Urteil des VG Braunschweig vom 20.08.2013

VG Braunschweig: vep, körperliche unversehrtheit, verwaltungsverfahren, unzumutbarkeit, anwohner, durchgangsverkehr, umbau, kreuzung, werktag, einwirkung

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Verkehrsbehördliche Anordnung zum Schutz vor
Lärm und Abgasen
1. Bei der Anwendung des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO ist zu unterscheiden
zwischen der Tatbestandsvoraussetzung der unzumutbaren
Beeinträchtigung der Wohnbevölkerung durch Lärm und Abgase und der
Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens der Behörde bei der
Entscheidung, ob aufgrund der festgestellten Unzumutbarkeit ein
Tätigwerden geboten ist und durch welche Maßnahmen ggfs. eine
Minderung von Lärm und Abgasen erfolgen soll.
2. Die Lärm-Richtwerte der Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche
Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm vom 23.11.2007 bieten
Orientierungspunkte für Feststellungen zur Grenze der zumutbaren
Lärmbelastung.
3. Gibt es Anhaltspunkte für eine nicht unerhebliche Einwirkung von Lärm
und Abgasen, so hat die Behörde einem Antrag auf Schutzmaßnahmen
durch Ermittlungen zum konkreten Umfang der Beeinträchtigungen
nachzugehen. Wenn die Behörde dies unterlassen hat, kann das
Verwaltungsgericht berechtigt sein, von eigenen Ermittlungen abzusehen
und die Behörde stattdessen zu verpflichten, über den Antrag auf
Schutzmaßnahmen (neu) zu entscheiden.
4. Die Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 StVO sind erfüllt, wenn eine
Beeinträchtigung der Wohnbevölkerung durch Lärm und Abgase nach dem
Ergebnis der gem. § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO gebotenen Abwägung
unzumutbar ist und verkehrsregelnde Maßnahmen von der Behörde im
Rahmen ihrer Ermessensentscheidung für notwendig gehalten werden.
VG Braunschweig 6. Kammer, Urteil vom 20.08.2013, 6 A 220/11
§ 45 Abs 1 S 2 Nr 3 StVO, § 45 Abs 9 StVO, § 113 Abs 5 VwGO
Tatbestand
Der Kläger möchte eine Minderung von Verkehrslärm und Abgasen im E. in
Gifhorn erreichen.
Er ist Eigentümer des unmittelbar an die Straße grenzenden Grundstücks E.
47, auf dem er mit seiner Ehefrau in einem Einfamilienhaus wohnt.
Der östliche Teil des E. liegt teilweise im Geltungsbereich des
Bebauungsplans Nr. H. „I.“ der Beklagten vom 18.08.1977, der für das
Grundstück des Klägers ein „Reines Wohngebiet“ („WR“ nach § 3 BauNVO)
festsetzt. Südlich des E. erstreckt sich das Baugebiet „J.“, das ebenfalls
verschiedene Flächen als „Reines Wohngebiet“ ausweist, im Bereich des
klägerischen Grundstücks aber nicht an den E. heranreicht. Dort sind
außerhalb des Plangebiets Einfamilienhäuser errichtet worden.
Der E. ist nach dem Verkehrsentwicklungsplan (VEP) 2002 der Beklagten (v.
Dez. 2002, erstellt von der Ingenieurgemeinschaft K., L.) eine
„verkehrswichtige innerörtliche Straße“. Er stellt auf seiner gesamten Länge
von der M. bis zum G. eine Ost-West-Verbindung dar. Die Verkehrsbelastung
betrug nach den Verkehrszählungen 1998 bis 2002 zum VEP 2002 im
östlichen Teil des E. 4.000 bis 4.300 Kfz/Werktag. Prognostiziert wurden
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damals für 2015 4.600 Kfz/Werktag („Netzfall 2“). Nach einer Verkehrszählung
vom 07. bis 14.11.2012 ergaben sich für den gesamten E. täglich
durchschnittlich 3.502 Fahrzeuge (Durchschnittliche Tägliche Verkehrsstärke,
DTV).
Der Kläger beklagt seit vielen Jahren einen starken Durchgangsverkehr auf
dem E., der mit dessen Funktion als Erschließungsstraße eines ruhigen
Wohngebiets nicht zu vereinbaren sei. Das OVG Lüneburg wies mit einem
Beschluss vom 23.11.1981 eine Beschwerde gegen einen Beschluss des
erkennenden Gerichts zurück (12 OVG B 136/81). Der Kläger wollte den E. im
Wege der einstweiligen Anordnung für den Durchgangsverkehr sperren
lassen. Die Beklagte trägt im vorliegenden Verfahren vor, die
Verkehrsberuhigung im E. beschäftige sie seit 1979 immer mal wieder.
Der Kläger trug sein Anliegen zuletzt u. a. in einem Schreiben vom 03.12.2009
an den Fraktionsvorsitzenden der SPD im Rat der Beklagten vor, welches
dieser an den Fachbereich Planung und Bauordnung der Beklagten
weiterleitete. Er bat darum, geeignete Maßnahmen gegen das seiner Ansicht
nach hohe und extrem störende Verkehrsaufkommen zu treffen.
Mit Schreiben vom 18.01.2010 verwies die Beklagte auf die Entlastung des E.
durch den Bau der N., welche die Funktion einer Stadtquerung in West-Ost-
Richtung habe. Außerdem sei eine Verkehrsberuhigung durch die
Beschränkung auf Tempo 30, die Abmarkierung von straßenbegleitenden
Stellplätzen und eines 1 m breiten Radweges sowie den Umbau der Kreuzung
E. /F. erfolgt. Weitere Maßnahmen lehnte die Beklagte ab, weil eine
Rechtsverletzung des Klägers durch eine gestiegene Verkehrsbelastung nicht
ersichtlich sei. Er habe keinen Abwehranspruch. In gleicher Weise äußerte
sich die Beklagte in Schreiben vom 15.06.2010, 02.08.2010 und 08.08.2011,
wobei sie in letztgenanntem Schreiben hervorhob, keinen rechtsmittelfähigen
Bescheid erlassen zu haben. Der Kläger hatte zuvor gegen das Schreiben
vom 02.08.2010 „Widerspruch“ erhoben.
Der Kläger hat am 31.08.2011 Klage erhoben. Wie im Verwaltungsverfahren
verweist er auf eine für ein „Reines Wohngebiet“ viel zu hohe
Verkehrsbelastung. Die Beklagte müsse seinem Schutzanspruch als
Bewohner eines solchen, auf Ruhe ausgelegten Wohngebiets durch
verkehrliche Maßnahmen gerecht werden. Die bisher ergriffenen Schritte wie
Umgestaltung der Kreuzung, Abmarkierungen und Tempo 30 hätten nicht zu
dem gewünschten Ergebnis geführt. Die zulässigen Dezibelwerte seien
überschritten.
Der Kläger verweist u. a. auf Ausführungen in dem Zwischenbericht zum
Verkehrsentwicklungsplan der Beklagten vom Mai 1993
(Ingenieurgemeinschaft K., L.). Darin sei in der „Problemanalyse zum
vorhandenen Verkehrsnetz“ verwiesen worden auf „Unverträglichkeiten mit
Durchgangsverkehrsströmen und gleichzeitig auftretenden relativ hohen
Geschwindigkeiten“, bezogen auf das Wohnumfeld, so auch im E. (S. 13).
Bei der Entwicklung einer Planungsstrategie zur Erstellung eines integrierten
Maßnahmenkonzeptes müssten gezielte Maßnahmen zur flächenhaften
Verkehrsberuhigung der Wohnquartiere ergriffen werden (S. 17). Eine in das
erste Planungskonzept aufgenommene Maßnahme war die stärkere
Verkehrsberuhigung des E. (S. 19).
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts über geeignete Maßnahmen (z. B. durch Zeichen 220
und 267 - Einbahnstraße -) zur Minderung des Verkehrslärms und der
Abgase auf dem E. (Einmündung F. bis G.) zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bleibt bei ihrer Rechtsauffassung, der Kläger habe keinen Anspruch auf
weitere Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung. Bei einer Umleitung der
Verkehrsströme würden andere Anwohner belastet. Feste Vorgaben für
Lärmimmissionen gebe es für vorhandene Straßen nicht. Dezibelgrenzwerte
bestünden nur für die Errichtung von Baugebieten und Straßen sowie für den
Umbau von Straßen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch eine Inaugenscheinnahme der
Örtlichkeiten seitens des Berichterstatters. Zu dem Ergebnis der
Beweisaufnahme wird auf das Protokoll des Erörterungstermins vom
10.04.2013 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die
Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Es handelt sich um eine Verpflichtungsklage auf Verurteilung zum Erlass eines
unterlassenen Verwaltungsakts (§ 42 Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat mehrfach,
auch in den letzten Jahren, weitere Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung
beantragt. Zuletzt hat er mit seinem „Widerspruchs“-Schreiben vom 15.07.2011
ein Tätigwerden der Beklagten verlangt. Diese verwies mit Schreiben vom
08.08.2011 darauf, ein förmliches Verwaltungsverfahren habe nicht
stattgefunden. Sie habe nur formlose Behördenauskünfte erteilt. Die Schreiben
des Klägers u. a. vom 03.12.2009, 07.05.2010, 30.06.2010 und 15.07.011
hatten das Ziel, eine Entscheidung der Beklagten über verkehrliche
Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 sowie Abs. 9 StVO
herbeizuführen. Mit diesem Anliegen hat sich die Beklagte befasst und damit
ein Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG betrieben. Sie hat jedoch
keine Entscheidung durch Verwaltungsakt getroffen. Da ein
Widerspruchsverfahren nach § 8a Abs. 1 und 2 Nds. AG VwGO bei
straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen nicht vorgesehen ist, konnte der
Kläger wegen des von der Beklagten unterlassenen Verwaltungsakts
unmittelbar Klage nach § 42 Abs. 1 VwGO erheben.
Dem Kläger steht eine Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO zur Seite. Er
muss danach geltend machen, durch unterbliebene Maßnahmen zur
Verkehrsberuhigung in seinen Rechten verletzt zu sein.
Verkehrsbeschränkende Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 StVO sind
grundsätzlich auf den Schutz der Allgemeinheit und nicht auf die Wahrung der
Interessen Einzelner gerichtet. Der Einzelne hat aber einen Anspruch auf ein
verkehrsregelndes Einschreiten, in der Regel in Form eines Anspruchs auf
eine ermessensfehlerfreie Entscheidung, wenn die Verletzung geschützter
Individualinteressen in Betracht kommt (BVerwG, Urt. v. 04.06.1986 – 7 C
76.84 –, BVerwGE 74, 234; Nds. OVG, Beschl. v. 26.08.2002 – 12 LA 522/02
–, juris Rn. 7, VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.01.2009 – 5 S 149/08 –, juris
Rn. 38; VG Braunschweig, Beschl. v. 20.09.2005 – 6 B 411/05 -). Als solche
kommen hinsichtlich des Schutzes der Wohnbevölkerung vor Lärm und
Abgasen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO jedenfalls die Grundrechte der
körperlichen Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG und des Eigentumsschutzes in
Art. 14 GG in Betracht, aber auch im Vorfeld der Grundrechte billigerweise
nicht mehr zumutbare Verkehrseinwirkungen (BVerwG, Urt. v. 04.06.1986, a.
a. O.). Der Kläger kann sich daher mit Erfolg darauf berufen, aufgrund einer zu
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hohen Lärm- und Abgasbelastung unzumutbar beeinträchtigt und womöglich
in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) verletzt zu
sein. Auch hat er im Verwaltungsverfahren eine Wertminderung seines
Grundstücks geltend gemacht und sich damit auf Art. 14 GG berufen.
Die Klage ist begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Entscheidung über seinen Antrag auf
verkehrsberuhigende straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen.
Rechtlich ist von folgenden Voraussetzungen auszugehen:
Nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die
Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der
Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränken oder verbieten oder
den Verkehr umleiten. Die Vorschrift gibt dem Einzelnen einen Anspruch auf
eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein straßenverkehrsrechtliches
Einschreiten, wenn Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen,
die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des
Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet
werden muss (BVerwG Urt. v. 04.06.1986 – 7 C 76.84 -; BVerwGE 74, 234).
Zu unterscheiden ist danach die Tatbestandsvoraussetzung der
unzumutbaren Beeinträchtigung der Anwohner durch Lärm und/oder Abgase
von der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens der Behörde bei der
Entscheidung, ob aufgrund der festgestellten Unzumutbarkeit ein Tätigwerden
geboten ist und durch welche Maßnahmen ggfs. eine Minderung von Lärm
und Abgasen erfolgen soll.
Dabei bestimmt kein bestimmter Schallpegel oder Abgaswert die Grenze der
Zumutbarkeit. Abzustellen ist vielmehr auf die gebietsbezogene
Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Anlieger sowie auf
eine eventuell gegebene Vorbelastung. Ferner sind die Belange des
Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer zu würdigen. Die Behörde hat
auch zu berücksichtigen, wenn die betroffene Straße funktionswidrig in
Anspruch genommen wird, wenn sie also beispielsweise entgegen ihrer
eigentlichen Funktion zunehmend von überörtlichem Verkehr als
„Schleichweg“ genutzt wird und damit Lärm auslöst, der von den Anwohnern
einer Straße dieser Art üblicherweise nicht hingenommen werden muss (vgl.
BVerwG, Urt. v. 04.06.1986, a. a. O.; VG Braunschweig, Urt. v. 11.04.1999 - 6
A 112/99 -, juris; Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Aufl., Rn. 695). Schließlich
sind die Interessen anderer Anlieger, die durch lärm- oder abgasreduzierende
Maßnahmen ihrerseits übermäßig durch Lärm oder Abgase beeinträchtigt
würden, in Rechnung zu stellen. Dabei darf die Behörde in Wahrung
allgemeiner Verkehrsrücksichten und sonstiger entgegenstehender Belange
von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen umso eher absehen, je geringer
der Grad der Lärm- oder Abgasbeeinträchtigung ist, der entgegengewirkt
werden soll. Umgekehrt müssen bei erheblichen Lärm- oder
Abgasbeeinträchtigungen die verkehrsberuhigenden oder verkehrslenkenden
Maßnahmen entgegenstehenden Verkehrsbedürfnisse und Anliegerinteressen
schon von einigem Gewicht sein, wenn mit Rücksicht auf diese Belange ein
Handeln der Behörde unterbleibt. Die zuständige Behörde darf jedoch selbst
bei erheblichen Lärm- oder Abgasbeeinträchtigungen von
verkehrsbeschränkenden Maßnahmen absehen, wenn ihr dies mit Rücksicht
auf die damit verbundenen Nachteile gerechtfertigt erscheint (vgl. BVerwG, Urt.
v. 04.06.1986, a. a. O.; sowie Urt. v. 22.12.1993 – 11 C 45.92 -, NZV 1994,
244; Beschl. v. 18.10.1999 - 3 B 105.99 -, NZV 2000, 386).
Die Grenze der zumutbaren Lärmbelastung ist - anders als im Straßenrecht -
nicht durch auf Rechtsetzung beruhende Grenzwerte festgelegt. Die Lärm-
Richtwerte der Nr. 2.1 der Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche
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Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-
StV v. 23.11.2007, VkBl. 2007, 767) bilden hierfür jedoch Orientierungspunkte.
Sie sind ausdrücklich für Entscheidungen u. a. nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3
StVO bekannt gegeben worden. Das grundlegende Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 04.06.1986 (a. a. O.) zog bereits die
Richtwerte der damals maßgebenden „Vorläufigen Richtlinien“ zum
Lärmschutz als Orientierungspunkte heran (so auch das Nds. OVG im
Beschluss vom 26.08.2002, a. a. O., juris Rn. 9, und die erkennende Kammer
in dem Beschluss vom 20.09.2005 - 6 B 411/05 -).
Die Richtlinien sehen in Nr. 2.1 für Reine Wohngebiete einen
Beurteilungspegel tags (06.00 bis 22.00 Uhr) von 70 dB(A) und nachts (22.00
bis 06.00 Uhr) von 60 dB(A) vor. Der Beurteilungspegel ist nach Nr. 2.2 der
Richtlinien nach den RLS-90 (Richtlinien für den Lärmschutz an Straßen –
Ausgabe 1990) zu berechnen. Dabei sind u. a. nach den Ergebnissen von
Verkehrszählungen die Verkehrsstärke und der LKW-Anteil sowie die
zulässige Höchstgeschwindigkeit und die Art der Straßenoberfläche zu
berücksichtigen (Nr. 4.0 der RLS-90). Der Beurteilungspegel stellt einen
Mittelungspegel dar, der nicht einzelnen Maximalpegeln entspricht (wie den
Werten in der „Lärmskala“, die dem klägerischen Schriftsatz vom 12.07.2013
beigefügt war).
Eine Unterschreitung der Richtwerte der Richtlinien ist ein Indiz dafür, dass die
Lärmbelastung auch die Zumutbarkeitsschwelle in straßenverkehrsrechtlicher
Hinsicht nicht erreicht. Umgekehrt kommt bei einer Überschreitung der
Richtwerte eine Überschreitung der straßenverkehrsrechtlichen
Zumutbarkeitsschwelle in Betracht, die dann zur Ermessensausübung
verpflichtet (VGH München, Urt. v. 21.03.2012, a. a. O. zu den - niedrigeren -
Grenzwerten der Verkehrslärmschutzverordnung, 16. BImSchV).
Anknüpfend an die Rechtsprechung des BVerwG (u. a. Urteile vom
04.06.1986, 22.12.1993, 18.10.1999, a. a. O.) weist die Richtlinie zutreffend
darauf hin, dass die Straßenverkehrsbehörde bei ihrer rechtlichen Würdigung
alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, Vor- und Nachteile
abzuwägen und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden
hat (Nr. 1.3). Neben den schon erwähnten Gesichtspunkten können die
unterschiedlichen Funktionen der betroffenen Straßen, die Leichtigkeit der
Realisierung von Maßnahmen, eventuelle Einflüsse auf die Verkehrssicherheit,
der Energieverbrauch von Fahrzeugen, die Versorgung der Bevölkerung
sowie die allgemeine Freizügigkeit des Verkehrs einbezogen werden.
Straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen sind nach der Richtlinie als Mittel der
Lärmbekämpfung dort auszuscheiden, wo sie die Verhältnisse nur um den
Preis neuer Unzulänglichkeiten an anderer Stelle verbessern könnten und im
Ergebnis zu einer verschlechterten Gesamtbilanz führen, etwa weil sie die
Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs in nicht hinnehmbarer Weise
beeinträchtigen oder im Hinblick auf eintretende Änderungen von
Verkehrsströmen noch gravierendere Lärmbeeinträchtigungen von Anliegern
anderer Straßen zur Folge haben (Nr. 1.3). Als mögliche Maßnahmen
berücksichtigt die Richtlinie Verkehrslenkung, Lichtzeichenregelungen,
Geschwindigkeitsbeschränkungen und Verkehrsverbote (Nr. 3.)
Insofern ist auch § 45 Abs. 9 StVO zu beachten, der tatbestandliche
Voraussetzungen für die Anordnung von Verkehrszeichen und
Verkehrseinrichtungen enthält (VG Braunschweig, Beschl. v. 18.07.2006 – 6 A
389/04 -). Danach ist eine Anordnung nur zulässig, wenn sie auf Grund der
besonderen Umstände zwingend geboten ist (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO) und
bei Beschränkungen und Verboten des fließenden Verkehrs aufgrund der
besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das
allgemeine Risiko einer z. B. gesundheitlichen Beeinträchtigung erheblich
übersteigt (§ 45 Abs. 9 Satz 2 StVO). Diese Voraussetzungen sind indes
erfüllt, wenn eine Beeinträchtigung der Wohnbevölkerung mit Lärm und
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Abgasen nach dem Ergebnis der gebotenen Abwägung unzumutbar ist und
verkehrsregelnde Maßnahmen von der Behörde im Rahmen ihrer
Ermessensentscheidung für notwendig gehalten werden.
Die Beklagte hat vorliegend nach Abschluss der bisherigen Schritte zur
Verkehrsberuhigung wie der Verengung des Kreuzungsbereichs E. /F., der
Einrichtung der Tempo-30-Zone sowie der Fahrbahnmarkierungen von
Radweg und Stellplätzen keine Entscheidung über weitere Maßnahmen
getroffen, obwohl der Kläger dies beantragt hatte und gewichtige Indizien für
eine mögliche „Unzumutbarkeit“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung
sprachen. Sie war verpflichtet, dem Antrag durch eigene Ermittlungen
nachzugehen.
Denn ausgehend von der hohen Schutzwürdigkeit des Reinen Wohngebiets I.
gab es Anhaltspunkte für eine nicht unerhebliche Einwirkung von Lärm und
Abgasen etwa aufgrund der Auswertung der Verkehrszählung im E. vom 07.
bis 14.11.2012 (Mo – So jew. 60 Min), die weiterhin eine beträchtliche
Verkehrsbelastung ergab. Insgesamt wurden 24.517 Fahrzeuge gezählt, etwa
gleich viel aus beiden Richtungen (6 – 22 Uhr: 22.909, d. h. 204/Std. Mo – So).
Aus den Zahlen ist eine DTV von 3.502 Kfz. herzuleiten. 15,3 Prozent der
Fahrzeuge fuhren in der auf 30 km/h beschränkten Straße überdies schneller
als 50 km/h. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lag aus Richtung Osten bei 39
km/h und aus Richtung Westen bei 45 km/h. Damit hat die Verkehrsstärke auf
der Grundlage einer DTV von 3.502 Kfz (Wochendurchschnitt) nicht
nennenswert gegenüber den Verkehrszählungen zum VEP 2002 mit 4.000 bis
4.300 Kfz werktags (s. o.) nachgelassen.
Der E. wird außerdem im VEP 2002 als verkehrswichtige innerörtliche Straße
eingestuft. Diese Bedeutung kommt der Straße nach den Angaben der
Beklagten heute weiterhin zu. Nach ihrer Funktion im Straßennetz der
Beklagten stellt sie eine wichtige West-Ost-Achse dar, die nicht zuletzt einen
beträchtlichen Teil des Verkehrs von und nach Wolfsburg aufnimmt und
insofern neben die südlich gelegene Hauptverkehrsstraße N. tritt. Die heutige
Verkehrsstärke von ca. 3.500 Kfz liegt zwar unter derjenigen der
Hauptverkehrsstraßen, die rd. 10.000 Fahrzeuge (N. nach Analysebelastung
VEP 2002) bzw. noch erheblich mehr (wie K 114, B4 und B 188 u. andere)
aufnehmen. Die übliche Verkehrsbelastung einer Erschließungsstraße in
einem Wohngebiet wird aber jedenfalls deutlich überschritten, selbst wenn in
Rechnung gestellt wird, dass der E. im Bereich des klägerischen Grundstücks
auch den Verkehr kleinerer Straßen der angrenzenden Wohngebiete
aufnehmen muss (O., J., P., Q.). Für die F. wurden im VEP 2002 aber
beispielsweise nördlich der Einmündung E. nur 1500 Kfz festgestellt.
Darüber hinaus wurde die Beklagte auf das Problem eines die Wohnruhe
belastenden Durchgangsverkehrs nicht nur durch den vom Kläger zitierten
Zwischenbericht der Ingenieurgemeinschaft K. zum Verkehrsentwicklungsplan
(VEP) schon von Mai 1993 aufmerksam. Hinweise auf einen störenden
Durchgangs- und Schleichverkehr im E. gab es auch im VEP 2002 selbst (BA
B, dort S. 9). Für den Netzfall 2 wurden geschwindigkeitsdämpfende
Maßnahmen im E. empfohlen (S. 32). Ein grundsätzliches Ziel der Planungen
für das Straßennetz der Stadt Gifhorn sei die Bündelung des Kfz-Verkehrs auf
die Hauptverkehrsstraßen und eine Verlagerung des starken Durchgangs- und
Schleichverkehrs auf den äußeren Tangentenring bzw. die Ortsumgehung (S.
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Die aufgrund der Empfehlungen des Zwischenberichts und des VEP
durchgeführten verkehrsberuhigenden Maßnahmen im E. haben nicht zu einer
nennenswerten Entlastung des E. geführt.
Notwendige Ermittlungen zum konkreten Umfang einer Belastung der
„Wohnbevölkerung“, also des Klägers und seiner Nachbarn, mit Lärm und
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Abgasen sind noch nicht erfolgt, weshalb die Beklagte eine Entscheidung
derzeit auch nicht auf einer verlässlichen Tatsachengrundlage treffen könnte.
Eine Berechnung der Beurteilungspegel nach den Lärmschutz-Richtlinien-StV
ist ein erster Schritt zu einer qualifizierten Entscheidung.
Es liegen auch keine Erhebungen darüber vor, in welcher Weise Anwohner
anderer Straßen unzumutbar mit Lärm und Abgasen belastet würden oder
etwa die Aufnahmekapazität anderer Straßen überschritten würde, wenn der
Durchgangsverkehr aus dem E. genommen würde. Die Beklagte kann mithin
auch nicht sachgerecht entscheiden, ob sie wegen einer nicht hinnehmbaren
Verlagerung der Verkehrsströme weitere Maßnahmen im E. ablehnt.
Die Kammer verpflichtet die Beklagte zu einer Entscheidung über den Antrag
des Klägers und sieht von weiteren eigenen Ermittlungen ab. Grundsätzlich ist
das Gericht gem. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO verpflichtet, im Interesse eines
effektiven Rechtsschutzes den Sachverhalt umfassend zu ermitteln und die
Sache „spruchreif“ zu machen. Ausnahmsweise kann davon abgesehen
werden, wenn es sich etwa um komplexe Abwägungen oder schwierige
technische Sachverhalte handelt, die Entscheidung (auch) von
Zweckmäßigkeitserwägungen bei der Wahl mehrerer in Betracht kommender
Varianten abhängt (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 25.11.1997 – 4 B 179/97 –,
juris Rn. 3 zu Auflagen einer Baugenehmigung) oder der Behörde die
besseren Aufklärungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (vgl. dazu BVerwG,
Urt. v. 20.02.1992 – 3 C 51.88 –, NVwZ-RR 1993, 69) und dem Kläger nur ein
geringer oder kein Zeitverlust entsteht (s. zusammenfassend Kopp/Schenke,
VwGO, Komm., 19. Aufl., § 113 Rn. 198; Stuhlfauth in Bader, VwGO, Komm.,
5. Aufl., § 113 Rn. 101). Hier liegt der Abwägung und Entscheidung nach § 45
Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO nicht nur – wie aufgezeigt – ein ausgesprochen
komplexer Sachverhalt zugrunde. Die verschiedenen Aspekte der
Verkehrsplanung und Immissionsbelastung sind technisch auch so
anspruchsvoll, dass das Gericht auf die Stellungnahmen verschiedener
Sachverständiger und Behördenauskünfte angewiesen wäre. Nach Vorliegen
sämtlicher entscheidungserheblicher Tatsachen müsste das Gericht in einer
komplexen Abwägung die Zumutbarkeit der Lärm- und Abgasbelastung
bewerten und dabei eine Festlegung treffen, die im Rahmen der
Gewaltenteilung vorrangig der Verwaltung zugewiesen ist und
vernünftigerweise die sachnähere Behörde übernehmen sollte. Dies entspricht
hier den unterschiedlichen Funktionen von Behörden und
Verwaltungsgerichten, die behördliche Entscheidungen (nur) überprüfen und
nicht selbst treffen sollen. Die bei Überschreiten der Zumutbarkeitsgrenze
anstehende Ermessensentscheidung müsste die Kammer ferner ohnehin der
Beklagten überlassen. Das Recht des Klägers auf einen effektiven
Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG wird nicht beeinträchtigt, weil für ihn ein
Zeitverlust nicht zu erwarten ist. Dass nach Abschluss weiterer gerichtlicher
Ermittlungen eine Verpflichtung der Beklagten zu einer konkreten
verkehrlichen Maßnahme aufgrund einer „Ermessensreduzierung auf Null“ in
Betracht kommt, weil sich alle anderen Maßnahmen als rechtswidrig erweisen,
ist gegenwärtig nicht absehbar.