Urteil des VG Berlin vom 14.03.2017

VG Berlin: abgeltung, zeitliche wirkung, pensionierung, beendigung, beamtenrecht, urlaub, vergleich, bezahlung, verjährungsfrist, vergütung

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Gericht:
VG Berlin 5. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 K 175.09
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 7 EGRL 88/2003, § 9 UrlV BE,
§ 195 BGB, § 199 BGB
Beamter; Erholungsurlaub; Krankheit; verfallener Urlaub;
europarechtlicher Mindesturlaub; Zurruhesetzung;
Pensionierung; Verjährung; Urlaubsabgeltung; Vergütung;
finanzielle Entschädigung; Berechnung des Betrags
Leitsatz
Einem erkrankten und anschließend pensionierten Beamten steht in unmittelbarer
Anwendung der Richtlinie 2003/88/EG die finanzielle Abgeltung des nicht verjährten
europarechtlichen Mindestjahresurlaubs von vier Wochen zu, soweit er im jeweiligen Jahr nicht
bereits Erholungsurlaub hatte, in anteiliger Höhe seines Gehalts zur Zeit des Eintritts in den
Ruhestand.
Tenor
Der Bescheid vom 3. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.
August 2009 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine finanzielle
Entschädigung für nicht genommene 38 Urlaubstage nebst Zinsen in Höhe von fünf
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz für das Jahr seit dem 21. August 2009 zu
bewilligen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die im Jahr 1966 geborene Klägerin stand als Polizeikommissarin im Dienst des Landes
Berlin. In Folge eines Dienstunfalls war sie seit Dezember 2003 mit kurzen
Unterbrechungen krankheitsbedingt dienstunfähig. Der Beklagte versetzte sie mit Ablauf
des 30. November 2006 in den Ruhestand. Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom
25. März 2009 und 10. Juli 2009, ihr eine Urlaubsabgeltung für die Jahre 2004 bis 2006 zu
zahlen, und verwies zur Begründung auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom
20. Januar 2009. Sie hatte den ihr zustehenden Erholungsurlaub im Jahr 2004 teilweise
und in den Jahren 2005 und 2006 insgesamt nicht genommen. Der Beklagte lehnte eine
Urlaubsabgeltung mit Bescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 3. April 2009 ab und
wies den dagegen eingelegten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid derselben
Behörde vom 10. August 2009 als unbegründet zurück. Die Senatsverwaltung für
Inneres und Sport bezog sich im Rundschreiben I Nr. 31/2010 vom 19. Mai 2010 auf das
Urteil des Europäischen Gerichtshofes und räumte die Möglichkeit ein, Erholungsurlaub
nach näherer Maßgabe zu übertragen. Sie fügte unter Nr. 7 hinzu, eine
Urlaubsabgeltung werde nicht gewährt.
Die Klägerin verfolgt mit ihrer am 21. August 2009 erhobenen Klage ihr Begehren weiter.
Sie ist der Auffassung, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofes die finanzielle
Pflicht zur Abgeltung krankheitsbedingt nicht genommenen Urlaubs auch mit Geltung für
Beamte festschreibe, und beantragt,
den Bescheid vom 3. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
10. August 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr eine finanzielle
Entschädigung für nicht genommene 71 Urlaubstage nebst Rechtshängigkeitszinsen zu
bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Der Beklagte beruft sich auf den Verfall des nicht genommenen Erholungsurlaubs
gemäß § 4 Abs. 1 der Erholungsurlaubsverordnung – EurlVO – des Landes Berlin. Aus der
Richtlinie 2003/88/EG ergebe sich nichts anderes. Fraglich sei schon deren generelle
Anwendbarkeit auf Beamte, insbesondere Polizeibeamte. Des Weiteren dürfe nicht die
grundverschiedene Ausgestaltung der Statusverhältnisse von Arbeitnehmern einerseits
und Beamten andererseits verkannt werden. Nur bei den Arbeitnehmern stünden Arbeit
und Bezahlung im Gegenseitigkeitsverhältnis. Das Recht der Beamten auf
Erholungsurlaub ergebe sich aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Den Beamten
stehe die Besoldung auch während langer Dienstunfähigkeit ohne Einbußen zu, während
Arbeitnehmer ein geringeres Krankengeld erhielten. Eine richtlinienkonforme Auslegung
deutschen Rechts dürfe den erkennbaren Willen des nationalen Gesetzgebers nicht
verändern. Die Richtlinie gelte auch nicht unmittelbar. Namentlich deren Art. 7 Abs. 2
enthalte keine klare und hinreichend bestimmte Verpflichtung zur Urlaubsabgeltung.
Von diesem Kriterium habe der europäische Gerichtshof in seinem Urteil nicht
abweichen wollen. Sollte das anders gesehen werden, könnte die unmittelbare
Bindungswirkung erst mit der Verkündung des Urteils entstanden sein. Zu bedenken sei
ferner, dass ein Ruhestandsbeamter nicht sein Arbeitsverhältnis beendet habe, wie es
die Richtlinie voraussetze. Nach beamtenrechtlichen Grundsätzen könnten nur die
zeitnah geltend gemachten Ansprüche zuerkannt werden. Die Einrede der Verjährung
werde erklärt, auch sei der Anspruch verwirkt. Der Höhe nach könne in keinem Fall mehr
als der Mindesturlaub von vier Wochen beansprucht werden.
Die Personalakte (Bände A, B, C), die Akte des Polizeiarztes, der Verwaltungsvorgang
und der Widerspruchsvorgang haben vorgelegen und sind Gegenstand der
Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Verpflichtungsklage ist nur zum Teil begründet. Der Klägerin steht in
unmittelbarer Anwendung der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
(Amtsblatt der Europäischen Union L 299 vom 18. November 2003, Seite 9 ff.) die
finanzielle Abgeltung des nicht verjährten Mindestjahresurlaubs von vier Wochen zu,
soweit sie im jeweiligen Jahr nicht bereits Erholungsurlaub hatte, in anteiliger Höhe ihres
Gehalts zur Zeit des Eintritts in den Ruhestand.
I.
Die Richtlinie 2003/88/EG ist auf Beamte des Landes Berlin anwendbar (so schon die
Kammer in ihrem nicht rechtskräftigen Urteil vom 26. März 2009 – VG 5 A 145.08 – unter
Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 14. Juli 2005, NVwZ
2005, 1049 ff., in Fällen staatlicher Feuerwehr; entsprechend auch das
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2010 – 2 A 11321/09 –, Juris
Rn. 27; anders das Verwaltungsgericht Koblenz, Urteil vom 21. Juli 2009 – 6 K 1253/09.KO
–, Juris Rn. 21; Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 15. Oktober 2009 – 13 A
2003/09 –, Juris Rn. 24, 25). Das lässt sich aus Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie schließen,
demzufolge sie für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des
Artikels 2 der Richtlinie 89/39/EWG gilt. In Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie vom 12. Juni 1989
(Amtsblatt L 183 vom 29. Juni 1989, Seite 1 ff.) wird die Anwendbarkeit nur
ausgeschlossen, soweit dem Besonderheiten bestimmter spezifischer Tätigkeiten im
öffentlichen Dienst, zum Beispiel bei der Polizei, zwingend entgegenstehen. Mit dieser
Formulierung ist die Einschränkung der Richtliniengeltung funktions- und nicht
personenbezogen. Ein erkrankter und pensionierter Beamter erfüllt keine besonderen
dienstlichen Funktionen.
II.
Art. 7 der Richtlinie in der Auslegung, die er durch das Urteil des Europäischen
Gerichtshofes vom 20. Januar 2009 (NJW 2009, 495 ff.) erfahren hat, bestimmt
unmittelbar das Verhältnis der Beteiligten. Die auf früheren Richtlinien aufbauende
Richtlinie hätte im hier relevanten Zeitraum längst umgesetzt sein müssen (bis zum 23.
November 1996, vgl. Art. 22 Abs. 2 der Richtlinie mit weiteren Maßgaben). Art. 7 der
Richtlinie ist in Bezug auf den reklamierten Abgeltungsanspruch von Erholungsurlaub
eine Bestimmung, die inhaltlich unbedingt und hinreichend genau den Einzelnen
begünstigt. Dabei ergibt sich der Inhalt der Richtlinie mit hinreichender Deutlichkeit aus
dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (anders das Verwaltungsgericht München,
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dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (anders das Verwaltungsgericht München,
ZBR 2010, 140 [141]).
Art. 7 der Richtlinie – Jahresurlaub – lautet:
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder
Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der
Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen
Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.
Der Europäische Gerichtshof legt den Abs. 2 so aus, dass er einzelstaatlichen
Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen für nicht
genommenen Jahresurlaub am Ende des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle
Vergütung gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten
Bezugszeitraums und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon
krankgeschrieben bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte. Der Arbeitnehmer hat nach Beendigung
des Arbeitsverhältnisses Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen
Mindestjahresurlaub (vgl. Rn. 56 des Urteils). Die Kammer folgt der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes.
Die Folgepflicht ergibt sich auch aus der nach § 31 Abs. 1 BVerfGG zu beachtenden
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach hat das europäische
Vertragswerk die Auslegung sowohl des Primärrechts wie des Sekundärrechts der
eigenen europäischen Gerichtsbarkeit zugewiesen. Das Vertragsrecht bindet demnach
über die innerstaatlich durch Zustimmungsgesetz zu dem jeweiligen Vertrag erteilten
Rechtsanwendungsbefehle die Gerichte der Mitgliedstaaten an die Rechtsprechung der
europäischen Gerichte, insbesondere an die des Gerichtshofs (so das
Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 123, 267 [397 f.]).
Die vom Beklagten geltend gemachte Abweichung des Urteils vom Richtlinientext geht
nicht so weit, dass das Urteil als ausbrechender Rechtsakt erkannt werden müsste (vgl.
genauer BVerfGE 123, 267 Leitsatz 4). Dem Europäischen Gerichtshof schwebt offenbar
vor, dass es einen bezahlten Mindestjahresurlaub geben muss (so auch Art. 7 Abs. 1 der
Richtlinie) und die Richtlinie es insoweit stillschweigend voraussetzt, dass notfalls für den
nicht genommenen Urlaub nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu zahlen ist
(anders das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2010 – 2 A
11321/09 –, Juris Rn. 35). Eine solche Auslegung ist nicht schlechterdings unvertretbar
und berührt nicht die Verfassungsidentität des Grundgesetzes.
Die unmittelbare Geltung der Richtlinie trifft den Beklagten, weil er als zuständiger Träger
öffentlicher Gewalt zur Umsetzung verpflichtet ist. Auf die Erwägungen, ob und wie die
Erholungsurlaubsverordnung richtlinienkonform ausgelegt werden kann, kommt es nicht
an (vgl. das Bundesarbeitsgericht, NZA 2009, 538 [543 Rn. 55 ff.]).
III.
Der Europäische Gerichtshof hält in seinem Urteil vom 20. Januar 2009 das gefundene
Auslegungsergebnis nicht offen für Besonderheiten des jeweiligen einzelstaatlichen
Beschäftigungsrechts, hier des deutschen Beamtenrechts (so aber das
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2010 – 2 A 11321/09 –, Juris
Rn. 34 ff.; Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 15. Oktober 2009 – 13 A 2003/09 –,
Juris Rn. 25; Verwaltungsgericht Koblenz, Urteil vom 3. November 2009 – 2 K 180/09.KO
–, Juris Rn. 20; Verwaltungsgericht München, ZBR 2010, 140 [141]; siehe auch das
Arbeitsgericht Wuppertal, Vorlagebeschluss vom 19. November 2009 – 7 Ca 2453/09 –,
Juris). Das europäische Gericht versteht die Richtlinie vielmehr ausdrücklich als
Rechtsquelle, die auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten keine
Rücksicht nimmt.
Es ist demnach europarechtlich unerheblich, ob sich nach dem deutschen bzw. dem
Berliner Beamtenrecht der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aus dem
Fürsorgeprinzip herleiten lässt, ob die Dienstleistung der Beamten auf dem Treue- und
ihre Bezahlung auf dem Alimentationsprinzip aufbaut und ob das eine mit dem anderen
in einem spezifischen Gegenseitigkeitsverhältnis steht. Der europäische Gerichtshof ließ
sich auch nicht von der Vorstellung leiten, dass in den von ihm entschiedenen Fällen die
Beschäftigten während ihrer langen Krankheit nur eine gegenüber dem normalen Entgelt
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Beschäftigten während ihrer langen Krankheit nur eine gegenüber dem normalen Entgelt
reduzierte Bezahlung erhalten. Wie sich aus der Vorgabe des Gerichtshofs zur
Berechnung der Urlaubsabgeltung schließen lässt (Rn. 62), werden die Bezüge des
kranken Beschäftigten nicht mit denen einer vergleichbaren gesunden Dienstkraft
saldiert. Vielmehr steht die Urlaubsabgeltung ohne Rücksicht auf denjenigen Betrag zu,
den der kranke Beschäftigte bereits erhalten hat. Die Kammer hat keinen Grund zu der
Annahme, dass der Europäische Gerichtshof die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (im
entschiedenen Fall des klagenden deutschen Arbeitnehmers) übersehen hat. Die
Lohnfortzahlung für Beamte im Krankheitsfall unterscheidet sich von der
Lohnfortzahlung für (deutsche) Arbeitnehmer in europarechtlicher Lesart nur quantitativ,
nicht qualitativ. Sie ist für den Europäischen Gerichtshof erkennbar ohne Relevanz.
Des Weiteren endet mit der Pensionierung eines Beamten dessen Arbeitsverhältnis im
Sinn von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie. Dieser Norm ist neben der Auslegung, die sie durch
den Europäischen Gerichtshof erhalten hat, auch die Bedeutung zu entnehmen, dass
sich ein noch im Dienst stehender Beschäftigter seinen Erholungsurlaub nicht
„abkaufen“ lassen darf. Das verbietet sich nach dem Hauptzweck der Richtlinie, der
Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten zu dienen (siehe Art. 1 Abs. 1 der
Richtlinie). Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die erst eine Bezahlung zulässig
sein lässt, bedeutet deshalb das Ende der Pflicht zur Diensterbringung ohne Rücksicht
auf die einzelstaatliche rechtliche Konstruktion und ohne Beachtung einer mehr oder
weniger normierten Befugnis der einen oder anderen Seite, das
Beschäftigungsverhältnis wieder aufleben zu lassen.
Schließlich unterliegt das europarechtliche Recht auf Urlaubsabgeltung nicht einer
beamtenrechtlich fundierten Pflicht zur zeitnahen Geltendmachung (vgl. dazu etwa das
Bundesverwaltungsgericht, ZBR 2009, 166 ff.). Das wäre wiederum eine einzelstaatliche
Gepflogenheit im Beschäftigtenrecht, auf die keine Rücksicht zu nehmen ist.
IV.
Das Berliner Beamtenrecht stellt keine günstigeren Vorschriften im Sinn des Art. 15 der
Richtlinie bereit (entsprechend aber das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil
vom 30. März 2010 – 2 A 11321/09 –, Juris Rn. 31). Nach diesem Artikel bleibt das Recht
der Mitgliedstaaten unberührt, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der
Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu
erlassen (…). Die Bestimmung verlangt einen konkreten Vergleich, sie erlaubt nicht eine
Gesamtbetrachtung des Dienstrechts. Das folgt schon aus der Erwägung, dass die
Richtlinie sich auf kein Rechtsgebiet außerhalb ihrer selbst bezieht, mit dem ein
Vergleich vorgenommen werden könnte. Sie bietet lediglich ihre eigenen Normen „über
bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“ zum Vergleich an. Das Berliner
Beamtenrecht bietet für langzeiterkrankte und pensionierte Beamte keine
Begünstigungen in Bezug auf den Jahresurlaub an, die im wertenden Vergleich günstiger
sind als die finanzielle Abgeltung von Erholungsurlaub, der nicht mehr genommen
werden kann.
V.
Die Einrede der Verjährung (vgl. § 194 Abs. 1 BGB) greift nur teilweise. Auch die
Urlaubsforderung unterliegt den Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuches, die im Berliner Beamtenrecht entsprechende Anwendung finden. Die
Richtlinie und das einschlägige Urteil des Europäischen Gerichtshofs (vgl. dort Rn. 59)
schließen nicht generell die allgemeinen einzelstaatlichen Vorschriften über die
Verjährung und Verwirkung aus. In Anwendung der regelmäßigen Verjährungsfrist von
drei Jahren (§ 195 mit § 199 Abs. 1 BGB) ist der Anspruch auf die Abgeltung der
Urlaubsansprüche für das Jahr 2004 verjährt, nicht aber für die Jahre 2005 und 2006.
Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2 der Erholungsurlaubsverordnung kann der Erholungsurlaub
noch innerhalb von zwölf Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres genommen
werden, bevor er verfällt. Damit beginnt die Verjährungsfrist für den Urlaub des Jahres
2004, der bis zum 31. Dezember 2005 hätte genommen werden können, mit dem
Schluss dieses Jahres (vgl. § 199 Abs. 1 BGB) zu laufen; der Anspruch verjährte mithin
mit Ablauf des 31. Dezember 2008. Der Ablauf der Verjährungsfrist wäre frühestens
durch Antragstellung im Sinne des § 204 Abs. 1 Nr. 12 des Bürgerlichen Gesetzbuches
im Jahr 2009 und damit zu spät gehemmt worden. Für die Jahre 2005 und 2006 greift die
Einrede der Verjährung nicht. Beginn der Verjährungsfrist ist der Schluss der Jahre 2006
und 2007 gewesen. Somit wäre Verjährung erst mit Ablauf des 31. Dezember 2009 bzw.
2010 eingetreten. Die Verjährung wurde aber bereits durch die Antragstellung und
Klageerhebung im Jahr 2009 (vgl. § 204 Abs. 1 Nr. 1 und 12 BGB) gehemmt.
Für eine Verwirkung der Forderung ist nichts aufgezeigt. Die Klägerin hat alsbald nach
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Für eine Verwirkung der Forderung ist nichts aufgezeigt. Die Klägerin hat alsbald nach
ihrer Pensionierung die Urlaubsabgeltung verlangt. Er hat keinen Umstand gesetzt, der
beim Beklagten den Eindruck erweckt haben könnte, sie mache die Forderung nicht
mehr geltend.
Der Beklagte kann sich auch nicht auf Vertrauensschutz für die Zeit vor der Verkündung
des Urteils des Europäischen Gerichtshofes berufen. Denn der Gerichtshof hat von der
Möglichkeit, die zeitliche Wirkung seiner Entscheidung zu begrenzen, keinen Gebrauch
gemacht (siehe dazu das Bundesarbeitsgericht, NZA 2009, 538 [545 Rn. 69 ff.], und das
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, ZBR 2010, 61 [62]).
VI.
Der Klägerin steht nur die Urlaubsabgeltung für den Mindestjahresurlaub in Höhe von
vier Wochen (Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie) zu. Dabei entsprechen vier Wochen 20
Arbeitstagen im Sinn der Erholungsurlaubsverordnung. Der darüber hinausgehende
Jahresurlaub nach dem Berliner Beamtenrecht ist nicht finanziell zu entgelten. Der
Europäische Gerichtshof bezieht sich selbst auf die „Dauer des Jahresurlaubs im Sinne
dieser Richtlinie“ (Rn. 58 des Urteils), unterscheidet damit den Mindesturlaub von dem
nach einzelstaatlichen Regeln eingeräumten, möglicherweise längeren Urlaub. Die
insoweit günstigere einzelstaatliche Vorschrift (Art. 15 der Richtlinie) nimmt mit ihren
zusätzlichen Rechten nicht an den Gewährleistungen der Richtlinie teil, die sich in beiden
Absätzen des Art. 7 ausdrücklich auf den Mindestjahresurlaub beschränkt.
Die Beschränkung auf die Abgeltung des Mindestjahresurlaubs im Sinn der Richtlinie
ergibt sich auch aus dem Wirkungszusammenhang zwischen dem supranational
begründeten und dem Berliner Landesrecht. Der europarechtliche Anwendungsvorrang
lässt entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht in seinem Geltungsanspruch
unberührt und drängt es nur in der Anwendung soweit zurück, wie es die Verträge
erfordern und nach dem durch das Zustimmungsgesetz erteilten innerstaatlichen
Rechtsanwendungsbefehl auch erlauben. Gemeinschafts- und unionswidriges
mitgliedstaatliches Recht wird lediglich soweit unanwendbar, wie es der
entgegenstehende gemeinschafts- und unionsrechtliche Regelungsgehalt verlangt (wie
vorstehend das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 123, 267 [398]). Die
Erholungsurlaubsverordnung oder sonstiges Beamtenrecht sehen die Urlaubsabgeltung
von pensionierungsbedingt verfallendem Erholungsurlaub nicht vor.
VII.
Die Entkoppelung des Mindestjahresurlaubs im Sinn der Richtlinie von dem
weitergehenden einzelstaatlichen Erholungsurlaub hat zur Folge, dass die
Gewährleistungen aus der Richtlinie immer dann, aber auch nur dann eintreten, wenn
und soweit der Beschäftigte im jeweiligen Kalenderjahr nicht vier Wochen Urlaub hatte.
Nur dieser Aspekt wird dem primären Zweck der Richtlinie, für Sicherheit und
Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung zu sorgen (siehe wiederum Art. 1 Abs.
1), gerecht. Es ist deshalb unerheblich, ob und in welchem Umfang der in einem
Kalenderjahr nicht genommene Mindesturlaub in der Abrechnung aus Ansprüchen
desselben oder des Vorjahres bedient worden wäre. Es reduziert andererseits den
Anspruch auf Urlaubsabgeltung, wenn und soweit der im Verlauf eines Jahres erkrankte
Beamte im selben Jahr noch Urlaubsansprüche des Vorjahres verwendete (gemäß § 9
Abs. 2 Erholungsurlaubsverordnung).
Die Klägerin hat in den Jahren 2005 bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2006 überhaupt
keinen Erholungsurlaub mehr genommen. Nach den genannten Maßstäben stehen ihr
für das Jahr 2005 vier Wochen / 20 Arbeitstage Erholungsurlaub zu. Die „Beendigung des
Arbeitsverhältnisses“ mit Ablauf des November 2006 führt dazu, dass nur der
entsprechende Anteil am Mindestjahresurlaub, hier 11/12, gerundet einzurechnen ist (18
Urlaubstage). Die Kammer wendet insoweit nicht die Berechnungsregelung aus § 6 Abs.
1 Satz 2 EUrlVO an, die einem im zweiten Halbjahr wegen Dienstunfähigkeit
pensionierten Beamten den Jahresurlaub voll einräumt. Denn der Anspruch aus der
unmittelbaren Geltung der Richtlinie wird nicht durch einzelstaatliche günstigere
Regelungen aufgewertet. In der Summe steht der Klägerin anstelle der eingeklagten
Abgeltung für 71 Urlaubstage das Entgelt für 38 Urlaubstage zu.
VIII.
Für die Berechnung der finanziellen Abgeltung macht der Europäische Gerichtshof die
Vorgabe, dass dem Beschäftigten das gewöhnliche Arbeitsentgelt zusteht (Rn. 62).
Maßgeblich ist das dem Beamten unmittelbar vor der Pensionierung zustehende
Bruttogehalt. Der zeitliche Bezug, mit dem etwaige Gehaltserhöhungen, Änderungen
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Bruttogehalt. Der zeitliche Bezug, mit dem etwaige Gehaltserhöhungen, Änderungen
des Besoldungsdienstalters, des Familienzuschlags usw. während der Krankheitsperiode
außer Acht bleiben, ergibt sich aus der Überlegung, dass die finanzielle Abgeltung erst
nach der „Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ gezahlt werden darf und der während
der Krankheit aufgelaufene, nicht verjährte Mindestjahresurlaub im Fall der Gesundung
noch hätte genommen werden dürfen; die Kommerzialisierung des Urlaubs tritt mithin
erst am Ende der aktiven Dienstzeit ein. Das zu zahlende Entgelt ist vom Beklagten bei
der Bewilligung wie folgt zu berechnen:
Das Bruttogehalt des letzten Monats vor der Pensionierung mal 3 (Quartalsbetrachtung)
geteilt durch 13 (Wochenzahl des Quartals) geteilt durch 5 (Arbeits-/Urlaubstage je
Woche) mal die Zahl der zustehenden Urlaubstage (hier: 38).
Der Zuspruch der Rechtshängigkeitszinsen (mit der seit dem 21. August 2009
rechtshängigen Klage beansprucht) beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§
291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB (vgl. ausführlich das Bundesverwaltungsgericht, BVerwGE
99, 53 ff.; 114, 61 [62]).
IX.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidungen
über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgen aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr.
11, 711 ZPO. Die Berufung wird gemäß den §§ 124 Abs. 2 Satz 3, 124 a Abs. 1 Satz 1
VwGO zugelassen.
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