Urteil des VG Aachen vom 13.05.2005

VG Aachen: fraktion, ungültigkeit, aufsichtsbehörde, klagebefugnis, einspruch, stadtrat, anschluss, wahlergebnis, gutachter, ungültigerklärung

Verwaltungsgericht Aachen, 4 K 1143/02
Datum:
13.05.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 1143/02
Tenor:
1. Soweit die Kläger zu 1) bis 9) ihre Klagen zurückgenommen haben,
wird das Verfahren eingestellt.
Insoweit tragen die Kläger zu 1) bis 9) als Gesamtschuldner insgesamt
9/30 der Gerichtskosten und der außergerichtlichen Kosten des
Beklagten sowie 1/3 ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten. Die
Beigeladenen tragen ihre eigenen außergerichtlichen Kosten zu 1/3.
2. Die Beschlüsse des Beklagten vom 6. Mai 2002 und vom 23. Mai
2002 über die Ungültigkeit der Wahl zum Rat der Stadt X. vom 12.
September 1999 werden aufgehoben. Auf die Klage des Klägers zu 10)
wird der Beklagte verpflichtet, die Gültigkeit der Wahl zum Rat der Stadt
X. vom 12. September 1999 festzustellen.
Der Beklagte trägt 7/30 der Gerichtskosten und 2/9 der
außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1) bis 9) sowie die
außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 10) zu 1/3. Die Beigeladenen
zu 8) und 10) tragen als Gesamtschuldner 14/30 der Gerichtskosten und
4/9 der außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 1) bis 9) sowie die
außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 10) zu 2/3. Der Beklagte trägt
seine eigenen außergerichtlichen Kosten zu 21/30. Die Beigeladenen
tragen ihre eigenen außergerichtlichen Kosten zu 2/3.
T a t b e s t a n d :
1
Die Kläger zu 1) bis 9) sind Mitglieder des Rates der Stadt X. . Kläger zu 10) ist der
Landrat des Kreises I. als kommunale Aufsichtsbehörde. Sie wenden sich gegen
Beschlüsse des Beklagten, mit denen dieser die Ungültigkeit der Wahl zum Rat der
Stadt X. vom 12. September 1999 festgestellt hat.
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Nach Durchführung der Ratswahl am 12. September 1999 stellte der Wahlausschuss
der Stadt X. in seiner Sitzung vom 14. September 1999 zu den in den einzelnen
Wahlbezirken direkt gewählten Bewerbern bzw. zum Wahlergebnis aufgrund des
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Verhältnisausgleichs aus den Reservelisten das vorläufige amtliche Endergebnis fest.
Am 15. September 1999 wurden im Amtsblatt der Stadt X. die Ergebnisse der
Kommunalwahlen vom 12. September 1999 bekannt gegeben.
Am 26. Oktober 1999 gingen bei der Stadt X. fünf Schreiben der CDU- Fraktion vom
gleichen Tag ein, die jeweils als Einspruch überschrieben und vom stellvertretenden
Vorsitzenden der CDU-Fraktion Dr. L. T. verfasst waren. Sämtliche Einsprüche richteten
sich gegen die Gültigkeit der am 26. September 1999 durchgeführten
Bürgermeisterstichwahl.
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Mit Schreiben vom 11. November 1999 teilte der Wahlleiter dem
Wahlprüfungsausschuss mit, gegen die Gültigkeit der Kommunalwahlen 1999 seien
insgesamt sechs Einsprüche fristgerecht eingelegt worden. Mit Schreiben vom 18.
November 1999 listete der Wahlleiter dem Vorsitzenden des Wahlprüfungsausschusses
die sechs Einsprüche auf. Neben den Einsprüchen der CDU-Fraktion war ein weiterer
Einspruch eingelegt worden, über den die Kammer bereits mit Gerichtsbescheid vom
23. August 2000 (4 K 755/00) abschlägig entschieden hat.
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Ende Januar 2000 verfasste die Verwaltung zur Vorbereitung der Sitzung des
Wahlprüfungsausschusses vom 17. Februar 2000 sowie der Sitzung des Stadtrates vom
16. März 2000 fünf Beschlussvorlagen jeweils mit dem Inhalt, die Einsprüche der CDU-
Fraktion gegen die Gültigkeit der Wahl vom 26. September 1999 zurückzuweisen. Die
Beschlussvorlagen wurden in den Sitzungen des Wahlprüfungsausschusses sowie des
Rates zurückgewiesen und die Verwaltung wurde beauftragt, weitere Überprüfungen
und Auswertungen vorzunehmen.
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Am 19. Dezember 2001 beauftragte der Beklagte den Rechtsanwalt Prof. Dr. T1. mit der
Erstellung eines Gutachtens über die Gültigkeit der Kommunalwahlen in X. vom
September 1999.
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Zum 16. März 2002 legte Prof. Dr. T1. sein Gutachten zur Frage der Gültigkeit der
Kommunalwahlen 1999 in der Stadt X. vor, in dem er zum Ergebnis kam, dass keine
Unregelmäßigkeiten gegeben seien, die zur Feststellung der Ungültigkeit der
Kommunalwahlen berechtigten.
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Für die zweite Sitzung des Wahlprüfungsausschusses am 8. April 2002 erarbeitete die
Verwaltung eine Beschlussvorlage, in der vorgeschlagen wurde, die Wahl zum Stadtrat
am 12. September 1999 für gültig zu erklären (TOP 4). Vor Abstimmung über den
Tagesordnungspunkt 4 verlas der Stadtverordnete Schmitz eine Stellungnahme der
CDU-Fraktion, wonach bei der Ratswahl eine größere Zahl von Fälschungen bzw.
Manipulationen zu konstatieren sei. Prof. Dr. T1. gehe von 30 Fällen, sie von 621
weiteren Fällen aus. Sie seien sich bewusst, dass sie sich juristisch wahrscheinlich auf
sehr dünnem Eis bewegten. Im Anschluss hieran wurde der Beschlussvorschlag des
Wahlleiters, die Wahl zum Stadtrat der Stadt X. vom 12. September 1999 für gültig zu
erklären, mit 6 Ja-Stimmen zu 7 Nein-Stimmen abgelehnt. Der Antrag der CDU-Fraktion,
die Wahl zum Rat der Stadt X. vom 12.09.1999 für ungültig zu erklären, wurde mit 7 Ja-
Stimmen zu 6 Nein-Stimmen angenommen.
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In der Sondersitzung des Rates der Stadt X. vom 6. Mai 2002 wurde zur Gültigkeit der
Stadtratswahlen unter TOP 3a verhandelt. Prof. Dr. T1. nahm zu verschiedenen von ihm
untersuchten Umständen der Kommunalwahl Stellung. Zum Abschluss seiner
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Ausführungen erklärte der Gutachter, er sei nach wie vor der Auffassung, dass die
Ratswahl gültig sei.
Im Anschluss hieran erklärte der Vorsitzende der CDU-Fraktion, dass sich die CDU-
Fraktion nicht der Auffassung des Gutachters anschließe und verwies auf die
Stellungnahme seiner Fraktion vom 8. April 2002. Zudem verlas er eine Stellungnahme,
die der Niederschrift als Anlage beigefügt wurde. In dieser Stellungnahme wurde erneut
auf die Stellungnahme der CDU vom 8. April 2002 verwiesen. Zudem wurden
zusammenfassend drei Ungültigkeitsgründe aufgeführt: 30 Fälle von
Unregelmäßigkeiten im Sinne von Wahlfälschungen, die die Staatsanwaltschaft zur
Einleitung von Strafverfahren veranlasst hätten. 612 Fälle, in denen dem Bürgermeister
aus dem Rathaus heraus Briefwahlunterlagen vorgelegt worden seien; es sei davon
auszugehen, dass er sein Wissen den Mandatsbewerbern der SPD habe zukommen
lassen. Auch gebe es eine Dunkelziffer von weiteren Fällen. Die Neue Wähler Initiative
(NWI) Fraktion griff in der Sitzung vom 6. Mai 2002 aus dem Gutachten von Prof. T1.
verschiedene Zahlen heraus (30 Fälschungen von Wahlscheinen, 73
Wahlverfehlungen, 250 Unregelmäßigkeiten) und erklärte, dass diese der SPD-Szene
zuzuordnen seien. Diese Verfehlungen dürfe der Rat nicht tolerieren. Im Anschluss
hieran führte der CDU-Fraktionsvorsitzende aus, dass der Rat die Entscheidung zu
treffen habe, "ganz gleich wie tüchtig oder schlecht der Gutachter sein Ergebnis erbracht
habe". Bei der folgenden namentlichen Abstimmung zu TOP 3b wurde der
Beschlussvorschlag des Wahlleiters mit 15 Nein-Stimmen gegen 12 Ja-Stimmen bei
einer Enthaltung zurückgewiesen und mit dem selben Stimmenverhältnis beschlossen,
die Wahl zum Rat der Stadt X. vom 12. September 1999 für ungültig zu erklären.
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Im Anschluss hieran erklärte der Beigeordnete Bente als allgemeiner Vertreter des
Bürgermeisters, dass er diesen Ratsbeschluss gemäß § 54 Absatz 2 Gemeindeordnung
Nordrhein-Westfalen (GO NW) beanstande.
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Mit Schreiben vom 16. Mai 2002 wies die Bezirksregierung Köln den Kläger zu 10), den
Landrat des Kreises I. , an, gegen den Beschluss des Beklagten vom 6. Mai 2002 über
die Ungültigkeit der Wahl des Stadtrates fristgerecht seine Klagebefugnis auszuüben.
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Unter dem 21. Mai 2002 erstattete Prof. Dr. T1. ein Ergänzungsgutachten mit dem
Ergebnis, er könne, nachdem ihm ein anonymes Schreiben über verwaltungsinterne
Vorgänge und ein Vermerk über ein Gespräch des Vorsitzenden des
Wahlprüfungsausschusses mit einer Wahlberechtigten zugegangen seien, zur Gültigkeit
der Kommunalwahlen in X. keine Aussage mehr treffen.
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In seiner Sitzung vom 23. Mai 2002 bekräftigte der Beklagte seine Entscheidung, die
Ratswahl für ungültig zu erklären und wies dementsprechend die Beanstandung des
Ratsbeschlusses vom 6. Mai 2002 zurück.
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Die Kläger haben Ende Mai bzw. Anfang Juni 2002 Klage erhoben, zu deren
Begründung sie vortragen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen die
Wahl zum Stadtrat für ungültig erklärt werden könnte, nicht vorlägen. Es seien zwar
Unregelmäßigkeiten vorgekommen, diese seien jedoch nach dem Gutachten von Prof.
Dr. T1. nicht von entscheidendem Einfluss auf das Wahlergebnis gewesen. Der
Niederschrift über die Ratssitzung vom 6. Mai 2002 seien keine Fakten oder Argumente
zu entnehmen, die die Annahme von wahlentscheidenden Unregelmäßigkeiten
rechtfertigen könnten. Im Übrigen sei der Beschluss rechtswidrig, da keine
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Wiederholungswahl angeordnet worden sei.
Die Prozessbevollmächtigte des Klägers zu 8) trägt ergänzend vor, dass dieser in
seinem Wahlbezirk 12 mit 225 Stimmen gewählt worden sei. Der CDU Kandidat habe
nur 198 Stimmen erhalten. Selbst wenn es in 6 oder 10 Fällen zu Unregelmäßigkeiten
gekommen sein sollte, was bestritten werde, würde dies am Ergebnis im Wahlbezirk 12
nichts ändern. Änderungen für das Gesamtergebnis im Rat würden ebenfalls nicht
eintreten.
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Der Prozessbevollmächtigte des Klägers zu 9) trägt ergänzend vor, dass dieser in
seinem Wahlbezirk 4 mit 408 Stimmen gewählt worden sei. Der CDU Kandidat habe nur
182 Stimmen erhalten. Bezüglich der gesamten Sitzverteilung im Rat ergäben sich auch
bei Abzug aller 30 Stimmen wegen reklamierter Fälschungen keine Änderungen.
Etwaige Unregelmäßigkeiten könnten daher keine wahlentscheidende Bedeutung
haben.
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Der Kläger zu 10) führt an, ungeachtet des Umstandes, dass es in den Strafverfahren
nicht zu Verurteilungen gekommen sei, sei davon auszugehen, dass
Unregelmäßigkeiten vorlägen. Im Rahmen der strafrechtlichen Verfahren sei lediglich
nicht mehr aufzuklären gewesen, wer Verursacher dieser Unregelmäßigkeiten gewesen
sei. Er mache sich die Feststellungen von Prof. Dr. T1. in dessen Gutachten vom 16.
März 2002 zu eigen, der 30 Wahlfälschungen bzw. Unregelmäßigkeiten festgestellt
habe. Diese seien jedoch ohne entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis
gewesen. Daher sei die Wahl zum Stadtrat vom 12. September 1999 für gültig zu
erklären.
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Nachdem die Kläger zu 1) bis 9) ihre Klagen in der mündlichen Verhandlung teilweise
zurückgenommen haben, beantragen sie nunmehr,
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die Beschlüsse des Beklagten vom 6. und 23. Mai 2002, mit denen die Wahl zum Rat
der Stadt X. vom 12. September 1999 für ungültig erklärt wird, aufzuheben.
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Der Kläger zu 10) beantragt,
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die Beschlüsse des Beklagten vom 6. und 23. Mai 2002, mit denen die Wahl zum Rat
der Stadt X. vom 12. September 1999 für ungültig erklärt wird, aufzuheben und den
Beklagten zu verpflichten, die Wahl zum Stadtrat der Stadt X. 1999 für gültig zu erklären.
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Der Beklagte und die Beigeladenen zu 8) und 10) beantragen,
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die Klagen abzuweisen.
25
Die weiteren Beigeladenen stellen keine Anträge.
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Die Beigeladenen zu 8) und 10) führen aus, dass die Klagen unzulässig seien. Für eine
Verpflichtungsklage des Klägers zu 10) fehle es an der gemäß § 42 Absatz 2 VwGO
erforderlichen Klagebefugnis, da ein Anspruch auf Feststellung der Gültigkeit der Wahl
nicht bestehe. Im Übrigen fehle vorliegend das erforderliche Vorverfahren, weil sich die
Klagen mangels Anordnung einer Wiederholungswahl nicht gegen einen
Ratsbeschluss im Sinne des § 41 Absatz 1 Satz 1 KWahlG NRW richteten. Selbst
hinsichtlich des Anfechtungsteils seien die Klagen der Ratsmitglieder mangels
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Klagebefugnis unzulässig, da die gewählten Ratsmitglieder durch den feststellenden
Beschluss in eigenen Rechten nicht verletzt würden.
Während des laufenden Klageverfahrens hat der Gutachter Prof. Dr. T1. unter dem 6.
Juni 2002 ein zweites Ergänzungsgutachten vorgelegt, in dem er zu seiner
ursprünglichen Aussage zurückkehrt, dass die Kommunalwahlen gültig seien. Mit einem
am 25. November 2003 bei Gericht eingegangenen Schreiben hat der Bürgermeister der
Stadt X. mitgeteilt, dass nunmehr alle strafrechtlichen Verfahren im Zusammenhang mit
der Ratswahl am 12. September 1999 eingestellt bzw. mit Freispruch beendet worden
seien.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Wahlleiters und des Wahlamtes der
Stadt X. Bezug genommen.
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En t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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1. Soweit die Kläger zu 1) bis 9) ihre Klagen zurückgenommen haben, ist das Verfahren
nach § 92 Absatz 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - einzustellen.
Insoweit haben die Kläger die Kosten des Verfahrens im tenorierten Umfang zu tragen.
Es entspricht nicht der Billigkeit, den Klägern zu 1) bis 9) insoweit die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, vgl. § 162 Absatz 3 VwGO,
da sich kein Beigeladener hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klagen durch
Antragstellung einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat. Die
Klageabweisungsanträge der Beigeladenen zu 8) und 10) sind in der mündlichen
Verhandlung erst nach den Teilrücknahmeerklärungen der Kläger zu 1) bis 9) gestellt
worden.
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2. Die Klagen sind im aufrecht erhaltenen Umfang zulässig und begründet. Die Klage ist
hinsichtlich der begehrten Aufhebung der Ratsbeschlüsse jeweils als Anfechtungsklage
statthaft, da die Kläger die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehren. Der Beschluss
über die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Kommunalwahl ist ein rechtsgestaltender
Verwaltungsakt,
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vgl. OVG NRW, Urteile vom 22. Februar 1991 - 15 A 1518/90 - OVGE 42, 152 und vom
28. November 1980 - 15 A 1660/80 - OVGE 35, 144.
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Die Kläger sind klagebefugt. Die Klagebefugnis der Kläger zu 1) bis 9) ergibt sich aus §
42 Absatz 2 VwGO, da die Ungültigerklärung der Ratswahl in deren Rechtsstellung mit
der Folge eingreift (§ 40 Absatz 3 Satz 1 des Gesetzes über die Kommunalwahlen im
Lande Nordrhein-Westfalen - KWahlG NRW), dass sie diese bei Bestands- oder
Rechtskraft des Ratsbeschlusses verlieren würden und sich einer Wiederholungswahl
stellen müssten, um diese Rechtsstellung erneut zu erwerben,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 22. Februar 1991 - 15 A 1518/90 - OVGE 42, 152.
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Die Klagebefugnis des Klägers zu 10) folgt aus § 41 Absatz 1 Satz 2 KWahlG NRW.
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Im Hinblick auf den Kläger zu 10) ist auch der über die Anfechtung des Ratsbeschlusses
hinausgehende Verpflichtungsantrag zulässig. Die dem Kläger zu 10) als
Aufsichtsbehörde durch § 41 Absatz 1 Satz 2 KWahlG NRW eingeräumte besondere
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Klagebefugnis setzt naturgemäß keine subjektive Rechtsbetroffenheit oder
Anspruchsgrundlage voraus, sondern soll eine hiervon unabhängige objektive
Rechtskontrolle eröffnen. § 41 Absatz 1 KWahlG NRW weist der Aufsichtsbehörde die
Möglichkeit zu, "gegen den Beschluss der Vertretung nach § 40 Abs. 1" Klage zu
erheben, bestimmt jedoch nicht explizit, worauf die Klage gerichtet werden kann. Nach
der Systematik des nordrhein-westfälischen Wahlprüfungsrechts soll die gerichtliche
Kontrolle aber zu einer abschließenden Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl
führen. An dieser bei der Entstehung der hier maßgeblichen Vorschriften bzw. ihrer
Vorgängernormen maßgeblichen Rechtsauffassung, die ihren Eingang in die
Vorschriften des Gesetzes gefunden hat,
vgl. OVG, Urteil vom 23. November 1949 - 3 A 22/49 - OVGE 1, 27, 30 und hierauf
Bezug nehmend Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gemeindewahlgesetzes vom 8. Januar 1954 - Landtagsdrucksache 02/1411, Seite 52,
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hat sich auch im Zuge mehrerer Gesetzesänderungen nichts geändert.
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Die der Aufsichtsbehörde durch § 41 Absatz 1 Satz 2 KWahlG NRW eingeräumte
objektivrechtliche Kontrollmöglichkeit kann aber angesichts der damit verbundenen
Verdrängung der allgemeinen kommunalaufsichtsrechtlichen Instrumentarien nur
effektiv sein, wenn das Gericht auf eine Verpflichtungsklage hin den Streit über die
Ungültigkeit der Wahl durch Klageabweisung oder Verpflichtung des Beklagten zur
Feststellung der Gültigkeit abschließen kann.
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Die Klagefrist des § 41 Absatz 1 Satz 1 KWahlG NRW wurde jeweils eingehalten.
41
Ein Vorverfahren fand nach § 41 Absatz 1 Satz 3 KWahlG NRW zutreffend nicht statt.
Die Rechtsauffassung, vorliegend handele es sich nicht um einen Beschluss nach § 40
Absatz 1 KWahlG NRW, ist unzutreffend. Das Fehlen der Anordnung einer
Wiederholungswahl macht den Beschluss ggf. rechtswidrig, ändert aber im Übrigen
nichts an seiner rechtlichen Einordnung.
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Das Begehren der Kläger hat auch in der Sache Erfolg. § 40 Absatz 1 Buchstabe b)
KWahlG NRW als allein in Betracht zu ziehende Rechtsgrundlage rechtfertigt die
angefochtenen Ratsbeschlüsse nicht.
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Der Rat hat in seinen Beschlüssen keine "Unregelmäßigkeiten" im Sinne des § 40
Absatz 1 lit. b) KWahlG NRW festgestellt, so dass er nach § 40 Absatz 1 lit. d) KWahlG
NRW verpflichtet war, die Wahl für gültig zu erklären. Die anderslautenden Beschlüsse
vom 6. und 23. Mai 2002 sind daher rechtswidrig.
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Die Einsprüche der CDU-Fraktion sind unmittelbar für die verwaltungsgerichtliche
Prüfung schon deswegen ohne Bedeutung, weil es sich vorliegend nicht um ein
Einspruchsverfahren handelt. Die jeweiligen Kläger sind keine Einspruchsführer. Im
Übrigen gehört die CDU-Fraktion nicht zum Kreis der nach § 39 Absatz 1 Satz 1
KWahlG NRW zum Einspruch Berechtigten (örtliche Wahlberechtigte, örtliche
Parteileitung und Aufsichtsbehörde). Allerdings gehört der Verfasser der Einsprüche,
der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. T. , zum Kreis der Wahlberechtigten
(aufgeführt im Wählerverzeichnis des Wahlbezirks 12). Ob der von ihm im Namen der
CDU-Fraktion formulierte "Einspruch" jeweils als Einspruch eines Wahlberechtigten
oder der örtlichen Parteileitung ausgelegt werden könnte, kann jedoch dahinstehen, da
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der Rat eine Entscheidung gegen die Gültigkeit der Kommunalwahlen getroffen hat.
Maßgeblich sind daher die Unregelmäßigkeiten, wegen derer der Rat seinen
Ungültigkeitsbeschluss gefasst hat.
Die Ratsbeschlüsse vom 6. und 23. Mai 2002 zur Ungültigkeit der Ratswahl vom 12.
September 1999 enthalten hierzu keinerlei Angaben. Sie nehmen auch keinerlei Bezug
auf Unterlagen, in denen die relevanten Unregelmäßigkeiten in tatsächlicher Hinsicht
aufgeführt wären. Damit fehlt es in den Ratsbeschlüssen selbst an der in § 40 Absatz 1
lit. b) KWahlG NRW vorausgesetzten Feststellung konkreter Unregelmäßigkeiten. Eine
solche Feststellung kann auch nicht durch das Gericht im Wege der eigenen Ermittlung
von Unregelmäßigkeiten herbeigeführt werden, da die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts im nordrhein-westfälischen Wahlprüfungsrecht der Sache nach
beschränkt ist. Der Prüfungsumfang etwaiger Unregelmäßigkeiten wird im
Einspruchsverfahren inhaltlich bestimmt durch die in den Einsprüchen gerügten
Sachverhalte. Diese müssen bereits im vorgerichtlichen Verfahren substantiiert
vorgetragen worden sein. Dem Gericht ist es verwehrt, "eigene" Ungültigkeitsgründe
seiner Entscheidung zu Grunde zu legen,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. Dezember 1971 - 3 A 35/71 - OVGE 27, 209 und
Beschluss vom 11. März 1966 - 3 A 1039/65 - OVGE 22, 141.
47
Diese Begrenzung des verwaltungsgerichtlichen Prüfungsumfangs gilt nicht nur im
Einspruchsverfahren, sondern auch dann wenn - wie hier - Klagen gegen einen
Ratsbeschluss erhoben werden, mit dem eine Kommunalwahl für ungültig erklärt
worden ist,
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vgl. so wohl auch OVG NRW, Urteil vom 30. April 1991 - 15 A 2036/90 - S. 29 des
Urteilsabdrucks.
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Nur so lässt sich der Zweck des Wahlprüfungsrechts erreichen, in kurzer Zeit Klarheit
über die Tatsachen zu schaffen, die gegen die Gültigkeit der Wahl eingewandt werden.
Aus dieser Beschränkung der gerichtlichen Prüfung folgt, dass bereits im
vorgerichtlichen Wahlprüfungsverfahren - im Einspruchsverfahren durch den
Einspruchsführer oder bei einer Erklärung für ungültig von Amts wegen durch den Rat
selbst - substantiiert dargelegt werden muss, welche Sachverhalte als erhebliche
Unregelmäßigkeiten im Sinne von § 40 Absatz 1 lit. b) KWahlG NRW dem Einspruch
oder der Ungültigkeitsfeststellung zu Grunde gelegt werden. Entsprechendes gilt für die
Aufsichtsbehörde, die innerhalb der Klagefrist des § 41 Absatz 1 Satz 1 KWahlG die von
ihr erachteten Unregelmäßigkeiten im Einzelnen bezeichnen und darlegen muss. Dabei
dürfte es unschädlich sein, wenn der Einspruchsführer, der Rat oder die
Aufsichtsbehörde die als Unregelmäßigkeiten gewerteten Sachverhalte nicht im
Einspruchsschreiben, im Ratsbeschluss oder in der Klageschrift selbst darstellt, sondern
auf anderweitige Darstellungen konkret Bezug nimmt. Zumindest muss sich aber im
vorliegenden Fall der Ungültigerklärung der Wahl im Wege der Auslegung eindeutig
entnehmen lassen, auf welche Unregelmäßigkeiten die Ungültigkeitsfeststellung
gestützt wird. So kann etwa auf den Inhalt der Beschlussvorlage abzustellen sein, wenn
und soweit der Rat mit seinem Beschluss erkennbar dieser Vorlage gefolgt ist. Die hier
maßgebliche Beschlussvorlage ist die Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses vom 8. April 2002 (dort TOP 4), die jedoch ebenfalls weder
selbst Unregelmäßigkeiten benennt noch auf eine sonstige Darstellung von
Unregelmäßigkeiten Bezug nimmt.
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Auf Erklärungen einzelner Rats- und/oder Ausschussmitglieder, die keinerlei
Niederschlag im Beschlusstext gefunden haben, kann bei der Bestimmung von
maßgeblichen Unregelmäßigkeiten hingegen nicht zurückgegriffen werden, da
ansonsten nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden kann, ob und
inwieweit sich der Rat die Gründe einzelner Ratsmitglieder oder dritter Personen zu
eigen gemacht hat. Genau dies kommt im vorliegenden Fall durch unterschiedliche
Äußerungen einzelner Ratsmitglieder zum Tragen und wird dadurch deutlich, dass der
CDU-Fraktionsvorsitzende erklärt hat, er schließe sich der Auffassung des Gutachters
Prof. Dr. T1. nicht an, stattdessen eine eigene Stellungnahme der CDU-Fraktion verlas,
während sich die NWI-Fraktion hierzu wiederum nicht äußerte, sondern auf nicht näher
konkretisierte Zahlen (30 Fälschungen von Wahlscheinen, 73 Wahlverfehlungen, 250
Unregelmäßigkeiten) aus dem Gutachten von Prof. Dr. T1. verwies, die überwiegend
nicht einmal die Ratswahl betrafen.
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Dass sich die Feststellungen konkreter Unregelmäßigkeiten aus dem Ratsbeschluss
unmittelbar oder im oben beschriebenen Sinn zumindest mittelbar ergeben müssen,
stellt an den Rat weder unangemessene noch unerfüllbare Anforderungen. Soweit in
der dem Rat vorgelegten Beschlussvorlage konkrete Unregelmäßigkeiten festgestellt
werden, kann sich der Rat hierauf in seinem Beschluss ohne weiteres beziehen. Fehlt
es jedoch, wie im vorliegenden Fall, an einer inhaltlich geeigneten Vorlage muss der
Rat bzw. die Ratsmehrheit entweder selbst derartige Feststellungen formulieren oder
diese vom Wahlleiter, der Verwaltung oder dritten Personen zusammenstellen lassen
und auf sie in seinem Beschluss eindeutig und konkret Bezug nehmen. Angesichts der
besonderen rechtlichen Bedeutung, die der Ungültigerklärung einer Wahl zukommt,
kann hiervon nicht abgesehen werden. Der Rat greift mit seinem Beschluss in den
zentralen demokratischen Legitimationsakt ein. Mit Bestandskraft seines Beschlusses
wird der geäußerte Wählerwille annulliert. Eine solch weitreichende Entscheidung
erfordert deshalb die konkrete Darlegung der hierfür maßgeblichen Gründe und die
nachvollziehbare Kenntlichmachung, dass diese vom Rat bzw. der Ratsmehrheit
getragen werden.
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Mangels Vorliegens dieser Voraussetzungen im vorliegenden Fall war es der Kammer
verwehrt, die gutachterlichen Erörterungen von Prof. Dr. T1. und dort insbesondere
diejenigen zum verwaltungsinternen Umgang mit Briefwahlunterlagen einer
Überprüfung zu unterziehen.
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Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen sind die Ratsbeschlüsse vom 6. und
23. Mai 2002 auch deshalb rechtswidrig, weil - worauf sich allerdings nur der Kläger zu
10) mit Erfolg berufen kann - die gesetzlich vorgeschriebene Anordnung einer
Wiederholungswahl fehlt. Nach § 40 Absatz 1 lit. b) KWahlG NRW ist bei der
Feststellung von wahlergebnisrelevanten Unregelmäßigkeiten die Wahl für ungültig zu
erklären und eine Wiederholungswahl anzuordnen. Das Gesetz sieht eine Anordnung
zu einem späteren Zeitpunkt nicht vor. Angesichts der Regelungen der §§ 40 Absatz 1
lit. b), 42 Absatz 4 KWahlG NRW kann kein Zweifel daran bestehen, dass die
Wiederholungswahl so bald wie möglich stattfinden soll. Ein Aufschieben ihrer
Anordnung ist damit nicht vereinbar. Weitere Überlegungen machen im Übrigen die
Unzulässigkeit einer späteren Beschlussfassung zur Anordnung der
Wiederholungswahl deutlich: Würde der Beschluss über die Ungültigkeit der Ratswahl
bestandskräftig, könnte der Rat wegen des unmittelbaren Ausscheidens seiner Vertreter
gemäß § 40 Absatz 3 Satz 1 KWahlG NRW einen Beschluss hierzu gar nicht mehr
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fassen. Aber auch für den Fall des Nichteintretens der Bestandskraft des Beschlusses
über die Ungültigkeit der Wahl ist nicht gesichert, dass für die Anordnung der
Wiederholungswahl später noch eine Mehrheit zustande kommt.
Allerdings können die Kläger zu 1) bis 9) ihre Klagen auf diesen Rechtswidrigkeitsgrund
nicht stützen, da die Verpflichtung zur Anordnung der Wiederholungswahl nicht dazu
dient, ihre Rechte als Ratsmitglieder zu schützen, sondern im öffentlichen Interesse die
Ausübung des Wahlrechts der Bürger sichert.
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Da die Ratsbeschlüsse vom 6. und 23. Mai 2002 die für eine Ungültigkeitserklärung
erforderlichen Feststellungen nicht enthalten und auch mangels Anordnung einer
Wiederholungswahl rechtswidrig sind, ist der Beklagte auf die Klage des Klägers zu 10)
verpflichtet, die Gültigkeit der Ratswahl vom 12. September 1999 festzustellen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Absatz 1, Absatz 3 1. Halbsatz, 159 Satz 2
VwGO.
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