nicht bestritten. Zwar mag es sein, dass Italien der Genfer
Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten beigetreten ist und im Übrigen auch alle EU
– Richtlinien zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen hat. Dennoch
sprechen gewichtige Aspekte und Gegebenheiten dafür, dass – jedenfalls der
Antragsteller – nicht mehr von dem normativen Vergewisserungskonzept erfasst
wird. Nicht nur das von ihm detailreich geschilderte und glaubhaft gemachte
eigene Schicksal als Flüchtling in Italien, sondern auch die zahlreichen
Beschreibungen der dortigen Zustände, wie sie den in der Antragsschrift
bezeichneten Publikationen und allgemein bekannten Mediendarstellungen, nicht
zuletzt aber dem von der Antragsgegnerin bislang nicht widersprochenen
Reisebericht des Rechtsanwaltes B., B-Stadt, vom 26. Oktober 2010 zu
entnehmen sind, belegen dies zu der für das Eilverfahren gebotenen Erkenntnis
des Gerichts ausreichend und deutlich.
Im Hinblick darauf, dass hier insgesamt tatsächlich und rechtlich schwierige Fragen
aufgeworfen sind, die in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht
hinreichend beantwortet werden können, muss die umfassende Prüfung, ob dem
Antragsteller letztlich Schutz vor der angeordneten Abschiebung nach Italien zu
gewähren ist, dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Nach allem war die beantragte einstweilige Anordnung entsprechend dem
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Nach allem war die beantragte einstweilige Anordnung entsprechend dem
Rechtsschutzziel des Antragstellers zu erlassen. Die Antragsgegnerin ist hiernach
rechtlich gehindert, vor rechtskräftiger Entscheidung des Hauptsacheverfahrens
Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Italien
vorzunehmen oder durch andere vornehmen zu lassen.
Einer Entscheidung über den unter ZIff. 2. gestellten Hilfsantrag des Antragstellers
bedurfte es daher nicht.
Da die Antragsgegnerin unterlegen ist, hat sie die Kosten des Verfahrens nach §
154 Abs. 1 VwGO zu tragen. Dabei werden Gerichtskosten nach § 83b AsylVfG
nicht erhoben.
Diese Entscheidung ist nach § 80 AsylVfG nicht anfechtbar.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.