Urteil des VG Darmstadt vom 05.10.2010

VG Darmstadt: wiedereinsetzung in den vorigen stand, nutzungsänderung, nichteinhaltung der frist, treu und glauben, briefkasten, adresse, bisherige nutzung, zustellung, gesellschafter, grundstück

1
2
Gericht:
VG Darmstadt 9.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
9 K 1230/09.DA
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 180 ZPO, § 3 VwZG, § 34
Abs 2 BauGB, § 6 BauNVO, § 7
BauNVO
Ersatzzustellung eines Bescheides an eine BGB-
Gesellschaft - Sachbescheidungsinteresse für Erteilung
einer Baugenehmigung für ein Sportwettbüro
Leitsatz
1. Die Ersatzzustellung eines Bescheides an eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts
durch Einwurf in den Briefkasten eines ihrer Gesellschafter unter dessen Privatanschrift
ist unwirksam, wenn die Beschriftung keinen Hinweis darauf enthält, dass die
Gesellschaft dort Geschäftsräume unterhält.
2. Die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Nutzungsänderung in eine
Vergnügungsstätte zur Vermittlung von Sportwetten kann nicht wegen fehlenden
Sachbescheidungsinteresses abgelehnt werden, solange die wegen Verstoßes gegen
das staatliche Sportwettenmonopol ausgesprochene ordnungsrechtliche
Untersagungs- und Schließungsverfügung nicht bestandskräftig geworden ist.
3. Einzellfall eines bauplanungsrechtlich zulässigen Sportwettbüros.
Tenor
Der Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des Bescheids vom 09.06.2009
und des Widerspruchsbescheids vom 27.07.2009 der Klägerin die beantragte
Baugenehmigung entsprechend dem Antrag vom 12.05.2009 zu erteilen.
Die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen, die diese selbst zu tragen hat, hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der
festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung
Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Baugenehmigung für eine
Nutzungsänderung eines Ladengeschäfts in eine Vergnügungsstätte zur
Vermittlung von Sportwetten.
Die Klägerin ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts zur gewerbsmäßigen
Vermittlung von Sportwetten des Unternehmens „Z.“, welches eine vom
maltesischen Finanzministerium erteilte Lizenz besitzt. Dazu pachtete sie
Räumlichkeiten in Y. in X.,Gemarkung X., Flur 1, Flurstück Nr. 759/1 und richtete
dort eine Annahmestelle für Sportwetten ein. Die Nutzfläche im Erdgeschoss
beläuft sich auf ca. 50 m² und die im Obergeschoss ohne den durch eine
Leichtbauwand abgetrennten Abstellraum auf 38 m². Im Obergeschoss stellte die
Klägerin einen Getränkeautomaten auf. Die Räumlichkeiten liegen im unbeplanten
Innenbereich und wurden vormals als Fotogeschäft genutzt. Der
Flächennutzungsplan stellt dieses Gebiet als Mischgebiet dar. Außerdem liegt das
Grundstück im Geltungsbereich der Satzung der Beigeladenen über die Gestaltung
von Werbeanlagen und Fassaden zur Bewahrung und Entwicklung des Ortbildes im
Stadtkern X. vom 21.06.1999.
3
4
5
6
7
8
Der Betrieb des am 14.04.2008 bei der Beigeladenen angemeldeten Gewerbes
„Vermittlung von Sportwetten an einem im EU-Ausland konzessionierten
Anbieter“ wurde durch das Ordnungs- und Gewerbeamt des Beklagten mit
Verfügung vom 08.05.2008 unter Anordnung des Sofortvollzugs untersagt und
dessen Schließung angeordnet. Den dagegen gestellten Antrag der Klägerin nach
§ 80 Abs. 5 VwGO wies die 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Darmstadt mit
Beschluss vom 09.10.2008 zurück. Die daraufhin eingelegte Beschwerde wies der
Hessische Verwaltungsgerichtshof aufgrund einer Interessensabwägung zugunsten
der öffentlichen Interessen am 28.01.2009 ebenfalls zurück.
Unter dem 16.12.2008 stellte die Klägerin einen Antrag auf Erteilung eines
Bauvorbescheids für die Nutzungsänderung des Ladengeschäfts in eine
Vergnügungsstätte mit der Fragestellung, ob die Vergnügungsstätte
„Sportwetten“ in diesem Gebiet zulässig ist. Als Adresse des Bauherrn war in dem
Antrag W., V. eingetragen. Unter dem 04.02.2009 und erneut mit Schreiben vom
18.02.2009 versagte die Beigeladene ihr Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 BauGB,
da die Art der baulichen Nutzung in dem zu bewertenden Bereich durch Wohnen,
Einzelhandel und der Mischnutzung Wohnen mit Einzelhandel geprägt sei. Auch
seien Anlagen für gesundheitliche Zwecke, Schankwirtschaften und sonstige
Gewerbebetriebe in diesem Bereich anzutreffen. Damit sei eine
Vergnügungsstätte in diesem Bereich nicht zulässig.
Der Beklagte lehnte unter dem 26.02.2009 die Erteilung eines Vorbescheids zur
Legalisierung der Nutzungsänderung aufgrund fehlenden
Sachbescheidungsinteresses ab. Hiergegen legte die Klägerin durch ihren
Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein, über den bisher noch nicht entschieden
wurde. Mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 02.04.2009 teilte die
Klägerin dem Beklagten mit, dass die im Vorbescheid genannte Adresse W., V.
unrichtig sei. Die Firmenadresse laute vielmehr A-Straße in A-Stadt. Diese
Angaben entsprechen der in der Behördenakte vorliegenden Gewerbeanmeldung
bei der Beigeladenen vom 14.04.2008. Mit Schreiben vom 09.04.2009 bestätigte
der Beklagte die Firmenadresse entsprechend der Mitteilung geändert zu haben.
Parallel dazu stellte die Klägerin unter dem 12.05.2009 für dasselbe Vorhaben
einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung für die Nutzungsänderung von
einem Ladengeschäft in eine Vergnügungsstätte. Dabei war in dem
Antragsvordruck erneut als Adresse der Bauherrschaft W., V. eingetragen.
Mit Bescheid vom 09.06.2009 lehnte der Beklagte den Bauantrag ab. Der
Bescheid wurde erneut mit dem fehlenden Sachbescheidungsinteresse begründet.
Nach geltendem deutschem Gewerberecht seien Sportwettbüros, deren Betreiber
über keine in Deutschland gültige Erlaubnis verfügen, illegal. Aus diesem Grund
habe bereits das Ordnung- und Gewerbeamt den Betrieb des angemeldeten
Gewerbes untersagt und dessen Schließung angeordnet. Zwar sei eine Prüfung
der gewerberechtlichen Zulässigkeit eines Vorhabens durch die Untere
Bauaufsichtsbehörde im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach § 57 HBO
nicht vorgesehen, da aufgrund einer erteilten Baugenehmigung eine erforderliche
gewerberechtliche Genehmigung für das betreffende Vorhaben weder entfalle
noch von dieser Baugenehmigung ersetzt werde. Die Bauaufsicht sei jedoch nicht
gezwungen, der Bauherrschaft eine Baugenehmigung zu erteilen, deren
Umsetzung zwangsläufig Verstöße gegen sonstige öffentlich-rechtliche
Bestimmungen zur Folge habe. Dieser Bescheid wurde der Klägerin am 13. Juni
2009 im Wege der Ersatzzustellung durch Einwurf in den Briefkasten an die
Adresse W., V. zugestellt.
Am 14.07.2009 legte die Klägerin mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten
Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid ein und beantragte hilfsweise die
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Hierzu wurde vorgetragen, dass aufgrund
der umfassenden Mandatierung bezüglich der geplanten Nutzungsänderung in der
Y. der Ablehnungsbescheid an den Prozessbevollmächtigten hätte zugestellt
werden müssen. Außerdem sei der Bescheid erneut an die Adresse W., V.
gerichtet worden, obwohl mit Schreiben vom 02.04.2009 auf die richtige
Firmenadresse hingewiesen worden sei. Bei der Adresse W. in V. handele es sich
um den Zweitwohnsitz des Herrn C. als einem der beiden Gesellschafter. Dieser
sei aufgrund einer mehrwöchigen urlaubsbedingten Abwesenheit erst am
14.07.2009 in der Lage gewesen, den Ablehnungsbescheid zur Kenntnis zu
nehmen. Wäre eine Zustellung an die bekannte Geschäftsadresse erfolgt, wäre
eine Kontrolle und Bearbeitung der eingehenden Post sichergestellt gewesen.
9
10
11
12
13
14
15
16
Mit Schreiben vom 27.07.2009 wies der Beklagte den Widerspruch als nicht
fristgemäß zurück und lehnte den Widereinsetzungsantrag mit Schreiben vom
03.08.2009 mit der Begründung ab, dass die Klägerin die Nichteinhaltung der Frist
selbst zu vertreten habe und eine anwaltliche Mandatierung im
Baugenehmigungsverfahren nicht vorliege. Beide Schreiben enthielten keine
Rechtsmittelbelehrung.
Am 07.09.2009 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die ordnungsgemäße Durchführung eines Vorverfahrens sei nicht möglich
gewesen, da der Beklagte den Widerspruch unter Berufung auf die Verfristung
zurückgewiesen habe. Vorliegend sei der Klägerin jedoch Widereinsetzung in den
vorherigen Stand zu gewähren, da sie die Fristversäumung nicht verschuldet habe.
Der Ablehnungsbescheid sei durch Einwurf in den Briefkasten an die Privatadresse
des Gesellschafters C. zugestellt worden, der aber bis zum 14.07.2009
urlaubsbedingt abwesend gewesen sei. Zwar habe der beauftragte Architekt diese
Adresse bei Erstellung des Bauantrags angegeben. Dem Beklagten sei aus dem
Verfahren über den Antrag auf Erteilung eines Bauvorbescheids für dasselbe
Vorhaben die Geschäftsadresse der Klägerin in der A-Straße in A-Stadt jedoch
bekannt gewesen. Für eine mehrwöchige urlaubsbedingte Abwesenheit sei dem
Gesellschafter bzw. der Klägerin kein Vorwurf zu machen. Außerdem hätte der
Bescheid aufgrund der umfassenden Mandatierung in dem Verfahren über die
Erteilung eines Bauvorbescheids an die Prozessbevollmächtigten zugestellt
werden müssen.
Die Frist zur Erhebung der Klage sei eingehalten, da aufgrund der fehlenden
Rechtbehelfsbelehrung die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO gelte.
Die Baugenehmigung sei bereits deshalb rechtswidrig versagt worden, da der
Beklagte in unzulässiger Weise von einem fehlenden Sachbescheidungsinteresse
ausgegangen sei. Die Prüfung der gewerberechtlichen Zulässigkeit sei nicht
Gegenstand des Baugenehmigungsverfahrens und falle damit nicht in die
Prüfungskompetenz des Beklagten. Die Bezugnahme auf die vermeintliche
Illegalität der privaten Sportwettenvermittlung sei damit unzulässig, da es sich bei
den Regelungen des Glücksspielstaatsvertrages und der Ausführungsgesetze der
Länder nicht um im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Normen handele.
Diese gesetzlich beschränkte Prüfungskompetenz ignoriere der Beklagte, wenn er
die beantragte Baugenehmigung wegen fehlendem Sachbescheidungsinteresse
ablehne. Ein Sachbescheidungsinteresse an der Erteilung einer Baugenehmigung
fehle nur dann, wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht nur
vorübergehend offensichtlich von der begehrten Entscheidung kein Gebrauch
gemacht werden könne. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Rechtslage
der privaten Sportwettenvermittlung sei europa- und verfassungsrechtlich völlig
offen und werde bundesweit uneinheitlich beurteilt. Außerdem könne die Klägerin
völlig legal Wetten an den staatlichen Anbieter Lotto Hessen vermitteln.
Das Vorhaben sei auch bauplanungsrechtlich zulässig, da es sich bei dem zu
berücksichtigenden Geviert um ein überwiegend durch gewerbliche Nutzung
geprägtes Mischgebiet, wenn nicht schon um ein innerstädtisches Kerngebiet
handele. Aufgrund der Nutzfläche, die den Schwellenwert von 100 m²
unterschreite, sei das Vorhaben mischgebietsverträglich, da das maßgebliche
Geviert auch nicht durch eine überwiegende Wohnnutzung geprägt sei. Auch
Einzelhandelsbetriebe seien geeignet, die gewerbliche Prägung eines Gebiets zu
begründen. Ein vorhandenes Übergewicht der Nutzungsart „Vergnügungsstätte“
sei ebenfalls nicht erkennbar, da sich das Wettbüro der Klägerin gerade nicht in
einem Umfeld befinde, das von Vergnügungsstätten derart geprägt sei, dass
andere Nutzungsformen bereits in einem Teilbereich des Gebiets weitgehend
verdrängt seien.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheids vom 09.06.2009
in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.07.2009 zu verpflichten, die
Baugenehmigung entsprechend dem Antrag der Klägerin vom 12.05.2009 zu
erteilen,
hilfsweise die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden.
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er zunächst auf die Ausführungen in den angefochtenen
Bescheiden. Das Sachbescheidungsinteresse habe aufgrund der
gewerberechtlichen Untersagungs- und Schließungsverfügung gefehlt. Insoweit
handele es sich um eine vorgreifliche Entscheidung, die sowohl im Eilverfahren
nach § 80 Abs. 5 VwGO als auch in der Beschwerde zum Hessischen
Verwaltungsgerichtshof bestätigt worden sei. Überdies sei das Vorhaben auch
bauplanungsrechtlich unzulässig, da das Geviert ein überwiegend durch
Wohnnutzung geprägtes Gebiet sei. Die Eigenart der näheren Umgebung
entspreche damit dem Charakter eines allgemeinen Wohngebiets im Sinne von § 4
BauNVO. In einem solchen Gebiet seien Vergnügungsstätten unzulässig. Auch
durch die im Jahre 1999 erlassene Gestaltungssatzung der Beigeladenen ergebe
sich, dass das maßgebliche Geviert keinen gewerblichen Charakter haben solle.
Mit Beschluss vom 20.08.2010 hat das Gericht die Beigeladene notwendig
beigeladen. Diese hat keinen Antrag gestellt.
Mit Beschluss vom 20.08.2010 hat die Kammer den Rechtsstreit gem. § 6 Abs. 4
Satz 1 VwGO der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen. Wegen der weiteren
Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und
der beigezogenen Behördenunterlagen (4 Hefter) verwiesen, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung ergeht durch die Einzelrichterin, der der Rechtsstreit mit
Beschluss vom 20.08.2010 gem. § 6 Abs. 4 Satz 1 VwGO zur Entscheidung
übertragen wurde.
Die statthafte Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 1, 2. Alt. VwGO ist zulässig.
Die am 20.09.2009 eingegangene Klage ist nicht verspätet erhoben worden. Nach
§ 74 VwGO muss die Klage zwar innerhalb eines Monats nach Zustellung des
Widerspruchsbescheids erhoben werden. Vorliegend gilt jedoch die Einjahresfrist
des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO, da die Zurückweisung des Widerspruchs mit
Schreiben vom 14. Juli 2009 sowie die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand vom 3. August 2009 keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielten. Die in
diesem Fall grundsätzlich zu beachtende Frist von einem Jahr seit Zustellung des
Widerspruchsbescheids hat die Klägerin eingehalten.
Ebenso ist das gem. § 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO notwendige Vorverfahren
durchgeführt worden. Der Ablehnungsbescheid vom 09.06.2009 ist nicht bereits
bestandkräftig geworden, da der hiergegen am 14.07.2009 eingelegte Widerspruch
nicht verfristet war.
Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Widerspruch innerhalb eines Monats,
nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist,
einzulegen. Danach wäre der am 14.07.2009 eingelegte Widerspruch gegen den
am 13.06.2009 zugestellten Ablehnungsbescheid nach § 31 HVwVfG i. V. m. §§
187 ff. BGB verspätet. Nach § 41 HVwVfG ist der Verwaltungsakt demjenigen
bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist.
Vorliegend hat der Beklagte den Ablehnungsbescheid an die Klägerin und nicht an
ihre beiden Gesellschafter adressiert. Dies ist zulässig, denn als Gesellschaft
bürgerlichen Rechts ist sie beteiligungsfähig im Sinne von § 11 Nr. 2 HVwVfG. In
der zivilgerichtlichen Rechtsprechung ist die Parteifähigkeit einer BGB-Gesellschaft
gemäß § 50 ZPO anerkannt, da es sich um eine Vereinigung handelt, die Träger
von Rechten und Pflichten sein kann (BGH, Urt. v. 29.01.2001 - II ZR 331/00 –).
Daraus folgt, dass ihr auch die Beteiligungsfähigkeit nicht abgesprochen werden
kann. Anerkannt ist insbesondere, dass eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts als
Bauherrengemeinschaft im Streit um die Erteilung einer Baugenehmigung
beteiligungsfähig ist (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 16.06.2005 – 2 K 278/02 -;
HessVGH, Beschluss vom 23.01.1997, - 4 TG 4829/96 -, beide zitiert nach juris).
Hier hat die Klägerin als Betreiber des Wettbüros die Baugenehmigung für die
Nutzungsänderung beantragt, so dass sie Beteiligte des Verwaltungsverfahrens
ist.
27
28
29
30
31
32
33
Vorliegend stellte der Beklagte den an die Klägerin adressierten
Ablehnungsbescheid vom 09.06.2009 im Wege der Ersatzzustellung in den
Briefkasten des vertretungsberechtigten Gesellschafters C. unter der Adresse W.
in V. zu. Diese Zustellung ist nicht bereits deshalb unwirksam, weil gem. § 1 Satz 1
Hessisches Verwaltungszustellungsgesetz (HessVwZG i. V. m. § 7 Abs. 1 Satz 2
Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) an den Prozessbevollmächtigten der
Klägerin zuzustellen gewesen wäre. Dieser hatte weder im
Baugenehmigungsverfahren noch im Verfahren der Bauvoranfrage eine schriftliche
Vollmacht vorgelegt. Auch ist die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gem. § 32 HVwVfG nicht zu beanstanden, da der Hinderungsgrund der
urlaubsbedingten Abwesenheit des Gesellschafters C. nicht innerhalb von zwei
Wochen nach Wegfall des Hindernisses gegenüber dem Beklagten substantiiert
vorgetragen und glaubhaft gemacht worden ist. Die Ersatzzustellung gem. § 1
Abs. 1 HessVwZG i. V. m. § 3 Abs. 1 und 2 VwZG i. V. m. § 180 ZPO ist jedoch
deshalb unwirksam, weil der Ablehnungsbescheid vom 09.06.2009 in den
Briefkasten des Gesellschafters C. unter dessen Privatanschrift eingeworfen wurde.
Die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten ist nur zulässig, wenn der
Zusteller sich davon überzeugt hat, dass der Briefkasten eindeutig dem
Adressaten zugeordnet ist (vgl. BT-Drucks. 14/4554, 21; Kopp/Schenke, VwGO, 14.
Aufl., § 56 Rdnr. 34). Der Briefkasten des Gesellschafters C. enthielt keine
Beschriftung, die darauf hingedeutet hätte, dass die Klägerin dort Geschäftsräume
unterhält. Nach den glaubhaften Angaben des Gesellschafters C. in der
mündlichen Verhandlung stand auf seinem Briefkasten lediglich sein Name und
der seiner ehemaligen Freundin, den er bisher noch nicht entfernt hat. Da der
Briefkasten mithin nicht der Klägerin zugeordnet werden konnte, hätte der
Bescheid hier nicht eingelegt werden dürfen. Damit ist die Ersatzzustellung durch
Einlegen in den Briefkasten gem. § 180 ZPO unwirksam.
Eine ordnungsgemäße Zustellung kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes
von Treu und Glauben auch nicht fingiert werden. In dem Bauantrag vom
12.05.2009 war zwar als Anschrift der Klägerin die Privatanschrift des
Gesellschafters C. W., V. eingetragen. Damit hat die Klägerin bei dem Beklagten
möglicherweise den Anschein erregt, der Bescheid könne auch unter dieser
Anschrift bekanntgegeben werden. Eine Ersatzzustellung kann jedoch nur wirksam
sein, wenn die förmlichen Voraussetzungen beachtet werden. Auch kann
vorliegend nicht von einer Zustellungsvereitelung ausgegangen werden, da dem
Beklagten die Firmenadresse der Klägerin aus dem Verfahren der Bauvoranfrage
bekannt war. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte diese mit Schreiben
vom 02.04.2009 in dem Verfahren über die Bauvoranfrage mitgeteilt und sie lässt
sich zudem der in der Behördenakte vorliegenden Gewerbeanmeldung
entnehmen. Vor einer förmlichen Zustellung hätte mithin Anlass zu weiterer
Aufklärung bestanden. Der festgestellte Zustellungsmangel geht daher zu Lasten
des Beklagten.
Die Unwirksamkeit der Zustellung hat zur Folge, dass die Rechtsmittelfrist nicht in
Lauf gesetzt wird (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 41 Rdnr. 27;
Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 74 Rdnr. 5). Der vertretungsberechtigte
Gesellschafter C. hat den Ablehnungsbescheid von 09.06.2009 nachweislich erst
am 14.07.2009 erhalten, sodass der am gleichen Tag eingelegte Widerspruch nicht
verfristet war.
Die somit zulässige Klage ist auch begründet.
Der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 09.06.2009 in Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 27.07.2009 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in
ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Erteilung der beantragten
Baugenehmigung für die Nutzungsänderung von einem Ladengeschäft in eine
Vergnügungsstätte (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Umnutzung des Ladengeschäfts in ein Sportwettbüro ist eine rechtserhebliche
Nutzungsänderung, für die eine Baugenehmigung erforderlich ist. Das Vorhaben
stellt eine Vergnügungsstätte dar, für die andere bauplanungsrechtliche
Anforderungen gelten als für die bisherige Nutzung als Ladengeschäft. Das ergibt
sich bereits aus der in der Baunutzungsverordnung zum Ausdruck kommenden
unterschiedlichen Zuordnung der beiden Nutzungsarten zu verschiedenen
Baugebieten.
Vergnügungsstätten im städtebaulichen Verständnis sind Gewerbebetriebe
33
34
35
36
Vergnügungsstätten im städtebaulichen Verständnis sind Gewerbebetriebe
besonderer Art, die in unterschiedlicher Ausprägung (wie Amüsierbetriebe,
Diskotheken, Spielhallen) unter Ansprache (oder Ausnutzung) des Sexual-, Spiel-
oder Geselligkeitstriebs ein bestimmtes gewinnbringendes Freizeitangebot
vorhalten (HessVGH, Beschluss vom 19.09.2006 – 3 TG 2161/06 –, NVwZ-RR 2007,
81 und vom 25.08.2008 – 3 UZ 2566/07 –, NVwZ-RR 2009, 143). Unter diesen
Begriff fallen auch Wettbüros wie das der Klägerin (so auch Hess.VGH, Beschl. vom
25.08.2008 – 3 UZ 2566/07 –, NVwZ-RR 2009, 143). Der Einwand des
Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, dass von
einem Wettbüro weitaus weniger bodenrechtliche Spannungen ausgingen als von
Vergnügungsstätten anderer Ausprägung, mag für die Zulässigkeit eines solchen
Bauvorhabens an anderer Stelle von Bedeutung sein, ändert aber nichts an der
Zuordnung als Vergnügungsstätte. Auch der Umstand, dass die Klägerin im
Obergeschoss einen Getränkeautomaten aufgestellt hat, führt nicht zu einer
anderen Einordnung. Die Teilnahme am Wettspiel steht vorliegend eindeutig im
Vordergrund und prägt das Leistungsangebot. Das Aufstellen des
Getränkeautomaten stellt demgegenüber lediglich ein begleitendes Angebot dar
(vgl. VG Neustadt, Urt. v. 12.08.2010, - 4 K 227/10.NW, juris; HessVGH, Beschl.
vom 25.08.2008 – 3 UZ 2566/07 –, NVwZ-RR 2009, 143).
Die somit erforderliche Baugenehmigung für die Nutzungsänderung kann der
Klägerin nicht unter Hinweis auf ein fehlendes Sachbescheidungsinteresse
verweigert werden. Zwar kann das Fehlen eines Sachbescheidungsinteresses als
allgemeine Antragsvoraussetzung die Ablehnung eines Bauantrags grundsätzlich
rechtfertigen. Der Eintritt in die sachliche Prüfung eines Bauantrags hat jedoch nur
dann nicht zu erfolgen, wenn feststeht, dass das Bauvorhaben aus anderen als
den zum Prüfungsumfang gehörenden Gründen dauerhaft nicht verwirklicht
werden kann. Verstöße gegen im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nicht
zu prüfende Vorschriften mit Hilfe des Sachbescheidungsinteresses doch wieder
zu einem Versagungsgrund zu machen, würde diese Systematik des Gesetzes
unterlaufen. Erforderlich ist mithin ein offensichtliches und schlechthin nicht
ausräumbares Hindernis gegen die Verwertung der Baugenehmigung. Insoweit
muss ohne ins Einzelne gehende Prüfung erkennbar sein, dass von der
Baugenehmigung in keiner Weise Gebrauch gemacht und das Vorhaben dauerhaft
nicht verwirklicht werden kann (Bay. VGH, Urt. v. 23.03.2006 – 46 B 05.555 –.
BayVerwBl. 2006, 537; VGH BW, Beschl. v. 12.09.2002 – 8 S 1571/07 –, GewArch
2003, 214; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. vom 22.10.2008 – 8 A 10942/08.OVG).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Es steht nicht zweifelsfrei
fest, dass die private Vermittlung von Sportwetten wegen Verstoßes gegen das
staatliche Sportwettenmonopol untersagt werden kann. Das Ordnungs- und
Gewerbeamt des Beklagten hat zwar mit Verfügung vom 08.05.2008 unter
Anordnung des Sofortvollzugs den Betrieb des Wettbüros untersagt. Diese
Ordnungsverfügung ist jedoch noch nicht bestandskräftig geworden. Der Antrag
der Klägerin nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen diese sofort vollziehbare
Ordnungsverfügung ist zwar erfolglos geblieben. Die ablehnenden Entscheidungen
des Verwaltungsgerichts Darmstadt und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs
stellen aber kein dauerhaftes Hindernis für die Verwirklichung des Vorhabens dar,
da das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO lediglich ein vorläufiges
Rechtsschutzverfahren ist. So hat auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof in
seinem Beschluss vom 28.01.2009 die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit der
Ordnungsverfügung offen gelassen und lediglich eine Interessensabwägung
zugunsten der öffentlichen Interessen der Suchtprävention und der
Kriminalitätsbekämpfung vorgenommen. Die Frage, ob die derzeitige
Ausgestaltung des auch in Hessen normierten staatlichen Sportwettenmonopols
mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, ist in der
verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung umstritten und nach den jüngsten
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof vom 08.09.2010 (- C-409/06 -, - C
316/07, - C-358/07 – u.a., - C 46/08 –, DVBl. 2010, 1298, 1318, 1319 und juris)
bisher obergerichtlich noch nicht abschließend entschieden. Letztendlich ist es der
Klägerin auf der Grundlage der Ordnungsverfügung auch nicht verwehrt,
Sportwetten der Hessischen Lotterieverwaltung zu vermitteln. Ein
Sachbescheidungsinteresse an der beantragten Baugenehmigung für die
Nutzungsänderung kann ihr daher nicht abgesprochen werden.
Nach § 64 Abs. 1 HBO ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben
keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im
Baugenehmigungsverfahrung zu prüfen sind. Dies sind hier im vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren gem. § 57 Abs. 1 HBO insbesondere die Vorschriften
37
38
39
40
Baugenehmigungsverfahren gem. § 57 Abs. 1 HBO insbesondere die Vorschriften
des Baugesetzbuches und aufgrund des Baugesetzbuches. Die beantragte
Nutzungsänderung des Ladengeschäfts in eine Vergnügungsstätte zur
Vermittlung von Sportwetten verstößt nicht gegen baurechtliche oder sonstige
öffentlich-rechtliche Vorschriften, die im vorliegenden Baugenehmigungsverfahren
zu prüfen sind. Insbesondere ist die Nutzungsänderung bauplanungsrechtlich
zulässig.
Bauplanungsrechtlich ist die Nutzungsänderung nach § 34 Baugesetzbuch –
BauGB – zu beurteilen, da das Grundstück innerhalb eines im Zusammenhang
bebauten Ortsteils liegt, für den ein Bebauungsplan nicht besteht. Danach ist ein
Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es
sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der
Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren
Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB).
Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem Baugebiet nach der
Baunutzungsverordnung, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner
Art allein danach, ob es nach der Baunutzungsverordnung allgemein zulässig wäre
(§ 34 Abs. 2 BauGB). Vorliegend beurteilt sich die bauplanungsrechtliche
Zulässigkeit der Art der baulichen Nutzung allein nach § 34 Abs. 2 BauGB, da die
hier maßgebliche nähere Umgebung des Sportwettbüros einem Mischgebiet
gemäß § 6 BauNVO entspricht.
Für eine derartige Beurteilung ist zunächst die nähere Umgebung im Sinne dieser
Vorschrift zu bestimmen. Die nähere Umgebung muss insoweit Berücksichtigung
finden, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und soweit
die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks
prägt oder doch beeinflusst (BVerwG, Urt. v. 26.05.1978 – IV C 9.77 –). Im
Mittelpunkt dieser Umgebung liegt das Grundstück, auf dem die
streitgegenständliche bauliche Anlage errichtet werden soll. Die nähere Umgebung
um dieses Grundstück wird im Idealfall durch konzentrische Kreise bestimmt,
deren Radien mit den Auswirkungen der fraglichen baulichen Anlage auf seine
Umgebung wachsen. Von dieser Bereichsbestimmung mit Hilfe einer geometrisch
mehr oder weniger idealen Figur können aufgrund der Besonderheiten des
Einzelfalles Abweichungen geboten sein, die das Ergebnis einer nicht
schematischen, sondern wertenden Betrachtung sind (vgl. Hess. VGH, Beschl. v.
17.12.1984 – 4 TG 2545/84 –, BRS 42 Nr. 77 [insoweit nicht abgedruckt]; Hess.
VGH, Beschl. v. 25.03.1987 –4 UE 40/87 –, BRS 47 Nr. 64). Diese Prüfung kann -
und wird auch häufig – dazu führen, dass an die Stelle einer kreisförmigen
Abgrenzung unter Berücksichtigung der die Umgebung prägenden Strukturen,
insbesondere der Grundstückszuschnitte, der Bebauung, Wegeerschließung und
Oberflächengestalt eine andere Abgrenzung, z. B. in Form von Grundstücksreihen,
Straßengevierten und dergleichen, gefunden wird (Hess. VGH, Beschl. v.
25.03.1987, a. a. O.).
Zu der das Baugrundstück prägenden näheren Umgebung gehört im Wesentlichen
die Bebauung beidseitig der Y. zwischen den Einmündungen R./Q. einerseits und
P./N. andererseits. Nicht in den maßgeblichen Bereich einzubeziehen ist hingegen
die Bebauung entlang dieser Seitenstraßen. Während es sich bei der Y. um den
zentralen Versorgungsbereich der Beigeladenen handelt, in der sich
Ladengeschäfte, Schank- und Speisewirtschaften sowie sonstige gewerbliche
Nutzungen aneinander reihen, ist die Bebauung entlang der R., der Q., der P. und
der N. wohnlich geprägt. Die hier befindlichen Häuser werden fast ausschließlich zu
Wohnzwecken genutzt. Gewerbliche Nutzung ist ebenfalls anzutreffen, jedoch nur
vereinzelt und dies vor allem im Einmündungsbereich zur Y. Insgesamt grenzt sich
die Nutzung in diesen Straßenzügen so deutlich von der auf der Y. ab, dass sie den
bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks nicht mehr beeinflusst. Dieser
wird allein durch die Bebauung entlang der Y. bestimmt. Andererseits hat das
Wettbüro der Klägerin auch keine Auswirkungen auf die in den Seitenstraßen
überwiegend vorhandene Wohnbebauung.
Die südlich der Y. liegende und von dort sichtbare Malzfabrik entfaltet ebenfalls
keine prägende Wirkung auf das Baugrundstück, da sie die einzige gewerbliche
Nutzung dieser Art ist und sich gegenüber der im Übrigen anzutreffenden Nutzung
als eine Ausnahme darstellt. Ob und inwieweit die Bebauung entlang der Y.
Richtung Osten jenseits der P und N. sowie der sich in westliche Richtung
anschließenden N. zur maßgeblichen näheren Umgebung zählt, kann letztendlich
dahingestellt bleiben. Während die N. zum Ortsausgang führt und neben
wohnlicher Nutzung auch Ladengeschäfte, ein Café und die Geschäftsstelle einer
41
42
43
44
wohnlicher Nutzung auch Ladengeschäfte, ein Café und die Geschäftsstelle einer
Versicherung aufweist, bildet die Y. den Ortskern mit den der Versorgung
dienenden gewerblichen Nutzungen. Insgesamt betrachtet trägt dieser Bereich
den Charakter eines Mischgebiets im Sinne von § 6 BauNVO.
Kennzeichen eines Mischgebiets nach § 6 Abs. 1 BauNVO ist das gleichberechtigte
nebeneinander von Wohnen und gewerblicher Nutzung, soweit sie das Wohnen
nicht wesentlich stört. Dabei ist das Verhältnis der Nutzungen zueinander weder
nach der Fläche noch nach Anteilen zu bestimmen. Beide Nutzungsarten müssen
jedoch quantitativ erkennbar vorhanden sein und keine der beiden
Hauptnutzungsarten darf optisch eindeutig dominieren (BVerwG, Urt. v.
28.04.1972 – 4 C 11.69 –, BVerwGE, 40, 94, 100; Fickert/Fieseler, BauNVO, 11.
Aufl., § 6 Rdnr. 1.1, 1.3 und 1.4).
Die maßgebliche nähere Umgebung weist vorliegend dieses gebotene
Mischungsverhältnis auf. Die Bebauung entlang der Y. ist geprägt durch das
gleichberechtigte Nebeneinander von Wohnen und nicht störender gewerblicher
Nutzung. Die dort befindlichen Gebäude sind überwiegend gemischt genutzt,
wobei in den Erdgeschossen kleinere Läden mit verschiedenen Sortimenten
(Schmuck, Bekleidung, Kosmetik, Lebensmittel), Schank- und Speisewirtschaften,
kleinere Gewerbebetriebe (Textilreinigung, Sonnenstudio), Arztpraxen und
Geschäftsräume untergebracht sind, während in den oberen Geschossen
Wohnnutzung anzutreffen ist. Auch in der sich anschließenden N. ist ein
Nebeneinander von wohnlicher und gewerblicher Nutzung zu beobachten, letztere
allerdings mit abnehmender Tendenz. Beide Hauptnutzungen sind erkennbar und
mit der für ein Mischgebiet gebotenen Durchmischung qualitativ und quantitativ in
der maßgeblichen näheren Umgebung vorhanden. Auch unter Berücksichtigung
der Gestaltungssatzung der Beigeladenen vom 21.06.1999 ergibt sich keine
andere Beurteilung, da sie dazu dient, das Ortsbild zu harmonisieren und
bauordnungsrechtliche Regeln nicht dazu führen können, die tatsächlich
vorhandene Nutzung bauplanungsrechtlich anders zu bewerten. Mit diesem
typischen Nebeneinander von Wohnnutzung und nicht störender gewerblicher
Nutzung grenzt sich die vorzufindende Bebauung von einem Kerngebiet nach § 7
BauNVO ab, das vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der
zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur dient und in
denen das Wohnen nur in eingeschränktem Umfang zulässig ist. Die Y. jenseits der
P / N mag aufgrund der dort anzutreffenden Einzelhandelsgeschäfte zwar eine
gewisse Tendenz zu dieser kerngebietstypischen Nutzung aufweisen, ist aber
aufgrund der anzutreffenden wohnlichen Nutzung nicht als solches zu qualifizieren.
In der somit als Mischgebiet zu qualifizierenden maßgeblichen näheren Umgebung
ist gem. § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO eine nicht kerngebietstypische
Vergnügungsstätte allgemein zulässig in den Teilen des Gebiets, die überwiegend
gewerblich geprägt sind. Kerngebietstypisch in Sinne von § 4a Abs. 3 Nr. 2
BauNVO sind solche Vergnügungsstätten, die nach ihrer Zweckbestimmung oder
ihrem Umfang nur in einem Kerngebiet allgemein zulässig sind. Nach Auffassung
des erkennenden Gerichts ist der in der Rechtsprechung entwickelte Schwellenwert
von etwa 100 m² Nutzfläche für die Abgrenzung einer kerngebietstypischen
Vergnügungsstätte bei Spielhallen wegen der Vergleichbarkeit auch in Bezug auf
ein Wettbüro anwendbar (so auch VG Neustadt, Urt. v. 12.08.2010, – 4 K
272/10.NW –, Juris). Bei einer Spielhalle von einer Nutzfläche bis zu 100 m² handelt
es sich regelmäßig um eine Vergnügungsstätte mittlerer Größe, deren
Auswirkungen grundsätzlich noch als mischgebietsverträglich anzusehen sind (vgl.
BVerwG, Urt. v. 20.08.1992, - 4 C 54/89, NVwZ-RR 1993, 65; VGH BW, Urt. vom
02.11.2006, – 8 S 1891/05 –, Juris). Diesen Schwellenwert erreicht das
Sportwettbüro der Klägerin mit einer Nutzfläche von zirka 88 m² nicht. Andere
Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen könnten, dass es einen größeren
Einzugsbereich besitzt und für ein größeres Publikum erreichbar sein soll, sind
nicht ersichtlich.
Die somit nicht kerngebietstypische Vergnügungsstätte der Klägerin wird auch in
einem Gebietsteil betrieben, der überwiegend durch gewerbliche Nutzung geprägt
ist. Diese Beurteilung erfordert eine wertende Gesamtbetrachtung unter
Einbeziehung aller gebietsprägenden Faktoren und erschöpft sich nicht in einer
rein rechnerischeren (quantitativen) Betrachtungsweise. Dabei kann auch von
Bedeutung sein, in welchem Maße die Erdgeschossebene gewerblich genutzt ist
und inwieweit die gewerbliche Nutzung bis in die Obergeschosse reicht (BVerwG,
Beschl. v. 07.02.1994, – 4 B 179/93 –, Juris und Beschl. v. 13.06.2005, – 4 B 36/05
–, BauR 2005, 1886). Dabei fallen unter gewerbliche Nutzung alle Nutzungen, die
45
46
47
48
–, BauR 2005, 1886). Dabei fallen unter gewerbliche Nutzung alle Nutzungen, die
städtebaurechtlich dem Oberbegriff Gewerbebetrieb unterfallen (vgl.
Fickert/Fieseler, BauNVO, 11. Aufl., § 6 Rdnr. 16.22), mithin auch der Einzelhandel.
Vorliegend ist der insoweit zu beurteilende Gebietsteil der Bereich beidseitig der Y.
zwischen den Einmündungen der P./N. einerseits und der R./Q. andererseits.
Dieser Gebietsteil stellt sich als überwiegend durch gewerbliche Nutzung geprägt
dar. Bis auf die bauliche Anlage zwischen Y. 5 und 11, die abweichend von den
übrigen Gebäuden optisch lediglich 1,5-Geschosse aufweist und offenbar
ausschließlich wohnlich genutzt wird, werden die in diesem Bereich vorzufindenden
Gebäude gemischt genutzt. Insbesondere befindet sich in diesem
Straßenabschnitt ein verhältnismäßig großes Angebot von Schank- und
Speisewirtschaften, aber auch das Sonnenstudio, ein Drogerie-Markt und weitere
kleinere Ladengeschäfte. In dem Eckgebäude Y. 16 ist im Erdgeschoss ein
Bekleidungsgeschäft untergebracht. In den oberen Geschossen haben sich ein
Arzt und ein Heilpraktiker niedergelassen. Während die gewerbliche Nutzung
regelmäßig in den Erdgeschossen anzutreffen ist, befinden sich die Wohnungen in
den oberen Stockwerken. Lediglich in der Y. 6 ist die Geschäftsstelle einer
Krankenkasse im ersten Obergeschoss untergebracht, während das Erdgeschoss
zu Wohnzwecken genutzt wird. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass die
Umgebungsbebauung des Wettbüros der Klägerin vor allem durch die überwiegend
gewerbliche Nutzung in den Erdgeschossen geprägt wird und demgegenüber die in
den Obergeschossen anzutreffende Wohnnutzung optisch zurücktritt.
Damit ist das Sportwettbüro der Klägerin als Vergnügungsstätte in dem faktisch
anzutreffenden Mischgebiet nach § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO allgemein zulässig. Das
Vorhaben erweist sich auch nicht nach § 15 Abs. 1 BauNVO als rücksichtslos. Nach
dieser Vorschrift können allgemein zulässige Anlagen im Einzelfall unzulässig sein,
wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des
Baugebiets widersprechen. Sie sind auch dann unzulässig, wenn von ihnen
Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nicht zumutbar sind. Dass
von dem Sportwettbüro der Klägerin Störungen, insbesondere Lärmimmissionen
ausgehen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die von der Beigeladenen
erwähnten Nachbarbeschwerden beziehen sich nach deren eigenen Einlassung auf
die gewerbliche Nutzung in diesem Gebiet insgesamt, insbesondere in den
Abendstunden. Nach der Betriebsbeschreibung der Klägerin (Bl. 4 und 5 der
Behördenakte B/3 706/09/E, Band 2) ist das Wettbüro Montag bis Freitag von
12:00 bis 21:00 Uhr und Samstag und Sonntag von 11:00 bis 20:00 Uhr geöffnet.
Damit kann nicht davon ausgegangen werden, dass von dem Betrieb des
Wettbüros Störungen ausgehen, die Anlass der Nachbarbeschwerden waren.
Auch ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nach § 15 Abs. 1 Satz 1
BauNVO ist vorliegend nicht erkennbar. Insbesondere ein sogenannter „Trading-
Down-Effekt“ bei der Zulassung des Wettbüros der Klägerin lässt sich nicht
feststellen. Ein Trading-Down-Effekt ist dann zu befürchten, wenn durch eine
konzentrierte Ansiedlung von Vergnügungsbetrieben in einem Baugebiet dessen
Attraktivität für andere Gewerbetriebe einerseits gemindert, andererseits aber
auch ein Verdrängungsprozess zum Nachteil des herkömmlichen Gewerbes
letztendlich dadurch eingeleitet wird, dass Vergnügungsbetriebe aufgrund ihrer
vergleichsweise höheren Ertragsmöglichkeit bei geringem Investitionsaufwand in
der Lage sind, höhere Pachten zu zahlen und so die Immobilienpreise in einer
Weise steigen, dass eine Betriebsansiedlung anderer Gewerbe auf Dauer nicht
lohnend ist (VG Neustadt, Urt. v. 12.08.2010, – 4 K 272/10.NW – m.w.N., Juris).
Dass der in zwei Gebäuden zu verzeichnende Ladenleerstand auf den Betrieb des
Sportwettbüros der Klägerin zurückzuführen ist, ist weder dargelegt noch
ersichtlich. In dem Bereich beidseitig der Y. zwischen den Einmündungen R./Q.
einerseits und P./N. andererseits ist das Sportwettbüro der Klägerin die einzige
Vergnügungsstätte. Weitere Vergnügungsbetriebe sind dort nicht angesiedelt. Eine
Verfestigung der Nutzungsart „Vergnügungsstätte“ oder gar eine Verdrängung
der im Übrigen zugelassenen Nutzungen in der näheren Umgebung des Wettbüros
steht daher derzeit nicht zu erwarten (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 25.08.2008 – 3
UZ 2566/07 –, NVwZ-RR 2009, 143).
Aus bauplanungsrechtlicher Sicht steht daher der Zulässigkeit des Sportwettbüros
nichts entgegen. Da sonstige Vorschriften im vorliegenden vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen waren, insbesondere wegen der
Baugenehmigung auch keine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen
Vorschriften entfällt oder ersetzt wird, ist die beantragte Nutzungsänderung von
einem Ladengeschäft in eine Vergnügungsstätte zur Vermittlung von Sportwetten
49
50
51
52
53
54
einem Ladengeschäft in eine Vergnügungsstätte zur Vermittlung von Sportwetten
zu erteilen.
Als unterlegener Beteiligter hat der Beklagte gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten
des Verfahrens zu tragen. Es entspricht indes nicht der Billigkeit, ihn auch mit den
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu belasten (§ 162 Abs. 3 VwGO), da
diese keinen Antrag gestellt und folglich am Kostenrisiko nicht teilgenommen hat
(§ 154 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m.
§§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Beschluss
Der Streitwert wird endgültig auf 52.800 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 GKG. Zur Bewertung des
Interesses der Klägerin an der geplanten Nutzungsänderung ist das Gericht von
Nr. 9.1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 07./08. Juli
2004 (NVwZ 1996, 562) ausgegangen. Danach ist für Klagen auf Erteilung einer
Baugenehmigung für eine Spielhalle ein Betrag von 600 €/qm Nutzfläche (ohne
Nebenräume) auszugehen. Bei einer Nutzfläche von 88 m² ergibt dies den Betrag
von 52.800 Euro.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.