Urteil des VG Aachen vom 18.03.2003

VG Aachen: teilweiser erlass, unbestimmter rechtsbegriff, kindergarten, verfügung, beitrag, abgabenordnung, rücknahme, vollstreckung, teilerlass, familie

Verwaltungsgericht Aachen, 8 K 1370/02
Datum:
18.03.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 K 1370/02
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, tragen die Kläger als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger
können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung
des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor
der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leisten.
Die Berufung wird zugelassen ( § 124 a VwGO ).
T a t b e s t a n d :
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Die Tochter D. der Kläger besuchte von August 1998 bis einschl. Juli 2001 die DRK-
Tageseinrichtung "S. S1. " in U. Kreis E. , die Tochter N1. besucht diese Einrichtung seit
August 2001. Die Tochter D. hat von Februar 1999 bis Juli 2001 einmal wöchentlich an
der an fünf Tagen in der Woche ( Montag bis Freitag ) angebotenen Betreuung über
Mittag teilgenommen, die Tochter N1. tut dies seit Beginn ihres Besuchs in der
Kindertagesstätte. Der Beklagte forderte deshalb von den Klägern neben dem
monatlichen Grundbetrag einen Zuschlag für die Über-Mittag-Betreuung. Für die Tochter
D. erhob der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 13. Oktober 2000 für den Zeitraum 1.
August 2000 bis 31. Juli 2001 einen Elternbeitrag in Höhe von 225,00 DM, und zwar
einen Grundbetrag von 143,00 DM und ein zusätzliches Entgelt von 82,00 DM für die
Über- Mittag-Betreuung. Nachdem die Tochter D. den Kindergarten ab Juli 2001
verlassen hatte, erging für die Tochter N1. unter dem 27. August 2001 ein
entsprechender Bescheid, ebenfalls über 225,00 DM pro Monat. Diese Bescheide sind
bestandskräftig.
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Mit Schreiben vom 20. Dezember 2001 beantragten die Kläger rückwirkend ab 1. Juli
2001 die Erstattung des für die Über-Mittag-Betreuung gezahlten Entgelts. Zur
Begründung gaben sie an, dass ihre Töchter die Über-Mittag-Betreuung jeweils nur an
einem Tag in der Woche in Anspruch nähmen bzw. genommen hätten. Für eine nur
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einmalige Inanspruchnahme falle nach dem neuen Kindergartengesetz vom 1. Juli 2001
kein Zuschlag mehr an.
Mit Bescheid vom 23. April 2002 lehnte der Beklagte dieses Begehren ab. Er vertrete im
Gegensatz zum Landesjugendamt, das eine regelmäßige Betreuung erst dann
annehme, wenn ein Kind mehrmals (mindestens dreimal) in der Woche zwischen 12.30
Uhr und 14.00 Uhr in der Einrichtung betreut werde, die Auffassung, dass eine
Regelmäßigkeit im Sinne von § 17 GTK auch dann gegeben sei, wenn die Betreuung
an weniger als zwei Tagen pro Woche in Anspruch genommen werde. Nach seiner
Auffassung könne der Platz für die Über-Mittag-Betreuung nur einheitlich vergeben
werden und sei nicht teilbar. Allein die Zurverfügungstellung des Platzes - und sei es
auch nur einmal pro Woche - löse die (volle) Beitragsverpflichtung der Eltern aus.
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Den Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai
2002, zugestellt am 6. Juni 2002, zurück.
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Am 5. Juli 2002 haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung
führen sie aus, dass die Heranziehung zu einem Beitrag für die Über- Mittag-Betreuung
gemäß § 17 Abs. 1 Satz 6 GTK nicht gerechtfertigt sei, weil ihre Töchter jeweils nur an
einem Tag in der Woche über Mittag im Kindergarten verblieben ( seien ). Diese
Auffassung vertrete auch der Landschaftsverband Rheinland als überörtlicher Träger
der Jugendhilfe. Er sehe - wie in einem Rundschreiben vom 12. März 2001 ausgeführt
ist - eine Regelmäßigkeit des Besuchs bei lediglich einmaliger Teilnahme pro Woche
nicht als gegeben an. Sie sei vielmehr erst bei mindestens drei Besuchen pro Woche zu
bejahen.
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Die Kläger beantragen,
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den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 23. April 2002 und des
Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2002 zu verpflichten, die Bescheide vom 13.
Oktober 2000 ( betreffend das Kind D. ) und vom 27. August 2001 ( betreffend das Kind
N1. ) zu ändern, soweit ein Betrag von über 143,- DM festgesetzt worden ist ( für das
Kind D. für den Monat Juli 2001, für das Kind N1. für die Zeit ab 1. August 2001 ) und die
jeweiligen Beträge zu erstatten.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er bezieht sich zur Begründung zunächst auf seinen Bescheid und den
Widerspruchsbescheid und führt ergänzend aus: Regelmäßigkeit liege bereits dann vor,
wenn ein Kind regelmäßig (z. B. einmal wöchentlich) die Über-Mittag-Betreuung in
Anspruch nehme. Unabhängig davon, ob ein Kind die Über-Mittag-Betreuung an einem
oder an fünf Tagen in der Woche in Anspruch nehme, entstünden für diese Kosten.
Darüber hinaus stehe dieser Platz an den übrigen Tagen der Woche nicht für andere
Kinder zur Verfügung, die dringend auf eine Betreuung über Mittag an fünf Tagen die
Woche angewiesen seien. Es entspreche nicht der Intention des Gesetzes über
Tageseinrichtungen für Kinder, wenn der Träger einen Platz für die Betreuung über
Mittag für Kinder vergebe, die dieses Angebot nur an einem oder zwei Tagen in der
Woche belegen möchten. Er vertrete die Rechtsauffassung, dass ein Platz für die
Betreuung eines Kindes über Mittag nicht teilbar sei und nur vergeben werden dürfe,
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wenn dieser auch für die volle Woche gebucht werde, dies unabhängig davon, ob die
Betreuung über Mittag an allen Tagen in Anspruch genommen werde oder nicht.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den vom
Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang ergänzend Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 23. April
2002 und sein Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 2002, mit denen er die
Rückerstattung des zusätzlich geforderten Beitrages für die Über-Mittag-Betreuung der
Töchter der Kläger ab Juli 2001 abgelehnt hat, sind rechtmäßig und verletzen die Kläger
nicht in ihren Rechten ( § 113 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
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Die Kläger haben weder einen Rechtsanspruch auf die (teilweise) Rücknahme der
bestandskräftigen Bescheide des Beklagten vom 13. Oktober 2000 und vom 27. August
2001 nach der hier einschlägigen Vorschrift des § 44 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB X) noch auf Erstattung der gezahlten zusätzlichen Beiträge für
die Über-Mittag-Betreuung ihrer Kinder nach § 50 Abs. 1 SGB X. Der Beklagte hat daher
den Antrag der Kläger durch den angefochtenen Bescheid vom 23. April 2002 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 2002 zu Recht abgelehnt.
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Obwohl die nach § 17 Abs. 1 Satz 6 des Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder
in Nordrhein-Westfalen vom 29. Oktober 1991, GV NRW S.380, zuletzt geändert durch
Gesetz vom 25. September 2001, GV NRW S. 708 (GTK) erhobenen Elternbeiträge als
Abgaben, nämlich sozialrechtliche Abgaben eigener Art, zu qualifizieren sind,
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vgl. hierzu: Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein- Westfalen (OVG NRW),
Urteil vom 24. November 1994, 16 A 2859/94, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
(NVwZ) 1995, 1231 = Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter (NWVBl) 1995, 233;
OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 1999, 16 A 4256/99.
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finden bei Fallkonstellationen wie der vorliegenden nicht die Vorschriften der
Abgabenordnung - hier § 130 AO, sondern wegen der Verweisung in § 28 Abs. 1 GTK
diejenigen des SGB X Anwendung.
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Ob die Vorschriften des SGB X auch für den Fall der - hier nicht gegebenen -
Nacherhebung anwendbar sind oder § 17 GTK insoweit eine abschließende
Sonderregelung enthält, ist in der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung
offengelassen.
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Vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 1999, a.a.O., mit Tendenz zur
Annahme einer Sonderregelung.
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Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden
sind. Gemäß § 50 Abs. 1 SGB X sind nach Aufhebung eines Verwaltungsaktes bereits
erbrachte Leistungen zu erstatten.
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Die (teilweise) Rücknahme der Beitragsbescheide nach § 44 Abs. 1 SGB X und damit
die Erstattung der entsprechenden Beträge kommt nicht in Betracht, weil die Erhebung
des zusätzlichen Beitrages für die Über-Mittag-Betreuung nicht zu Unrecht erfolgt ist.
Nach § 17 Abs. 1 Satz 6 GTK ist für die regelmäßige Betreuung eines Kindes im
Kindergarten über Mittag (zwischen 12.30 Uhr und 14.00 Uhr) ein zusätzlicher Beitrag
zu zahlen. Die Höhe dieses Beitrages ergibt sich aus der Verordnung über die Höhe der
Elternbeiträge nach dem Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder ( Anlage zu § 17
Abs. 3 GTK ) in der jeweils gültigen Fassung. Der Begriff "regelmäßig" in § 17 Abs. 1
Satz 6 GTK ist ein so genannter unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung und
Überprüfung uneingeschränkt dem Gericht obliegt. Schon aus diesem Grunde kommt es
nicht darauf an, ob die in dem -norminterpretierenden- Erlass des Ministeriums für
Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen (MFJFG
NRW) geäußerte Auffassung , "eine Regelmäßigkeit sei erst dann anzunehmen, wenn
ein Kind mehrmals (mindestens dreimal) pro Woche zwischen 12.30 Uhr und 14.00 Uhr
betreut wird", wie von den Klägern interpretiert zu verstehen ist.
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Der Beitragstatbestand des § 17 Abs. 1 Satz 6 GTK ist auch erfüllt, denn die Töchter der
Kläger wurden bzw. werden regelmäßig über Mittag betreut. Der Definition des Duden
(Das Stilwörterbuch) nach ist "regelmäßig" als Vorgang beschrieben, der "einer
bestimmten Ordnung entsprechend, in einer bestimmten zeitlichen Aufeinanderfolge
wiederkehrend" erfolgt.
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Die zwischen den Beteiligten erörterte Fragestellung, ob eine regelmäßige Betreuung
über Mittag - wie der Beklagte meint - schon bei nur einmaliger wöchentlicher
Inanspruchnahme gegeben ist oder - so die von den Klägern vertretene Auffassung -
eine Teilnahme an mindestens drei Tagen voraussetzt, stellt sich so nicht, denn der
Begriff "regelmäßig" ist objektiv, nämlich angebots- und nicht subjektiv, also
nachfrageorientiert auszulegen. Ob und in welchem Umfang das jeweilige Kind im
Einzelfall das von der Tageseinrichtung ihm zur Verfügung gestellte Angebot tatsächlich
nutzt, ist dabei ohne Belang. Die Zahlung eines zusätzlichen Beitrages für die
regelmäßige Über-Mittag-Betreuung nach der in § 17 Abs. 1 Satz 6 GTK getroffenen
Regelung darf danach grundsätzlich immer - und dann auch in voller Höhe - verlangt
werden, wenn einem Kind in gewissen Zeitabständen wiederkehrend die Möglichkeit
der Inanspruchnahme einer Über-Mittag-Betreuung zur Verfügung steht, ohne dass es
auf ein bestimmtes Mindestangebot (oder eine Mindestinanspruchnahme) pro
Zeitintervall ankäme. § 17 Abs. 1 Satz 6 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 (nebst Anlage) GTK sieht
bei Verwirklichung des Beitragstatbestandes die Erhebung nur eines -
einkommensabhängigen - festen zusätzlichen Beitrages vor. Eine - differenzierende -
Regelung für in der Realität auch vorkommenden Fälle, dass etwa Kindertagesstätten
nur in geringerem Umfang - bis hin zu nur einem Tag die Woche - eine Über-Mittag-
Betreuung anbieten, enthält das Gesetz nicht. Rein vorsorglich sei darauf hingewiesen,
dass den Klägern - die einen entsprechenden Antrag auch nicht gestellt haben - auch
kein Anspruch auf teilweisen Erlass des zusätzlichen (Übermittag)Betrages zur Seite
steht. Ein solcher (teilweiser) Erlass einer Abgabe wegen unbilliger Härte im Einzelfall
nach §§ 1 Abs. 3, 12 Abs. 1 Nr. 5a des Kommunalabgabengesetzes für das Land
Nordrhein- Westfalen (KAG NRW) i.V.m. § 227 der Abgabenordnung ( AO),
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zur Anwendbarkeit des KAG und der AO im Rahmen der Forderung von Elternbeiträgen
nach GTK: OVG NRW, Urteil vom 21. November 1994,
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kommt dann in Betracht, wenn die Erhebung der Abgabe im Einzelfall mit dem Sinn und
Zweck des Abgabengesetzes nicht vereinbar ist, also mit anderen Worten ein Überhang
des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers vorliegt, weil der
gegebene Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Abgabenerhebung
aber dennoch den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft.
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Vgl. etwa : OVG NRW, Urteil vom 28. März 2000, 15 A 3494/96, NVwZ RR 2001, 267 =
NVWBl 2000, 349
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Dies kann (nur) dann der Fall sein, wenn das konkrete Über-Mittags-Angebot einer
Kindertagesstätte deutlich von dem gesetzlichen Regelmodell abweicht und aus diesem
Grunde die Forderung des vollen verordnungsmäßig vorgesehenen Beitrages für die
Über-Mittag-Betreuung unbillig erscheint. Dabei ist aufgrund einer Gesamtschau der
kindergartenrechtlichen Regelungen des GTK davon auszugehen, dass die in §§ 9 und
19 GTK umschriebene Kindertagesstätte, die an fünf Tagen der Woche - Montag bis
Freitag - ganztägig geöffnet hat, das gesetzliche Regelmodell darstellt. Damit
korrespondiert das gesetzliche Modell der Bereitstellung auch eines Über-Mittags-
Angebots an diesen fünf Tagen in der Woche. In welchen Fällen auf entsprechenden
Antrag der Beitragspflichtigen tatsächlich ein Teilerlass in Betracht kommt oder kommen
muss, weil die Erhebung des vollen Betrages unbillig erscheint, bedarf vorliegend
keiner abschließenden Entscheidung. Der von den Töchtern der Kläger besuchte
Kindergarten bietet nämlich an fünf Tagen in der Woche eine Über-Mittag-Betreuung an.
Dies entspricht dem - dem Beitragstatbestand gerade zugrundeliegenden - gesetzlichen
Modell und rechtfertigt unproblematisch die Erhebung des (vollen) zusätzlichen
Betrages nach § 17 Abs. 1 Satz 6 GTK. Entsprechend der oben dargelegten objektiven
Auslegung des Begriffes "regelmäßig" kann es auch im Rahmen der Billigkeitsprüfung
nicht darauf ankommen, ob dieses Angebot auch tatsächlich an allen Tagen der Woche
wahrgenommen wird.
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Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus §§ 154 Abs. 1, 159, 188 Satz 2 VwGO
abzuweisen. Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.
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Die Kammer hat gemäß § 124a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung
zugelassen, weil die zu entscheidenden Streitfragen, wann eine regelmäßige Betreuung
über Mittag vorliegt und ob bei einer nur eingeschränkten Inanspruchnahme des
Betreuungsangebot der volle zusätzliche Beitrag eingefordert werden darf,
grundsätzliche Bedeutung hat und obergerichtliche Rechtsprechung hierzu bisher nicht
ergangen ist.
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