Urteil des VG Arnsberg vom 08.10.2010

VG Arnsberg (kläger, veränderung der verhältnisse, bundesrepublik deutschland, politische verfolgung, bundesamt für migration, anerkennung, verfolgung, amnesty international, begründeter anlass, günstige prognose)

Verwaltungsgericht Arnsberg, 12 K 902/10.A
Datum:
08.10.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Arnsberg
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 K 902/10.A
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25.
Februar 2010 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Tatbestand:
1
Der Kläger ist iranischer Staatsangehöriger und stellte am 1. Februar 2000 einen
Asylantrag. Zur Begründung führte er aus, dass er Anhänger einer monarchistischen
Organisation sei. Er habe Flugblätter der Organisation verteilt und Parolen auf
Hauswände geschrieben habe. Er sei mehrfach vorgeladen und misshandelt worden.
Seine Heimatstadt H. sei 1996 nicht Provinzhauptstadt geworden und er habe sich an
Protesten gegen diese Entscheidung beteiligt. Er sei von Sepah-Angehörigen verletzt
und in ein Krankenhaus gebracht worden. Er sei verhört und misshandelt und in
Polizeigewahrsam gebracht worden. Vom Revolutionsgericht in H . sei er als
Unruhestifter zu einer Haftstrafe von 6 Monaten verurteilt worden, die er auch verbüßt
habe. Im Februar/März 1999 sei er gemeinsam mit einem Freund, der ebenfalls seiner
Gruppe angehört habe, im Haus des Freundes verhaftet und drei Tage festgehalten
worden. Er habe sich im Juli und August 1999 an den Studentenprotesten beteiligt. Drei
Monate vor seiner Ausreise sei er bei einer nächtlichen Hausdurchsuchung gesucht
worden. Er habe sich damals bei einem Freund aufgehalten und sei bis zu seiner
Ausreise nicht nach Hause zurückgekehrt.
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Der Kläger wurde mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (nunmehr Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden:
Bundesamt) vom 8. Februar 2000 als Asylberechtigter anerkannt und es wurde
festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs.1 des Ausländergesetzes (AuslG)
vorliegen. Zur Begründung führte das Bundesamt aus: Es sei aufgrund des vom Kläger
geschilderten Sachverhaltes davon auszugehen, dass der Kläger von den
Sicherheitsbehörden als Regimegegner angesehen worden sei. Er sei vor seiner
Ausreise bereits Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen und sei im Zeitpunkt
seiner Flucht gesucht worden.
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Der Kläger wurde am 11. März 2002 bzw. 25. August 2003 mit Strafbefehlen des
Amtsgerichts Dortmund wegen Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von
15 bzw. 50 Tagessätzen verurteilt. Das Landgericht Dortmund verurteilte ihn mit Urteil
vom 27. November 2002 wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beihilfe
zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und versuchter Nötigung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten. Das Amtsgericht Kleve verurteilte ihn
mit Urteil vom 10. Februar 2006 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungs-mitteln in
nicht geringer Menge in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten. Mit Urteil des
Landgerichts München II vom 12. August 2008 wurde der Kläger wegen unerlaubten
Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 3 tatmehrheitlichen Fällen zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Das Landgericht ordnete zugleich die
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an.
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Der Kläger war seit dem 8. September 2007 inhaftiert und wurde am 19. November 2008
aus der Justizvollzugsanstalt Werl in die Sozialtherapeutische Anstalt Marsberg verlegt.
Mit Bescheid vom 19. Mai 2009 verfügte der Landrat des Hochsauerlandkreises die
Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland. Der Kläger hat
hiergegen die bei der 8. Kammer des erkennenden Gerichts anhängige Klage 8 K
1786/09 erhoben.
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Nach Anhörung des Klägers widerrief das Bundesamt mit Bescheid vom 25. Februar
2010 die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs.1 AuslG vorliegen. Es stellte zugleich fest, dass die
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich und
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs.2 bis 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht
vorliegen. Zur Begründung führte das Bundesamt aus: Der Bescheid vom 8. Februar
2000 werde widerrufen, weil die Voraussetzungen nicht mehr vorlägen. Aufgrund der
rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren seien gemäß § 60
Abs.8 Satz 1 2. Alt. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) die Asylanerkennung und das
festgestellte Abschiebungsverbot nach § 51 Abs.1 AuslG zu widerrufen. Es sei die
konkrete Gefahr gegeben, dass der Kläger vergleichbare Straftaten erneut begehe. Im
Übrigen sei die Gefährdungssituation, die zur Anerkennung des Klägers geführt habe,
aufgrund der Veränderung der Verhältnisse im Iran nicht mehr gegeben. Die vom Kläger
entfalteten früheren Aktivitäten für eine monarchistische Organisation ließen derzeit und
auch in überschaubarer Zukunft eine politische Verfolgung nicht erwarten. Der Kläger
müsse auch keine unmenschliche Behandlung oder die Todesstrafe i.S. des § 60 Abs.3
AufenthG befürchten. Es drohe auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die
Gefahr einer Doppelbestrafung wegen der begangenen Drogendelikte. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf den angegriffenen Bescheid Bezug genommen.
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Der Kläger hat am 18. März 2010 Klage erhoben und führt zur Begründung aus: Die von
ihm begangenen Straftaten rechtfertigten nicht die Annahme, es liege eine Gefahr für die
Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs.8 Satz 1 2. Alt. AufenthG vor, denn dies sei nur bei
Staatsschutzdelikten der Fall. Auch die erforderliche konkrete Wiederholungsgefahr sei
nicht gegeben. Er befinde sich in Therapie und mache entsprechend den
Stellungnahmen des LWL-Therapiezentrums für Forensische Psychiatrie Marsberg vom
10. August 2010 und 5. Oktober 2010 gute Fortschritte. Angesichts der aktuellen Lage
im Iran müsse auch davon ausgegangen werden, dass ihm bei einer Rückkehr
politische Verfolgung drohe. Es liege zumindest ein Abschiebungsverbot nach § 60
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Abs.3 AufenthG bzw. nach § 60 Abs.7 AufenthG vor.
Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2010
aufzuheben, hilfsweise unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2010 festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs.1 AufenthG und weiter hilfsweise, dass
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs.2 bis 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf den angegriffenen Bescheid und führt noch ergänzend aus, dass eine
günstige Sozial- und Legalprognose nicht ausreiche, um eine Gefahr für die
Allgemeinheit zu verneinen. Denn die hier vorzunehmende Prognose müsse sich an
strengeren und anderen Kriterien als die Prognose von Strafgerichten orientieren. Im
Mittelpunkt müsse der Schutz der Gesellschaft stehen und es müsse eine längerfristige
Gefahrenprognose vorgenommen werden.
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Das Gericht hat Frau N. L. , eine Betreuerin des Klägers in der LWL-Klinik, in der
mündlichen Verhandlung informatorisch zum Verlauf der Therapie befragt. Wegen der
Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf den Inhalt der Verfahrensakte und der Beiakten sowie den Inhalt der
beigezogenen Verfahrensakte 8 K 1786/09 nebst Beiakte Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
15
Die Klage hat Erfolg.
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Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 25.
Februar 2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs.1
VwGO). Die Voraussetzungen des § 73 Abs.1 AsylVfG für einen Widerruf der mit
Bescheid vom 8. Februar 2000 erfolgten Anerkennung des Klägers liegen nicht vor.
Nach § 73 Abs.1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die
Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen sind weder nach §
60 Abs.8 Satz 1 AufenthG entfallen noch hat sich die Verfolgungslage für den Kläger
erheblich und nicht nur vorübergehend geändert.
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Ein Widerruf kann zunächst darauf gestützt werden, dass der Asylberechtigte oder
Flüchtling nachträglich einen Ausschlussgrund nach § 60 Abs.8 Satz 1 AufenthG
verwirklicht hat. Nach § 60 Abs.8 Satz 1 AufenthG findet Abs.1 der Vorschrift keine
Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für
die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder wegen eines
besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens
drei Jahren verurteilt worden ist. Diese Bestimmung schließt nicht nur den Anspruch auf
ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs.1 AufenthG, sondern auch denjenigen auf Asyl
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nach Art. 16 a Abs.1 GG aus.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -,
BVerwGE 124, 276 ff.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs.8 Satz 1 2. Alt. AufenthG liegen
hier vor, denn der Kläger ist mit Urteil des Landgerichts München II vom 12. August 2008
wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei
Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt worden. Eine solche rechtskräftige
Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren führt jedoch nur dann
zum Ausschluss, wenn im Einzelfall auch eine konkrete Wiederholungsgefahr
festgestellt wird. Dies ist der Fall, wenn in Zukunft neue vergleichbare Straftaten des
Ausländers ernsthaft drohen. Bei dieser Prognose sind die besonderen Umstände des
Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die
Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei
einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, aber auch die Persönlichkeit des Täters und
seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen
Entscheidungszeitpunkt. Dabei ist die der gesetzlichen Regelung zugrundeliegende
Wertung zu beachten, dass Straftaten, die so schwerwiegend sind, dass sie zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren geführt haben, typischerweise mit einer
hohen Wiederholungsgefahr verknüpft sind.
20
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Oktober 2009 - 10 B 17/09 -, abrufbar in JURIS, und
Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 -, BVerwGE 112, 185 zur wortgleichen
Vorschrift des § 51 Abs.3 2. Alt. AuslG 1990.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen kann hier eine konkrete Wiederholungsgefahr nicht
festgestellt werden. Zwar spricht einerseits gegen den Kläger das typischerweise hohe
Wiederholungsrisiko bei Rauschgiftdelikten, die regelmäßig mit einer hohen kriminellen
Energie verbunden sind und in schwerwiegender Weise Gesundheit und Leben anderer
Menschen gefährden.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000, a.a.O., S. 192.
23
Auch der Umstand, dass der Kläger wiederholt wegen verschiedener Rauschgiftdelikte
verurteilt worden ist und noch vor Rechtskraft seiner letzten Verurteilung zu einer
Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten erneut rückfällig geworden ist, spricht für ein
hohes Wiederholungsrisiko.
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Andererseits ist bei der Prognose zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass die
verhängte Strafe von 3 Jahren sich im unteren Bereich des Strafrahmens bewegt und
dass die Taten nach den Feststellungen des LG München II in einem derart
überwachten Rahmen stattfanden, dass von dem übergebenen Rauschgift keine Gefahr
für die Gesundheit der Allgemeinheit ausging.
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Das Gericht ist letztlich aufgrund der Entwicklungen nach der Verurteilung der
Auffassung, dass keine konkrete Gefahr der Wiederholung besteht. Aufgrund der bisher
erfolgreichen Therapie besteht begründeter Anlass, dass der Kläger nicht erneut
straffällig wird. Der Kläger war aufgrund seiner Drogensucht bei der Begehung der
Straftaten vermindert schuldfähig und die von ihm begangenen Straftaten waren auf
seine Abhängigkeit zurückzuführen. Wegen der nicht aufgearbeiteten Drogensucht und
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fehlender Therapiebereitschaft sind auch die Landgerichte Dortmund und Kleve davon
ausgegangen, dass die Strafen wegen der Rückfallgefahr nicht zur Bewährung
auszusetzen waren. Auch das LG München II hat festgestellt, dass der Kläger einen
Hang aufweist, im Übermaß berauschende Mittel zu sich zu nehmen, und er infolge
dieses Hanges dazu neigt, erhebliche rechtswidrige Taten zu begehen. Es hat jedoch
aufgrund der Therapiebereitschaft des Klägers die Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt angeordnet. Alle Gerichte waren somit der Auffassung, dass eine
Rückfallgefahr nur dann nicht gegeben ist, wenn der Kläger seine Drogensucht
erfolgreich bekämpft. Dieser Auffassung schließt sich das Gericht an.
Steht die Delinquenz des Klägers in direktem Zusammenhang mit seiner Drogensucht,
so ist die Abstinenz zwingende Voraussetzung für ein zukünftig straffreies Leben. Für
eine günstige Prognose spricht hier der bisherige Therapieverlauf. Zwar lassen sich
verlässliche Vorhersagen zum Erfolg von Therapien gerade angesichts der hohen
Rückfallquote bei Suchtkranken immer nur für einen begrenzten Zeitraum machen und
eine für die aufenthaltsrechtliche Einschätzung erforderliche positive längerfristige
Gefahrenprognose kann deshalb häufig nicht gestellt werden.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
29. Juli 2008 - 15 A 620/07.A -, abrufbar in JURIS.
28
Dies bedeutet aber nicht, dass eine positive Gefahrenprognose schon deshalb
ausgeschlossen ist, weil verlässliche langfristige Vorhersagen kaum möglich sind.
Sprechen alle Umstände für einen positiven Therapieverlauf, so kann auch bei
Suchtkranken eine positive langfristige Gefahrenprognose gestellt werden. Von einem
solchen Fall ist beim Kläger auszugehen. In der Stellungnahme des LWL-
Therapiezentrums vom 10. August 2010 wird von einer günstigen Behandlungs-, Sozial-
, und Legalprognose ausgegangen. In der Stellungnahme vom 5. Oktober 2010 wird
dies noch einmal bestätigt. Der Kläger ist weder rückfällig geworden noch hat er
Regelverstöße begangen. Er erhält inzwischen Urlaub und arbeitet außerhalb der Klinik
in einem Handwerksbetrieb. Frau L. hat als mit der Situation des Klägers besonders
vertraute Bezugspflegerin hierzu in der mündlichen Verhandlung noch ergänzend
ausgeführt, dass sich der Kläger nach ihrem Eindruck sehr gut entwickle und dass der
Therapieverlauf gut sei. Der Kläger sei sehr gesprächsbereit, arbeite sehr eng mit den
Bezugspflegern zusammen und gehe sehr ernsthaft mit seiner Drogensucht um.
Vermitteln die Stellungnahmen und Erklärungen der Maßregelklinik und der
Bezugspflegerin ein überaus positives Bild hinsichtlich des Verlaufes der Therapie, so
geht das Gericht aufgrund des Eindrucks, den es vom Kläger in der mündlichen
Verhandlung gewonnen hat, davon aus, dass der Kläger seine Drogensucht ernsthaft
bekämpft. Der Kläger hat eindringlich und nachvollziehbar dargelegt, dass er erst spät
seine Drogensucht erkannt hat und nunmehr gegen sie ankämpfe. Er hat erklärt, dass er
einen Antrag auf vorläufige Entlassung nicht stellen wolle, weil er die Therapie in der
Einrichtung beenden wolle. Er hat überzeugend geschildert, dass er ein neues Leben
mit einer neuen Familie beginnen wolle und dass er sich bewusst sei, dass dies seine
letzte Chance in Deutschland sei.
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Der Kläger ist bis zum 16. Juli 2012 in der Entziehungsanstalt untergebracht. Nach den
Angaben von Frau L. kommt eine Entlassung aus der Einrichtung nur in Betracht, wenn
er eine eigene Wohnung oder eine eigene Berufsperspektive hat. Ansonsten wird der
Kläger in einer nachsorgenden Einrichtung der Klinik untergebracht. Die Kammer geht
daher davon aus, dass sich auch die bisherigen Lebensumstände des Klägers nach
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seiner Entlassung verbessern und er nicht in sein früheres Umfeld zurückkehrt. Nach
alledem droht nicht ernsthaft, dass der Kläger nach seiner Entlassung aus dem
Maßregelvollzug wieder drogenabhängig wird und neue vergleichbare Straftaten
begeht.
Liegen somit die Voraussetzungen für einen Widerruf auf der Grundlage von § 60 Abs.8
Satz 1 AufenthG nicht vor, so kann der Widerruf auch nicht auf den späteren Wegfall der
Verfolgungsgefahr gestützt werden. Nach § 73 Abs.1 Satz 1 AsylVfG ist die Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung insbesondere zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht
mehr vorliegen. Die Voraussetzungen sind nach Satz 2 der Vorschrift insbesondere
dann entfallen, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung
als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es
nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt. Die Voraussetzungen müssen nachträglich, d.h. nach
dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Anerkennungsbescheides
maßgeblichen Zeitpunkt weggefallen sein. Zudem muss die Veränderung der
Umstände, aufgrund derer der Betroffene ursprünglich als Asylberechtigter oder als
Flüchtling anerkannt worden ist, erheblich und nicht nur vorübergehend sein.
Abzustellen ist insoweit auf die objektiven Verhältnisse. Ändert sich im Nachhinein
lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage, so rechtfertigt dies den Widerruf nicht,
selbst wenn die andere Beurteilung auf erst nachträglich bekannt gewordenen oder
neuen Erkenntnissen beruht.
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Vgl. BVerwG, Urt. vom 1. November 2005, a.a.O. und OVG Lüneburg, Urteil vom 11.
August 2010 - 11 LB 405/08 -, abrufbar in JURIS.
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Gemessen an diesen Kriterien kann hier nicht festgestellt werden, dass sich die
Verhältnisse seit der Anerkennung des Klägers im Jahr 2000 erheblich und nicht nur
vorübergehend verbessert haben. Auszugehen ist dabei von der Annahme, dass der
Kläger wegen einer individuellen, auf eigenen politischen Aktivitäten beruhenden
Verfolgung anerkannt worden ist und dass seine Anerkennung nicht - wie im Bescheid
vom 25. Februar 2010 angenommen - allein auf einer untergeordneten Betätigung für
eine monarchistische Organisation. Der Kläger hatte sich bei seiner Anhörung zwar
darauf berufen, dass er sich für eine monarchistische Organisation engagiert habe und
im Jahr 1999 in der Wohnung eines Freundes festgenommen und drei Tage
festgehalten worden sei. Er hatte aber auch darauf hingewiesen, dass er bereits im Jahr
1996 für sechs Monate inhaftiert worden sei und dass er sich drei Monate vor seiner
Ausreise in exponierter Weise wiederholt an Protesten der Studenten in Teheran
beteiligt habe. Er sei wegen dieser Beteiligung an Demonstrationen zu Hause gesucht
worden und wegen der drohenden erneuten Verhaftung ausgereist. Das Bundesamt hat
hierzu im Anerkennungsbescheid ausdrücklich festgestellt, dass "aufgrund des vom
Kläger geschilderten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass er von den
Sicherheitsbehörden als Regimegegner angesehen wird, deswegen bereits vor seiner
Ausreise freiheitsentziehenden Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war und im
Zeitpunkt seiner Flucht aus dem Heimatland von den Sicherheitskräften gesucht wurde".
Beruhte die Anerkennung somit auf der drohenden Verfolgung des den
Sicherheitsbehörden als Regimegegner bekannten und vor unmittelbar drohender
(erneuter) Verfolgung ausgereisten Klägers, so kann eine nachträgliche und erhebliche
Veränderung der Verhältnisse nicht festgestellt werden. Denn Regimegegner sind im
Iran nach wie vor und sogar derzeit noch in erheblich höherem Umfang als noch im Jahr
2000 staatlicher Verfolgung ausgesetzt. So bewertet das Auswärtige Amt in seinem
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jüngsten Lagebericht vom 28. Juli 2010 zusammenfassend die innenpolitische Lage im
Iran wie folgt:
"Die innenpolitische Lage hat sich oberflächlich beruhigt, darunter brodelt es jedoch
weiter. Die von der Regierung als existenziell wahrgenommene Bedrohung des
Systems durch die heterogene Oppositionsbewegung führt dazu, dass diese mit allen
zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft wird. Elementare Menschen- und
Freiheitsrechte sowie zivilgesellschaftliche Spielräume bleiben hierbei auf der Strecke.
Die Herrschenden richten ihren Blick nach ihnen und versuchen, völlige Kontrolle über
die Situation zurückzuerlangen.
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Weite Teile der Bevölkerung, deren gesellschaftliche Vorstellungen von denen der
Regierung abweichen, und die dies in irgendeiner Form äußern, müssen mit
systematischer Überwachung, Repressalien und Verhaftung rechnen. Das Vorgehen
der Behörden, allen voran der Sepah-Padaran ("Revolutionswächter") zielt darauf,
Andersdenkende von der Äußerung systemkritischer Meinungen abzuhalten und
Gefahren für das politische System auszuschalten.
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Die Gewaltenteilung unterliegt immer stärkeren Einschränkungen. Besonders auf die
Justiz wird in zahlreichen Strafverfahren Druck von Seiten der Exekutive ausgeübt; dies
macht faire Verfahren zunehmend unmöglich und leistet Willkür Vorschub."
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Amnesty International führt in dem Bericht vom Juni 2010 "Vom Protest ins Gefängnis -
Iran ein Jahr nach der Wahl" zur Einleitung aus:
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"Ein Jahr nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 sehen sich
Iraner, die die Regierung kritisieren oder gegen die zunehmenden
Menschenrechtsverletzungen protestieren, mit verschärfter Unterdrückung durch die
Behörden und kaum fassbaren Geheimdienste konfrontiert, die - zunächst tief erschüttert
von den folgenden Ereignissen - ihren Zugriff auf das Land gefestigt und ihre
jahrelangen Unterdrückungsmaßnahmen verschärft haben."
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Zwar richten sich die Maßnahmen zunächst gegen die im Iran lebenden Mitglieder der
Oppositionsbewegung, doch zeigt das Vorgehen, dass auch in den Iran zurückkehrende
bekannte Regimegegner aufgrund des willkürlichen Vorgehens der iranischen
Sicherheitskräfte Verfolgung zu befürchten haben. Angesichts dessen kann keine Rede
davon sein, dass sich die Verhältnisse nachträglich so geändert haben, dass bei einer
Rückkehr eines den Sicherheitskräften bekannten Regimegegners, der nach erlittener
Verfolgung ausgereist und im Zeitpunkt seiner Flucht erneut gesucht worden ist, eine
Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender
Sicherheit auszuschließen ist.
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Der unter Nr. 1 und 2. des Bescheides erfolgte Widerruf der Asyl- und
Flüchtlingsanerkennung ist somit rechtswidrig und aufzuheben. Die Bestandskraft des
Bescheides vom 8. Februar 2000 steht auch einer Entscheidung über das Vorliegen von
Abschiebungsverboten (Nr. 3 und 4 des Bescheides) entgegen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs.1 VwGO, 83b AsylVfG.
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