Urteil des VG Aachen vom 03.03.2006

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Verwaltungsgericht Aachen, 3 L 35/06
Datum:
03.03.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
3 L 35/06
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung der von den Antragstellern erhobenen
Baunachbarklage (3 K 241/06) gegen die der Beigeladenen erteilte 3.
Teilbaugenehmigung (Variante 3 b) vom 21. November 2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2006 wird
angeordnet.
Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die Kosten des
Verfahrens je zur Hälfte; außergerichtliche Kosten der Beigeladenen
sind nicht erstattungsfähig.
2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.
G r ü n d e : 1. Der Antrag mit dem Inhalt,
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die aufschiebende Wirkung der Baunachbarklage (3 K 241/06) gegen die der
Beigeladenen erteilte 3. Teilbaugenehmigung (Variante 3 b) vom 21. November 2005 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2006 anzuordnen,
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hat Erfolg.
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Der Antrag ist als Eilantrag auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Teil-
baugenehmigung gemäß § 212 a Abs. 1 des Baugesetzbuches (BauGB) in Verbindung
mit §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 80 a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2 und 80 Abs. 5 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne Weiteres zulässig.
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Der zulässige Aussetzungsantrag ist auch begründet.
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Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Halbsatz VwGO gebotenen Abwägung der
gegenläufigen Vollziehungsinteressen überwiegt das Interesse der antragstellenden
Nachbarn an der Aussetzung der für das strittige Vorhaben erteilten 3.
Teilbaugenehmigung (Variante 3 b), weil die gleichzeitig erhobene Baunachbarklage
mit erheblicher Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird. Es liegen nämlich gewichtige
Anhaltspunkte dafür vor, dass der Inhalt dieser Teilbaugenehmigung die Antragsteller in
ihrem Baunachbarrecht auf (strikte) Einhaltung der in § 6 der Bauordnung für das Land
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Nordrhein-Westfalen (BauO NRW) vorgeschriebenen Abstandflächen verletzt.
Dabei ist zwischen den Beteiligten unstrittig und bedarf keiner weiteren Darlegung, dass
die angegriffene Teilbaugenehmigung bei der Errichtung der geplanten Kreissparkasse
eine Außenwand im Auge des Treppenraumes des 3. Obergeschosses zulässt, welche
mit Blick auf das Nachbargrundstück der Antragsteller jedenfalls die von § 6 Abs. 5 Satz
5 BauO NRW vorgesehene Abstandfläche von mindestens 3,0 m nicht einhält.
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Maßgeblich ist damit allein, ob der Antragsgegner der beigeladenen Bauherrin insoweit
eine geringere Tiefe der Abstandfläche gestatten durfte. Diese Frage ist schon bei
summarischer Prüfung der dafür in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen zu
verneinen.
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Da vorliegend weder eine Nutzungsänderungen noch eine geringfügige bauliche
Veränderung bestehender Gebäude in Rede steht, kommt § 6 Abs. 15 BauO NRW als
Grundlage für die Gestattung geringerer Abstandflächen nicht zur Anwendung.
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§ 6 Abs. 16 BauO NRW scheidet als Rechtsgrundlage für die zugelassene
Unterschreitung der Abstandfläche ebenfalls aus. Nach dieser Vorschrift können in
bebauten Gebieten geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet oder verlangt werden,
wenn die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse
dies unter Berücksichtigung nachbarlicher Belange rechtfertigen und wenn Gründe des
Brandschutzes nicht entgegenstehen. Sinn der Regelung ist die Erhaltung alter
Ortsbilder und historischer Bausubstanz auch durch Ermöglichung der Einfügung von
Neubauten in gewachsene Stadtstrukturen unter Einhaltung alter Straßenfluchten und
zur Erhaltung von Traufgassen.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschluss vom 23. Oktober 1995 - 10 B
2661/95 -, juris.
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§ 6 Abs. 16 BauO NRW verlangt als Ausnahmetatbestand besondere städtebauliche
Verhältnisse für eine Unterschreitung der Abstandfläche. Das kann beispielsweise der
Fall sein, wenn ein Gebäude, das die Abstandflächen einhält, störend aus dem Rahmen
eines sonst durch im Wesentlichen einheitliche Bebauung geprägten Straßen- oder
Umgebungsbildes fallen würde. Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Oktober 1998 - 7 B
1850/98 -, juris.
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Diese Voraussetzungen sind hier nicht ansatzweise erfüllt. Soweit der Antragsgegner im
Abweichungsbescheid vom 21. November 2005 eine Zielvorstellung zum Ausdruck
bringt, nach der eine abgestufte Bauausführung des Vorhabens wegen der deutlich
niedrigeren nördlichen Nachbarbebauung (scil.: auf dem Grundstück der Antragsteller)
wünschenswert erscheine, ist die Verwirklichung dieses städtebaulichen Ziels ohne
Weiteres auch unter Einhaltung der von § 6 BauO NRW vorgesehenen Abstandflächen
möglich, mithin eine Unterschreitung der Mindestabstandflächen unter diesem
Gesichtspunkt nicht gerechtfertigt.
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Des Weiteren stellt die vom Antragsgegner herangezogene Regelung in § 73 Abs. 1
BauO NRW keine tragfähige Rechtsgrundlage für die Zulassung einer Abweichung von
abstandrechtlichen Vorgaben dar. Liegt keiner der ausdrücklich in § 6 BauO NRW
geregelten "Abweichungsfälle" vor, kommt die Erteilung einer solchen Abweichung nur
dann in Betracht, wenn eine atypische Grundstückssituation vorliegt, die von dem
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Normalfall, der den gesetzlichen Regelungen in § 6 BauO NRW zugrunde liegt, so
deutlich abweicht, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu Ergebnissen führt, die
der Zielrichtung der Norm nicht entsprechen.
Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 27. Oktober 2005 - 7 B 1351/05 - m.w.N., juris.
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Vorliegend fehlt jedwede grundstücksbezogene Besonderheit des Antragsgrundstücks,
die Veranlassung geben könnte, die in § 6 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW vom Gesetzgeber
im wechselseitigen Interesse beider Nachbarn aufgestellte Regel, wonach
"Abstandflächen auf dem Grundstück selbst liegen müssen", einseitig zu Gunsten der
Beigeladenen zu durchbrechen. Im Übrigen darf bei der Anwendung des § 73 Abs. 1
BauO NRW die in § 6 BauO NRW zum Ausdruck kommende grundlegende
Unterscheidung zwischen offener Bauweise einerseits, bei der Außenwände den
Bauwich einhalten, und geschlossener Bauweise andererseits, bei der Außenwände
grenzständig aufstehen, nicht im Wege behördlicher Abweichungsentscheidungen
verwischt werden. Beide Bauweisen beinhalten unterschiedliche Vorgaben, die im
jeweiligen Fall für sich genommen zu erfüllen sind. Die vom Antragsteller ins Feld
geführte Vergleichsbetrachtung, wonach im Fall der hier strittigen Wand die
Nichteinhaltung der Abstandflächen mit Blick auf die Verschattung des
Nachbargrundstücks vorteilhafter erscheine als deren grenzständige Errichtung, ist dem
Bauordnungsrecht fremd.
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Abschließend merkt die Kammer an, dass Nachbarschutz aus § 6 BauO NRW
unabhängig davon besteht, ob die Nichteinhaltung der Abstandfläche im Vergleich zu
deren Einhaltung zu einer spürbaren Beeinträchtigung nachbarlicher Belange führt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3
VwGO.
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2. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 Nr. 2 des
Gerichtskostengesetzes (GKG) und berücksichtigt die Baunachbarklage gegen den
Erlass einer ihrem Regelungsgehalt nach nicht unbedeutenden Teilbaugenehmigung
mit 10.000,- Euro, wobei wegen des summarischen Charakters des vorliegenden
Nachbareilantrags dieser Betrag zur Hälfte anzusetzen ist.
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