Urteil des VG Darmstadt vom 12.11.2010

VG Darmstadt: aufschiebende wirkung, eugh, öffentliche ordnung, erworbene rechte, aufenthaltserlaubnis, serbien, botschaft, haftentlassung, erlöschen, haftstrafe

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Gericht:
VG Darmstadt 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 L 1411/10.DA
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 7 S 1 EWGAssRBes 1/80,
Art 14 EWGAssRBes 1/80, § 81
Abs 3 AufenthG 2004, § 81
Abs 4 AufenthG 2004, § 50
Abs 1 AufenthG 2004
Verlust erworbener Rechte nach Assoziierungsabkommen
EWG-Türkei wegen Dauer des Auslandsaufenthalts; hier:
Verbüßung einer Haftstrafe
Leitsatz
1. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass ein Recht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht
erlischt, wenn der Betroffene das Bundesgebiet verlassen hat, im Ausland wegen der
Beteiligung am illegalen Menschenschmuggel zu 14 Monaten Haft ver-urteilt worden ist,
die Haftstrafe dort vollständig verbüßt hat und sich nach der Haftentlassung sofort um
seine Rückkehr nach Deutschland bemüht hat. Die ab-schließende Klärung dieser Frage
bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
2. Nach wohl zutreffender Übersetzung der Entscheidungen des EuGH erlischt das
Recht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nur, wenn die Anwesenheit des türkischen Mig-ranten
im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens
eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ord-nung, Sicherheit
oder Gesundheit i. S. von Art. 14 ARB darstellt oder der Betroffe-ne das Hoheitsgebiet
dieses Staates für einen bedeutsamen Zeitraum ohne legiti-me Gründe verlassen hat.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Aktenzeichen: 5 K 1412/10.DA) gegen die
Abschiebungsandrohung des Bescheids des Landrats des Odenwaldkreises vom
23.09.2010 wird angeordnet.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Antragstellerin, Jahrgang 1989, ist türkische Staatsangehörige und lebt seit
ihrem siebenten Lebensjahr bei ihren im Bundesgebiet lebenden Eltern. Sie erwarb
im Jahr 2004 den Hauptschulabschluss und absolvierte sodann eine zweijährige
Ausbildung an einer Berufsfachschule. Sodann nahm sie an mehreren
Berufspraktika teil, ohne im Anschluss daran eine Ausbildung zu beginnen. Die
Antragstellerin erhielt am 10.05.2005 eine Niederlassungserlaubnis nach § 35
AufenthG.
Ausweislich der Feststellungen in der vorgelegten deutschen Übersetzung des
Urteils des Gerichts in Dimitrovgrad (Serbien) vom 26.09.2008 reiste die
Antragstellerin am 03.07.2008 zusammen mit zwei ihr bis dahin nicht bekannten
Männern und einer ihr bis dahin nicht bekannten Frau in einem gemieteten
Wohnmobil auf dem Landweg über Serbien und Bulgarien in die Türkei. Die Fahrt
sollte aus Sicht der Antragstellerin eine Urlaubsreise sein. Der Transit durch
Bulgarien auf der Hinfahrt erfolgte ausweislich der Stempel in ihrem Nationalpass
am 05.07.2008. Kurz nach der Ankunft in der Türkei trat sie jedoch die Rückreise
nach Deutschland an. Am 07.07.2008 reiste die Antragstellerin mit einem der
Männer und mit der Frau nach Bulgarien, das sie am gleichen Tag über einen
bulgarisch-serbischen Grenzübergang wieder verließen. Bei der Einreise nach
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bulgarisch-serbischen Grenzübergang wieder verließen. Bei der Einreise nach
Serbien bemerkte die serbische Grenzpolizei, dass im Wagen 12 türkische
Staatsangehörige versteckt waren. Die Antragstellerin, der Fahrer und die weitere
Begleiterin wurden daraufhin festgenommen. Alle drei wurden vom Gericht in
Dimitrovgrad mit Urteil vom 26.09.2008 zu Haftstrafen wegen
Menschenschmuggels verurteilt – die Antragstellerin zu 1 Jahr und 2 Monaten. Ein
Berufungsantrag, der auf ihr Vorbringen schon im erstinstanzlichen Strafverfahren
Bezug nahm, wonach sie – die Antragstellerin – von der Schleusungsaktion nichts
gewusst habe und erst auf bulgarischem Gebiet von den im Fahrzeug anwesenden
Personen etwas bemerkt habe, woraufhin sich ein Disput mit dem Fahrer
entwickelt habe, in dessen Verlauf sie von dem Fahrer mit einem Messer bedroht
worden sei, wurde vom Bezirksgericht Pirot am 12.01.2009 abgelehnt. Die
Antragstellerin verbüßte die Haftstrafe vollständig und wurde am 07.09.2009
entlassen.
Wenige Tage nach ihrer Haftentlassung wandte sie sich an die Deutsche Botschaft
in Belgrad und begehrte ein Visum zur Wiedereinreise nach Deutschland.
Nachdem ihre Bemühungen keinen Erfolg hatten, kehrte sie – das serbische
Strafgericht hatte sie im Urteilsnebenausspruch für die Dauer von zwei Jahren
nach der Haftentlassung aus Serbien ausgewiesen – am 17.09.2009 in die Türkei
zurück. Dort wiederholte sie ihren Visumsantrag vor der Deutschen Botschaft
Ankara am 01.10.2009. Die hierfür erforderliche Zustimmung verweigerte der
Antragsgegner am 12.01.2010. Die Botschaft lehnte den Antrag am 19.01.2010
ab und wies die Antragstellerin auf das Erlöschen ihrer Niederlassungserlaubnis
hin. Die hierauf erhobene Remonstration wurde mit Bescheid der Botschaft Ankara
vom 13.04.2010 in der Sache zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin
Klage vor dem VG Berlin – Aktenzeichen: VG 29 K 316.10 V – erhoben, über die
noch nicht entschieden ist.
Am 15.02.2010 beantragten andere Bevollmächtige der Antragstellerin beim
Antragsgegner die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 Abs. 1 AufenthG.
Dieser Antrag wurde mit Schriftsatz vom 19.08.2010 von den jetzigen
Bevollmächtigten dahin abgeändert, dass zunächst die behördliche Feststellung
begehrt wurde, die Niederlassungserlaubnis vom 10.05. 2005 sei nicht erloschen,
und hilfsweise beantragt wurde, der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis nach
§ 37 Abs. 1 AufenthG zu erteilen.
Im August 2010 reiste die Antragstellerin mit ihrem Nationalpass, in der sich die
noch nicht ungültig gestempelte Niederlassungserlaubnis befand, wieder ins
Bundesgebiet ein.
Mit Bescheid vom 23.09.2010 wurde der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach
§ 37 Abs. 1 AufenthG vom Antragsgegner abgelehnt. Die Antragstellerin wurde zur
Ausreise binnen einer Woche nach Zustellung aufgefordert, und es wurde ihr für
den Weigerungsfall die Abschiebung in ihr Heimatland angedroht. Im ablehnenden
Bescheid wurde das Erlöschen der Niederlassungserlaubnis festgestellt und weiter
ausgeführt, dass auch ein Recht nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des
Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ANBA 1981, 4)
– im Folgenden kurz: ARB – in der Auslegung, die der Beschluss durch die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) erfahren habe (vgl.
insbes. Urt. v. 16.12. 1992 – Rs. C-237/91 [Kus] –, NVwZ 1993, 258 ff.), erloschen
sei. Die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 37 Abs. 1 AufenthG
lägen zwar vor, eine Versagung sei jedoch möglich, wenn ein Ausweisungsgrund
vorliege (§ 37 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG). Mit Blick auf frühere strafrechtliche
Verfehlungen – gemeint war ein nach § 170 Abs. 2 StPO eingestelltes
Ermittlungsverfahren und ein nach § 45 JGG eingestelltes Verfahren wegen Betrugs
(die Antragstellerin hatte sowohl einer Fahrkartenkontrolleurin als auch der Polizei
anlässlich einer Schwarzfahrt mit der Bahn einen falschen Namen genannt) –, mit
Blick auf den nicht gesicherten Lebensunterhalt und die erhebliche strafrechtliche
Verfehlung in Serbien, die, wenn sie in Deutschland begangen worden wäre, auch
strafbar gewesen wäre (§ 96 AufenthG), sei der Antrag der Antragstellerin im
Ermessenswege abzulehnen.
Gegen den am 27.09.2010 zugestellten Bescheid hat die Antragstellerin am
01.10.2010 Klage erhoben (Aktenzeichen: 5 K 1412/10.DA), über die noch nicht
entschieden ist.
Zugleich hat sie vorliegenden Eilantrag gestellt, mit dem sie ihr Vorbringen
wiederholt und vertieft, wonach die Niederlassungserlaubnis nicht erloschen sei
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wiederholt und vertieft, wonach die Niederlassungserlaubnis nicht erloschen sei
und die Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB habe.
Die Antragstellerin beantragt hier,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 01.10.2010
(Aktenzeichen: 5 K 1412/10.DA) gegen die Verfügung des Landrats des
Odenwaldkreises vom 23.09.2010 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen,
und verweist zur Begründung im Wesentlichen auf seinen Bescheid.
II. Über den Antrag kann im Einvernehmen mit den Beteiligten durch den
Berichterstatter anstelle der Kammer entschieden werden (§ 87 a Abs. 2 und 3
VwGO).
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nur zulässig, soweit er sich gegen die
Abschiebungsandrohung in dem angegriffenen Bescheid richtet (§ 80 Abs. 2 Satz
2 VwGO i. V. mit § 16 HessAGVwGO). Im Übrigen ist der Antrag unzulässig, da der
Antragstellerin bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde kein vorläufiges
Aufenthaltsrechts nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG zustand, das durch die
Entscheidung der Ausländerbehörde entfallen wäre und nun im Verfahren nach §
80 Abs. 5 VwGO gesichert werden könnte.
Soweit der Antrag zulässig ist, ist er auch begründet. Für die materiell-rechtliche
Beurteilung der behördlichen Entscheidung kommt es seit den Urteilen des
BVerwG v. 15.11.2007 – 1 C 45.06 –, NVwZ 2008, 434 und vom 13.04.2010 – 1 C
10.09 –, InfAuslR 2010, 274, auch in Anfechtungsfällen im Aufenthaltsrecht
grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen
Verhandlung oder Entscheidung der Tatsacheninstanz an; also ist die jetzige Sach-
und Rechtslage maßgebend.
Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung erweist sich die
ergangene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung als wahrscheinlich
rechtswidrig mit der Folge, dass die vorzunehmende Interessenabwägung es
gebietet, das öffentliche Vollzugsinteresse gegenüber den privaten Belangen der
Antragstellerin einstweilen zurückzustellen. Es spricht einiges dafür, dass die
Antragstellerin derzeit nicht ausreisepflichtig ist (§ 50 Abs. 1 AufenthG), weshalb
ihr die Ausländerbehörde auch nicht die Abschiebung für den Weigerungsfalle
androhen durfte (§ 59 AufenthG).
Das Gericht wird allerdings voraussichtlich die Auffassung der Ausländerbehörde
teilen, wonach die der Antragstellerin erteilte Niederlassungserlaubnis nach
nationalem Recht erloschen ist, da die Antragstellerin das Bundesgebiet für mehr
als sechs Monate verlassen hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) und die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 AufenthG nicht vorliegen.
Daraus folgt hingegen nicht zwangsläufig, dass die Antragstellerin auch kein Recht
zum Aufenthalt im Bundesgebiet mehr hat, denn die nationale Rechtsordnung wird
bei türkischen Staatsangehörigen vom supranationalen Assoziationsrecht
überlagert, das gegebenenfalls weitergehende Rechte gewährt und
entgegenstehendes nationales Recht verdrängt.
Ob das der Antragstellerin von der Behörde mit Blick auf die langjährige
Beschäftigung ihres Vaters zuerkannte Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 – 1.
Gedankenstrich – ARB tatsächlich erloschen ist, wie der Antragsgegner meint,
erscheint nach Auffassung des Gerichts fraglich. Wie die Antragstellerin zu Recht
ausführt, erlischt das Recht nach Art. 7 Satz 1 ARB nach der Rechtsprechung des
EuGH nur, wenn die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des
Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche
und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder
Gesundheit i. S. von Art. 14 ARB darstellt oder der Betroffene das Hoheitsgebiet
dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe
verlassen hat (zuletzt EuGH, Urt. v. 04.02.2010 – C-14/09 [Genc] – NVwZ 2010,
367, Rdnr. 42; EuGH, Urt. v. 18.12.2008 – C-337/07 [Altun] – InfAuslR 2009, 93 =
NVwZ 2009, 235, Rdnr. 62; Urt. v. 25.09.2008 – C-453/07 [Er] –, NVwZ 2008, 1337,
Rdnr. 30).
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Die hier wohl allein in Betracht zu ziehende zweite Variante der vom EuGH
bestimmten Erlöschensgründe wirft im Falle der Antragstellerin zum einen die
Frage auf, ob sie „berechtigte Gründe“ hatte, das Bundesgebiet zu verlassen, und
zum anderen, ob der Zeitraum ihrer Abwesenheit „nicht unerheblich“ war.
Was unter „berechtigten Gründen“ zu verstehen ist, hat der EuGH – soweit
ersichtlich – bislang nicht näher präzisiert. Der Begriff ist – wie alle Bestimmungen
des ARB – europarechtlich auszulegen. Ob ein Grund „berechtigt“ ist, hängt, wie
die Urteilsgründe in anderen Amtssprachen nahe legen (französisch: „sans motifs
légitimes“, englisch: „without legitimate reason“, italienisch: „senza motivi
legittimi“ und spanisch: „sin motivos legítimos“), allein davon ab, ob die Gründe
der Antragstellerin „legitim“, also allgemein gesellschaftlich anerkannt sind, mithin
nicht, ob sie aus dem subjektiven Blickwinkel der Antragstellerin berechtigt
erscheinen. Es kommt daher darauf an, ob die Gründe ihrer Abwesenheit von
Deutschland von der Allgemeinheit anzuerkennen oder eher zu missbilligen sind.
In dieser Hinsicht teilt das erkennende Gericht die Auffassung des
Bundesverwaltungsgerichts, wonach legitime Gründe nicht vorliegen, wenn der
Betroffene in der Absicht ins Ausland reist, dort Straftaten zu begehen, bei deren
Entdeckung er mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen hat (BVerwG, Urt.
v. 30.04.2009 – 1 C 6.08 – NVwZ 2009, 1162 [1165]). Trotz gewisser Bedenken –
was auch an der schlechten Übersetzung des vorgelegten Urteils des
erstinstanzlichen serbischen Strafgerichts liegen mag – spricht einiges dafür, dass
die Verurteilung der Antragstellerin zu Recht erfolgt ist, und ihre gegenteilige
Behauptung, sie habe von der Schleusungsaktion nichts gewusst, nicht zutrifft.
Denn zu einer angeblichen Urlaubsreise in die Türkei lässt sich eine 19jährige Frau
üblicherweise nicht mit drei ihr völlig unbekannten Personen ein und tritt schon am
Tage nach der Ankunft in der Türkei wieder den beschwerlichen Heimweg nach
Deutschland – noch dazu wiederum auf dem Landweg – an. Näher liegt wohl die
Annahme, dass die Antragstellerin solche Strapazen nur auf sich genommen
hatte, weil dahinter ein auch für sie lukratives Geschäft stand, nämlich eine
Beteiligung an den Einnahmen der von den zu schleusenden Personen gezahlten
Entgelte. Legitime Gründe i. S. d. Rechtsprechung des EuGH hatte die
Antragstellerin nach summarischer Prüfung des Sachverhalts daher eher nicht.
Deutlich schwieriger ist die Beantwortung der Frage, ob die Antragstellerin
Deutschland für einen „nicht unerheblichen Zeitraum“ oder, worauf die
Urteilsgründe in anderen Amtssprachen eher hindeuten (französisch: „pendant
une période significative“, englisch: „for a significant length of time“, italienisch:
„per un periodo significativo“, spanisch „durante un período de tiempo
significativo“), für einen bedeutsamen Zeitraum verlassen hat. Durch den EuGH
ist geklärt, dass kurzzeitige Fehlzeiten jedenfalls dann nicht bedeutsam sind, wenn
die Behörden die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts deswegen durch spätere
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht in Frage gestellt haben (EuGH, Urt. v.
17.04.1997 – Rs. C-351/95 [Kadiman] –, NVwZ 1997, 1104, Rdnr. 54). Ein solcher
Fall liegt hier nicht vor, denn die über zweijährige Abwesenheit der Antragstellerin
wird von der Behörde gerade zum Anlass genommen, ihr das Aufenthaltsrecht
abzusprechen. Der EuGH hat jedoch auch entschieden, dass eine freiwillige
Abwesenheit vom Bundesgebiet von gut einem Jahr das Recht aus Art. 7 Satz 1
ARB nicht erlöschen lasse (EuGH, Urt. v. 16.03.2000 – Rs. C-329/97 [Ergat] –,
NVwZ 2000, 1277, Rdnr. 51). Ob auch längere Abwesenheiten das Recht aus Art. 7
ARB unberührt lassen, ist dagegen in der Rechtsprechung des EuGH nicht geklärt.
In der Literatur wird die Auffassung vertreten, eine schon mehr als sechsmonatige
Abwesenheit vom Bundesgebiet lasse erworbene Rechte nach dem ARB außer bei
Krankheit oder Erfüllung der Wehrpflicht regelmäßig erlöschen (Huber in Huber,
AufenthG, 2010, Art. 6 Rdnr. 71 zur Parallelproblematik in Art. 6 Abs. 1 ARB). Ist
der Betroffene an einer Rückkehr durch Krankheit oder Inhaftierung gehindert,
erlösche der assoziationsrechtliche Anspruch nicht (Huber, a. a. O., unter Berufung
auf OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 17.01.2007 – 19 E 990/06, Bay. VGH, Beschl. v.
21.03.2006 – 24 ZB 06.233 und VG Aachen, Urt. v. 31.07.2007 – 2 K 896/05). Nach
anderer Auffassung sei das Assoziationsrecht eng am Gemeinschaftsrecht
auszulegen. Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer
Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen
und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur
Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG,
75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S.
77), berichtigt L 229, S. 35) – nachfolgend: Unionsbürgerrichtlinie – enthalte dazu
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77), berichtigt L 229, S. 35) – nachfolgend: Unionsbürgerrichtlinie – enthalte dazu
gemeinschaftsrechtliche, von der Dauer des vorhergehenden Aufenthalts im
Inland abhängige Grenzen, bis zu denen Auslandsaufenthalte unschädlich seien:
grundsätzlich 6 Monate (Art. 11 Abs. 2, 16 Abs. 3 Unionsbürgerrichtlinie), aber bis
zu zwei Jahren, wenn bereits ein Recht auf Daueraufenthalt erworben wurde (Art.
16 Abs. 4 Unionsbürgerrichtlinie). Kehre der assoziationsrechtliche
Familienangehörige innerhalb dieser Fristen zurück, spreche vieles dafür, dass der
von der Rechtsordnung hervorgehobene Integrationszusammenhang gewahrt sei.
Dann sei die Zeitdauer seiner Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat nicht
einmal ein Indiz für ein dauerhaftes Verlassen. Im Übrigen komme es bei der
Frage, ob der Assoziationsfreizügigkeitsberechtigte den
Integrationszusammenhang durch Aufgabe des Lebensmittelpunktes im
Aufnahmemitgliedstaat auf Dauer beseitigt habe, neben der Abwesenheitsdauer
auf weitere Kriterien an, beispielsweise Ausreisezweck, Kündigung von Wohnung
und/oder Arbeitsplatz, melderechtliche Abmeldung, sodass auch der mehrjährige
Aufenthalt außerhalb des Mitgliedstaats nicht stets zum Verlust des
assoziationsrechtlichen Aufenthaltsanspruchs führe (Oberhäuser in
Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 2008, Art. 7 ARB Rdnr. 14 unter Berufung auf
OVG Nordrh.-Westf., Beschl. v. 17.01. 2007 – 19 E 990/06; vgl. auch BVerwG, Urt.
v. 30.04.2009 – 1 C 6.08 –, NVwZ 2009, 1162 [1165]). Die letztgenannte
Auffassung wird vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geteilt (Beschl. v.
15.10.2009 – 19 CS 09.2194 - InfAuslR 2010, 7). Nach beiden Auffassungen hätte
die Antragstellerin ihr Recht aus Art. 7 Satz 1 ARB nicht verloren, zumal zu
berücksichtigen ist, dass sie sich bereits unmittelbar nach der Haftentlassung ca.
14 Monate nach Verlassen des Bundesgebietes bei der Deutschen Botschaft
Belgrad um eine Rückkehr nach Deutschland bemühte.
Da insgesamt einiges dafür spricht, dass die Klage der Antragstellerin auf
Fortbestehens ihres assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts Erfolg haben wird,
ergibt die Interessenabwägung, ihre Abschiebung – genauer: die vorliegend allein
streitige Abschiebungsandrohung – einstweilen zu suspendieren. Die Klärung der
aufgeworfenen Fragen bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Nur der Vollständigkeit wegen sei darauf hingewiesen, dass der von der
Antragstellerin gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37
Abs. 1 AufenthG kein vorläufiges Aufenthaltsrecht vermittelt, sodass er im
Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO unberücksichtigt bleiben muss. Insoweit käme
nur der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO in Betracht. Eine
solche scheitert jedoch schon am Fehlen eines Anordnungsanspruchs, da die
Antragstellerin ohne das dazu erforderliche Visum ins Bundesgebiet eingereist ist
(§ 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG).
Da der Antragsgegner unterliegt, sind ihm die Kosten aufzuerlegen (§ 154 Abs. 1
VwGO). Von einer anteiligen Kostenverpflichtung der Antragstellerin wegen des
umfassend gestellten Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung sieht
das Gericht ab, denn einerseits sind ungenau formulierte Anträge vom Gericht von
Amts wegen zu berichtigen (§ 86 Abs. 3 VwGO) und andererseits hat die
Antragstellerin durch die gewählte Formulierung, die aufschiebende Wirkung der
„Anfechtungsklage“ anzuordnen, deutlich gemacht, dass sie aus etwaigen
Verpflichtungsansprüchen kein über das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu
sicherndes Bleiberecht herleitet. Die Festsetzung des Wertes des
Streitgegenstandes ergibt sich aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG, wobei das Gericht
wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung von der Hälfte des Auffangstreitwertes
ausgeht.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.