Urteil des VG Berlin vom 02.04.2017
VG Berlin: besondere härte, elterliche sorge, rat der europäischen union, europäisches sorgerechtsübereinkommen, aufenthaltserlaubnis, verordnung, serbien, visum, vollstreckung, ausbildung
1
2
3
4
5
6
Gericht:
VG Berlin 2. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
2 V 63.07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 32 Abs 3 AufenthG, Art 21
BGBEG, § 20 Abs 4 Nr 2 AuslG
Aufenthaltsrecht: Visum zum Familiennachzug zum in
Deutschland lebenden Vater bei (teilweiser) Übertragung des
Sorgerechts
Tenor
Soweit der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt
haben, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte mit
Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn
nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von
110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Berufung und die Sprungrevision werden zugelassen.
Tatbestand
Der am 22. April 1993 geborene Kläger, ein serbischer Staatsangehöriger, begehrt die
Erteilung eines Visums zum Zwecke des Kindernachzuges. Er ist der nichteheliche Sohn
des H. C. und der N. M. Der Vater des Klägers lebt seit dem Jahre 1993 in Deutschland.
Ihm wurde im Jahre 2001 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Der Kläger beantragte im April 2007 bei der Deutschen Botschaft in Belgrad die Erteilung
eines Visums zum Zwecke des Familiennachzuges. Dabei gab er an, bei seinen
Großeltern väterlicherseits seit dem Jahre 2000 zu leben. Über Deutschkenntnisse
verfüge er nicht.
Mit Bescheid vom 18. Juni 2007 und Remonstrationsbescheid der Deutschen Botschaft in
Belgrad vom 14. August 2007 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte
sie an, die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 AufenthG lägen nicht vor, da der Vater des
Klägers nach dem serbischen Familiengesetz nicht das alleinige Sorgerecht für den
Kläger habe. Es liege auch keine besondere Härte vor. Der Kläger sei 14 Jahre alt und
habe offensichtlich keine Deutschkenntnisse. Auf Grund der fehlenden Sprachkenntnisse
werde er daher keine Perspektive haben, in Deutschland einen Schulabschluss oder eine
Ausbildung zu absolvieren. Es würde für ihn sehr schwer werden, in Deutschland eine
Arbeitsstelle zu finden. Eine Integration in Deutschland sei daher kaum zu erwarten.
Seine Zukunftsperspektiven dürften in Serbien als deutlich besser und günstiger
einzustufen sein.
Der Kläger hat am 27. September 2007 Klage erhoben.
Mit Urteil vom 9. Mai 2008 sprach das Amtsgericht in Tutin, dem Heimatort des Klägers,
dem Vater des Klägers das Unterhalts-, Sorge- und Erziehungsrecht für den Kläger zu.
Der Vater des Klägers werde das Elternrecht selbstständig ausüben und der Mutter des
Klägers einen regelmäßigen Umgang mit dem minderjährigen Kind, entsprechend ihrer
Vereinbarung, zu gewährleisten haben, wobei die Mutter nicht zur Zahlung eines
Unterhaltsbeitrages für das minderjährige Kind verpflichtet sei.
Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung den Anspruch des Klägers auf
Neubescheidung seines Visumsantrages nach § 20 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 1 AuslG
anerkannt. Insoweit haben der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
anerkannt. Insoweit haben der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit
übereinstimmend für erledigt erklärt.
Der Kläger ist der Auffassung, nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts
Berlin-Brandenburg einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums entsprechend §
32 Abs. 3 AufenthG zu besitzen. Im Übrigen trägt er vor, er habe bis zum August 1995
bei seiner Mutter gelebt. Nachdem die Mutter eine neue Beziehung eingegangen
gewesen sei, habe sie ihn in die Obhut seiner Großeltern väterlicherseits gegeben. Bei
ihnen habe er vom 2. bis zum 9. Lebensjahr gelebt. Im Jahre 2002 habe seine Mutter ihn
wieder zu sich holen wollen. Sein Vater habe dem zugestimmt, jedoch nur unter der
Bedingung, dass die Mutter mit ihm bei den Großeltern wohnen bleibe, damit der
Kontakt der Familie des Vaters des Klägers zu ihm, dem Kläger, nicht verloren gehe.
Sein Vater habe zu diesem Zweck für ihn und seine Mutter ein Haus auf dem
Grundstück der Großeltern gebaut. Er sei außer von seiner Mutter daraufhin weiter von
den Großeltern und seiner Tante, einer Schwester seines Vaters, betreut worden. Die
Wochenenden, Ferien und freien Tage habe er ausschließlich bei den Großeltern
verbracht. Seit April 2007 lebe er wieder ausschließlich bei seinen Großeltern.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Remonstrationsbescheides der Deutschen
Botschaft in Belgrad vom 14. August 2007 zu verpflichten, ihm ein Visum zum Zwecke
des Kindernachzuges zu seinem Vater zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, eine entsprechende Anwendung des § 32 Abs. 3 AufenthG
komme nicht in Betracht. Es fehle zum einen an der für eine analoge Anwendung
erforderlichen ungeplanten Regelungslücke im Aufenthaltsgesetz. Dem Gesetzgeber
seien die Fälle eines nach ausländischem Recht nicht vollständig übertragbaren, sondern
lediglich teilbaren Sorgerechts der Eltern bei der Schaffung der Bestimmungen zum
Kindernachzug im Aufenthaltsgesetz bekannt gewesen. Er habe sich dessen ungeachtet
gegen die Einbeziehung von Kindern, für die ein entsprechend geteiltes Sorgerecht
bestehe, in die Vorschrift des § 32 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG entschieden. Dies ergäbe
sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchstabe c Satz 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22.
September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, deren
Umsetzung das Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 gedient habe. Darin werde den
Mitgliedsstaaten u. a. ausdrücklich die Regelung des Kindernachzugs auch in Bezug auf
Fälle des geteilten elterlichen Personensorgerechts eröffnet. Zudem läge keine
Vergleichbarkeit zwischen dem Sachverhalt des Nachzugs von Kindern zu ihrem allein
personensorgeberechtigten Elternteil nach Deutschland und dem Sachverhalt eines
Kindesnachzugs im Falle einer geteilten Personensorgeberechtigung der Eltern vor.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Streitakten und der vorgelegten
Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der Verhandlung und
Beratung.
Entscheidungsgründe
Über die Klage konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters des Beigeladenen
verhandelt und entschieden werden, weil der Beigeladene mit der Ladung auf diese
Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Soweit der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt
haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf
die Erteilung eines Visums zum Zwecke des Kindernachzuges (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der Kläger bedarf nach § 4 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die
Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) in der
durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) geänderten Fassung, die am
28. August 2007 in Kraft getreten ist (vgl. Art. 10 des Umsetzungsgesetzes), mangels
anderweitiger Bestimmung oder anderweitigen Bestehens eines Aufenthaltsrechts für
die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels. Für den von
19
20
21
22
23
24
25
die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels. Für den von
ihm angestrebten dauerhaften Aufenthalt ist ein vor der Einreise zu erteilendes
(nationales) Visum für das Bundesgebiet nach § 6 Abs. 4 AufenthG erforderlich. Die
Erteilung dieses Visums richtet sich grundsätzlich nach den für die Aufenthalts- und
Niederlassungserlaubnis geltenden Vorschriften (§ 6 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).
Nach § 104 Abs. 3 AufenthG gilt bei Ausländern, die sich, wie der Vater des Klägers, vor
dem 1. Januar 2005 rechtmäßig in Deutschland aufhalten, für den Nachzug von davor
geborenen Kindern, wie dem Kläger, § 20 des Ausländergesetzes (AuslG) in der zuletzt
gültigen Fassung, es sei denn, das Aufenthaltsgesetz gewährt eine günstigere
Rechtsstellung.
Das Aufenthaltsgesetz gewährt hier keine günstigere Rechtsstellung. Denn der Kläger
erfüllt nicht die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums
nach § 32 Abs. 3 AufenthG (1.) Die Vorschrift ist nicht analog anwendbar (2.) Ein
Anspruch ergibt sich auch nicht aus § 20 AuslG (3.).
1. Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist einem minderjährigen ledigen Kind, welches das 16.
Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide
Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis,
Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzen. Der Vater
des Klägers besitzt zwar eine gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als
Niederlassungserlaubnis fortgeltende Aufenthaltserlaubnis, er ist aber nicht allein
personensorgeberechtigt im Sinne des § 32 Abs. 3 AufenthG.
a) Mit dem Begriff der „Personensorge“ knüpft § 32 Abs. 3 AufenthG an die
einschlägigen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) an. Nach § 1626 Abs. 1
Satz 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu
sorgen (elterliche Sorge). Nach Satz 2 der Vorschrift umfasst die elterliche Sorge die
Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes
(Vermögenssorge). Gemäß § 1631 BGB umfasst die tatsächliche Sorge für die Person
insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu
beaufsichtigen sowie seinen Aufenthalt zu bestimmen. Hierzu gehören z. B. die
Schulwahl, die ärztliche Versorgung und die Einwilligung in Operationen, die Berufswahl
und die Freizeitgestaltung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. April 2007 - OVG
12 B 2.05 - juris, Rn. 18, m. w. N.).
„Alleiniges“ Personensorgerecht eines Elternteils setzt nach dem eindeutigen Wortlaut
der Vorschrift voraus, dass die Personensorge für das nachziehende Kind nicht mit dem
anderen Elternteil geteilt wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 9. Oktober 2008
- OVG 12 B 8.08 -, 21. Mai 2008 - OVG 12 B 66.07 - und 25. April 2007, a. a. O., Rn. 16).
Dies ist der Fall, wenn die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines
Kindes - also nicht für dessen Vermögen - verbunden sind, ausnahmslos nur durch einen
Elternteil wahrgenommen werden können, es zur Ausübung der Personensorge also
weder in einer bestimmten Angelegenheit noch in einer bestimmten Art von
Angelegenheiten der Zustimmung des anderen Elternteils bedarf.
Dieses Verständnis vom Begriff des alleinigen Personensorgerechts in § 32 Abs. 3
AufenthG widerspricht nicht europäischem Gemeinschaftsrecht. Nach Art. 4 Abs. 1
Buchst. c Satz 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003
betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 vom 3. Oktober 2003) -
so genannte Familienzusammenführungs-Richtlinie - haben die Mitgliedsstaaten lediglich
den Auftrag, den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des
Zusammenführenden, die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten, wenn der
Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt.
Dabei erfasst die Regelung nur die Fälle, in denen ein alleiniges Sorgerecht des
Zusammenführenden besteht. Dies ergibt sich aus dem systematischen
Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Satz 2 der Richtlinie (VG Berlin, Urteil vom
19. November 2008 - VG 38 V 81.08 -). Denn diese Vorschrift räumt den Mitgliedstaaten
ein Ermessen ein, die Familienzusammenführung auch in solchen Fällen zu gestatten, in
denen ein „geteiltes Sorgerecht“ besteht, sofern der andere Elternteil seine
Zustimmung erteilt.
Weitere Vorgaben macht das europäische Gemeinschaftsrecht hinsichtlich des Inhalts
des Begriffs der alleinigen Personensorge nicht. Dies gilt auch hinsichtlich der in Art. 2
Nr. 9 der EG-Verordnung 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die
Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in
Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung
der Verordnung 1347/2000 (ABl. L 338 vom 23. Dezember 2003) - im Folgenden: EG-
Verordnung 2201/2003 - enthaltenen Bestimmung des Begriffs des „Sorgerechts“;
26
27
28
29
30
Verordnung 2201/2003 - enthaltenen Bestimmung des Begriffs des „Sorgerechts“;
dabei bedarf hier keiner Entscheidung, ob und inwieweit die „für die Zwecke dieser
Verordnung“ erfolgte Begriffsbestimmung verallgemeinerungsfähig ist und zum
Verständnis von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Satz 1 der Familienzusammenführungs-Richtlinie
beitragen kann. Denn Art. 2 Nr. 9 der EG-Verordnung 2201/2003 begrenzt den Begriff
des Sorgerechts nur insoweit, als er hiervon die Sorge für das Vermögen des Kindes
ausnimmt. Danach bezeichnet der Ausdruck „Sorgerecht“ die „Rechte und Pflichten, die
mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf
die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes“. Dass das „Sorgerecht“ sämtliche
Fragen der Personensorge betrifft und bei der Beurteilung des Sorgerechts nicht etwa
nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht maßgeblich ist, ergibt sich aus dem Wortlaut
„insbesondere“ (a. A. Dienelt, in: Anmerkung vom 8. November 2008 zum Beschluss
des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. August 2008 - BVerwG 1 C 31.07 - juris,
www.migrationsrecht.net). Nichts anderes ergibt sich aus Art. 2 Nr. 11 Buchst. b Satz 2
der EG-Verordnung 2201/2003, wonach „von einer gemeinsamen Ausübung des
Sorgerechts auszugehen ist, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung
aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des
anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes
bestimmen kann“. Denn auch diese Regelung gibt nur ein „Regelbeispiel“, bei dem auf
jeden Fall von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts auszugehen ist.
Im Übrigen sind auch keine Gründe dafür ersichtlich, den Kreis der vom Begriff der
alleinigen (Personen-)Sorge umfassten Rechte und Pflichte auf bestimmte Rechte und
Pflichten zu beschränken. Vielmehr spricht hiergegen, dass nicht nur das
Aufenthaltsbestimmungsrecht die Person des Kindes in besonderer Weise betrifft,
sondern auch Entscheidungen in anderen Fragen genauso oder gar gravierender die
Person des Kindes betreffen können, wie etwa eine Entscheidung über die Auswahl der
Schule und Berufsbildung oder die Heilbehandlung des Kindes.
Ob der im Bundesgebiet lebende Elternteil des nachzugswilligen Kindes allein
personensorgeberechtigt im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG ist, beurteilt sich gemäß
Art. 21 EGBGB nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen
Aufenthalt hat, weil das Rechtsverhältnis zwischen einem Kind und seinen Eltern diesem
Recht unterliegt.
b) Nach diesen Maßstäben ist der Vater des Klägers nicht allein
personensorgeberechtigt im Sinne von § 32 Abs. 3 AufenthG, weil die Mutter des in
Serbien lebenden Klägers nach wie vor über alle wesentlichen Sorgefragen,
insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht mitentscheiden darf bzw.
mitzuentscheiden hat.
Zwar hat das Amtsgericht in Tutin/Serbien mit Urteil vom 9. Mai 2008 dem Vater des
Klägers das Unterhalts-, Sorge- und Erziehungsrecht für den Kläger zur selbständigen
Ausübung des Elternrechts entsprechend der mit der Mutter des Klägers geschlossenen
Vereinbarung übertragen. Dieses Urteil ist auch nach Art. 7 des Europäischen
Übereinkommens über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über
das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses vom 20. Mai
1980 (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen, BGBl. 1990 II, S. 220)
anerkennungsfähig, da die Bundesrepublik Deutschland am 5. April 1990 das
entsprechende Zustimmungsgesetz erlassen hat (BGBl. 1990 II, S. 206) und das
Übereinkommen seit dem 1. Mai 2002 auch in der Bundesrepublik Jugoslawien (BGBl.
2002 II, S. 2844) und nunmehr auch in der Nachfolgerepublik Serbien gilt. Die Wirkungen
der Sorgerechtsübertragung sind ferner mit den Grundwerten des deutschen Familien-
und Kindschaftsrechts nicht offensichtlich unvereinbar (vgl. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a des
Europäischen Sorgerechtsübereinkommen); eine darüber hinausgehende inhaltliche
Nachprüfung findet nicht statt (Art. 9 Abs. 3 des Europäischen
Sorgerechtsübereinkommen). Eine Übertragung des alleinigen Sorgerechts im Sinne
von § 32 Abs. 3 AufenthG ist durch das Urteil des Amtsgerichts Tutin jedoch nicht erfolgt.
Nach Art. 68 Abs. 1 und 2 des serbischen Familiengesetzes vom 24. Februar 2005 -
FamG - (in deutscher Übersetzung abgedruckt bei: Bergmann/Ferid/Henrich,
Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Länderteil Serbien, S. 51 ff.) haben die Eltern
das Recht und die Pflicht, für das Kind zu sorgen (Abs. 1). Die Sorge für das Kind
umfasst: die Obhut, das Aufziehen, die Erziehung, die Ausbildung, die Vertretung, den
Unterhalt und die Verwaltung und Verfügung über das Vermögen des Kindes. Gemäß
Art. 77 Abs. 5 FamG übt ein Elternteil das Elternrecht aufgrund der Entscheidung des
Gerichts selbständig aus, wenn die Eltern - wie hier - keine Lebensgemeinschaft führen
und sie eine Vereinbarung über die selbständige Ausübung des Elternrechts schließen
und das Gericht feststellt, dass diese Vereinbarung im besten Interesse des Kindes ist.
31
32
33
34
35
36
und das Gericht feststellt, dass diese Vereinbarung im besten Interesse des Kindes ist.
Die „selbständige Ausübung“ des Elternrechts durch einen Elternteil bedeutet allerdings,
dass der andere Elternteil weiterhin das Recht und die Pflicht hat, gemeinsam und
einvernehmlich mit dem Elternteil, der das Elternrecht ausübt, über die Fragen, die das
Leben des Kindes wesentlich betreffen, zu entscheiden (Art. 78 Abs. 3 FamG). Dabei
zählt das serbische Familiengesetz ausdrücklich als Regelbeispiele hierfür u. a. auf:
Ausbildung des Kindes, Vornahme größerer medizinischer Eingriffe und Änderung des
Wohnortes (Art. 78 Abs. 4 FamG). Eine (vollständige) Entziehung des Elternrechts ist
zwar möglich, setzt aber voraus, dass ein Elternteil die Ausübung des Elternrechts
missbraucht oder grob vernachlässigt, und muss von einem Gericht verfügt werden (Art.
81 und 273 FamG). Eine solche gerichtliche Entscheidung liegt hier nicht vor. Dass der
Elternteil, dem Obhut, Fürsorge und Erziehung übertragen worden ist, (jedenfalls) nach
der serbischen Rechtspraxis ungeachtet der Gesetzeslage allein über sämtliche
Sorgerechtsfragen entscheiden darf, ist weder ersichtlich noch vorgetragen.
2. Die Kammer teilt nicht die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg (Urteile vom 9. Oktober 2008 - OVG 12 B 8.08 -, 21. Mai 2008 - OVG 12 B
23.07 und 25. April 2007, a. a. O., Rn. 24 ff. ; ebenso VG Berlin, Urteile vom 22. August
2007 - VG 35 V 28.06 - und 14. Januar 2008 - VG 12 V 49.06 -), § 32 Abs. 3 AufenthG sei
in solchen Fällen analog anzuwenden, in denen - wie hier - dem ausländischen Recht die
Ausübung der (alleinigen) Personensorge durch nur einen Elternteil grundsätzlich fremd
ist.
Die analoge Anwendung einer Vorschrift setzt u. a. eine unbewusste bzw. planwidrige
Regelungslücke voraus (vgl. zur Analogie allgemein: Larenz, Methodik der
Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 370 ff. <373 f.>). Hieran fehlt es.
Die Gesetzesbegründung zu § 32 Abs. 3 AufenthG belegt, dass es dem „Plan“ des
Gesetzgebers gerade entspricht, den Kindernachzug gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG auch
für die Staatsangehörigen solcher Länder auszuschließen, die eine vollständige
Übertragung des elterlichen Sorgerechts auf einen Elternteil nicht kennen. Dort nämlich
heißt es (BT-Drs. 15/420, S. 83):
„Lebt nur einer von beiden sorgeberechtigten Elternteilen in Deutschland,
besteht kein Anspruch auf Nachzug des Kindes zu diesem. Der Nachzug eines Kindes in
eine fremde Umgebung, die Trennung von dem bisher erziehenden Elternteil und die
Betreuung durch den anderen Elternteil, der zugleich für den Lebensunterhalt sorgen
muss, könnte in vielen Fällen nachteilige Auswirkungen auf die Kindesentwicklung, die
Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland und dadurch zuletzt auch für die
Bundesrepublik Deutschland haben. Eine nur teilweise Verlagerung des Aufenthalts der
Familienmitglieder würde auch nicht dem Zweck der Herstellung der familiären
Lebensgemeinschaft dienen. Dies rechtfertigt es, den Kindernachzug nur zu einem im
Bundesgebiet lebenden Elternteil grundsätzlich auszuschließen. Ein Anspruch besteht
gleichwohl, wenn der Ausländer die Personensorge allein ausübt“.
Die Gesetzesbegründung belegt, dass der Gesetzgeber in generalisierender,
pauschalierender und typisierender Weise die Gefahren, die dem Kindeswohl infolge
eines Nachzuges nach Deutschland und damit letztlich auch den Interessen der
Bundesrepublik Deutschland drohen, für hinreichend gewichtig erachtet hat, um einen
grundsätzlichen Ausschluss des Nachzuges nur zu einem Elternteil zu rechtfertigen.
Etwas anderes soll nur ausnahmsweise dann gelten, wenn sich die allein
personensorgeberechtigte Person in Deutschland aufhält; denn in diesem Fall ist der
Gesetzgeber - generalisierend - davon ausgegangen, dass derjenige, der das alleinige
Personensorgerecht hat, das Kind allein betreut bzw. die wichtigste, wenn nicht alleinige
Bezugsperson ist, und ein Nachzug daher dem Kindeswohl am Besten entspricht (vgl.
VG Berlin, Urteil vom 19. November 2008 - VG 38 V 81.08 -). Diese generalisierenden
und typisierenden Überlegungen tragen jedoch dann nicht mehr, wenn das im
Herkunftsland des Kindes geltende nationale Recht, selbst wenn es dem einen Elternteil
eine gewichtigere Rolle bei der Ausübung des Elternrechts einräumt als dem anderen,
den anderen Teil nicht aus der Pflicht zur Mitwirkung an der Sorge für das Kind in
zentralen Fragen entlässt. Denn dann kann nicht mehr unterstellt werden, dass der in
Deutschland lebende Elternteil die alleinige Bezugsperson für das Kind ist. In diesen
Fällen bedarf es nach dem aus der Gesetzesbegründung und -systematik zu Tage
tretenden „Plan“ des Gesetzgebers einer Einzelfallprüfung nach § 32 Abs. 4 AufenthG,
ob die sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen einen Nachzug des Kindes trotz
des Verbleibens eines sorgeberechtigten Elternteils in der Heimat des Kindes erfordern.
Es spricht auch wenig dafür, dass der Gesetzgeber die hier in Frage stehenden, vom
deutschen Recht abweichenden ausländischen familienrechtlichen Regelungen bei Erlass
37
38
39
40
41
42
43
deutschen Recht abweichenden ausländischen familienrechtlichen Regelungen bei Erlass
des § 32 Abs. 3 AufenthG nicht im Blick hatte, obwohl es diese Regelungen teilweise
bereits seit Jahrzehnten gibt. Vielmehr hat er mit § 32 Abs. 3 AufenthG bewusst die
europarechtlichen Vorgaben zum Kindernachzug umgesetzt, von einer in seinem
Ermessen stehenden Anspruchsgewährung bei „geteilten Sorgerecht“ aber abgesehen.
Ebenso wenig kann angenommen werden, der Rat der Europäischen Union habe die
inner- und außerhalb der Europäischen Union geltenden unterschiedlichen nationalen
familienrechtlichen Regelungen nicht gesehen, als er die in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c Satz 1
der Familienzusammenführungs-Richtlinie vorbehaltlose Unterscheidung zwischen
alleinigem und - die Zustimmung des anderen Elternteils erfordernden - geteiltem
Sorgerecht vornahm.
3. Ein Anspruch des Klägers auf Erteilung des begehrten Visums ergibt sich auch nicht
aus § 20 AuslG.
a) Der Kläger hat keinen Anspruch nach § 20 Abs. 2 und 3 Satz 1 AuslG. Danach ist dem
ledigen Kind eines sonstigen Ausländers nach Maßgabe des § 17 AuslG eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn 1. auch der andere Elternteil eine
Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung besitzt oder gestorben ist und 2. das
Kind - wie der Kläger - das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Abs. 2). Von der in
Absatz 2 Nr. 1 bezeichneten Voraussetzung kann abgesehen werden, wenn die Eltern -
wie hier - nicht oder nicht mehr miteinander verheiratet sind (Abs. 3). Das Absehen von
den Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 Nr. 1 AuslG steht demnach im Ermessen der
Behörde. Unter Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts zur
Ermessensausübung (Urteil vom 18. November 1997 - BVerwG 1 C 22.96 - InfAuslR
1998, 161 <162>) ist das der Beklagten eröffnete Ermessen nicht auf „Null“ reduziert
ist. Vielmehr hat die Beklagte die familiären Belange, namentlich das Wohl des
15jährigen, bislang in Serbien lebenden Klägers mit den einwanderungs- und
integrationspolitischen Belangen der Bundesrepublik Deutschland abzuwägen.
b) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf das begehrte Visum nach § 20 Abs. 4 Nr. 1
AuslG. Danach kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers nach Maßgabe
des § 17 AuslG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn das Kind die deutsche
Sprache beherrscht oder gewährleistet erscheint, dass es sich auf Grund seiner
bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der
Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Diese Voraussetzungen liegen hier
ersichtlich nicht vor.
c) Ebenso wenig hat der Kläger Anspruch auf das begehrte Visum nach § 20 Abs. 4 Nr. 2
AuslG. Eine besondere Härte liegt nur vor, wenn sich die Lebensumstände wesentlich
geändert haben, die das Verbleiben des Kindes im Heimatland bisher ermöglichten, und
weil dem Elternteil eine Rückkehr in das Heimatland gegenwärtig nicht zumutbar ist.
Grundvoraussetzung für die Annahme einer besonderen Härte ist demzufolge der
Eintritt eines Umstands, den die Eltern bei ihrer früheren Entscheidung, das Kind nicht
nach Deutschland nachzuholen, nicht in Rechnung stellen konnten. Von Bedeutung ist in
diesem Zusammenhang auch, ob nur der im Bundesgebiet wohnende Elternteil zur
Betreuung des Kindes in der Lage ist (vgl. zu Vorstehendem BVerwG, Urteil vom 18.
November 1997 - BVerwG 1 C 22.96 - InfAuslR 1998, 161 <163 f.> und Beschluss vom
24. Oktober 1996 – BVerwG 1 B 180.96 - juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom
14. Februar 2007 - OVG 2 S 7.07 -).
Danach ist eine besondere Härte nicht gegeben. Es ist schon nicht vorgetragen oder
sonst ersichtlich, dass der Kläger nicht mehr von seinen Großeltern oder seiner Mutter
ausreichend betreut werden kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, § 162 Abs. 3, § 161 Abs. 2 VwGO.
Hinsichtlich des für erledigt erklärten Teils des Rechtsstreits entspricht es billigem
Ermessen, die Kosten des Verfahrens der Beklagten aufzuerlegen, da sie den Kläger
insoweit ohne eine Änderung des Sach- und Streitstandes klaglos gestellt hat; mit der
Klaglosstellung ist die Beklagte einem Unterliegen zuvorgekommen. Die Entscheidungen
über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167
VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2 VwGO i. V. m. § 709 Satz 2 ZPO.
Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen, da die Frage, ob § 32
Abs. 3 AufenthG auf Fälle wie den vorliegenden entsprechend anwendbar ist,
grundsätzliche Bedeutung hat und weil die Kammer von einer Entscheidung des OVG
Berlin-Brandenburg abweicht (vgl. § 124a VwGO i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO);
aus dem zuerst genannten Grund ist auch die Sprungrevision zuzulassen (§ 134 Abs. 1
und 2 VwGO i. V. m. § 132 Abs. 2 Nr.1 VwGO).
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum