Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: volksbegehren, direkte demokratie, haushalt, wohl des kindes, anspruch auf bildung, begriff, verfassungsänderung, systematische auslegung, regierung, entstehungsgeschichte

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
143/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 28 Abs 1 S 1 GG, Art 28 Abs
1 S 2 GG, § 15 Abs 1 S 4
VAbstG BE, § 15 Abs 1 S 3
VAbstG BE, § 17 Abs 5 S 1
VAbstG BE
VerfGH Berlin: Versagung der Zulassung des Volksbegehrens
"Kitakinder + Bildung von Anfang an = Gewinn für Berlin" durch
den Senat mit Neufassung des Art 62 Abs 2 Verf BE nicht
vereinbar - Stärkung der direk-ten Demokratie durch
Erweiterung der Volksgesetzgebung
Leitsatz
Nach Art. 62 Abs. 2 der Verfassung von Berlin sind Volksbegehren unzulässig, die das
Haushaltsgesetz und den in ihm festgestellten Haushaltsplan für das laufende Haushaltsjahr
unmittelbar zum Gegenstand haben. Dagegen erstreckt sich der Haushaltsvorbehalt des Art
62 Abs. 2 VvB nicht auf finanzwirksame Gesetze, die sich lediglich auf künftige
Haushaltsgesetze und zukünftige Haushaltsperioden auswirken.
Tenor
Die Entscheidung des Senats von Berlin vom 26. August 2008 über die Unzulässigkeit
des Volksbegehrens „Kitakinder + Bildung von Anfang an = Gewinn für Berlin“ wird
aufgehoben.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Land Berlin hat den Einspruchsführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Trägerin des Volksbegehrens „Kitakinder + Bildung von Anfang an = Gewinn für Berlin“
ist eine Initiative des Landeselternausschusses Berliner Kindertagesstätten ( LEAK ). Die
Einspruchsführer sind die von dieser Initiative bestimmten Vertrauenspersonen und
Vertreter des Volksbegehrens.
1. Am 28. Juli 2008 stellten die Einspruchsführer bei der Senatsverwaltung für Inneres
und Sport einen von 58.720 Bürgern unterstützten Antrag auf Einleitung des
Volksbegehrens, dem folgender mit Gründen versehener Gesetzentwurf zur Änderung
des Gesetzes zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege
(Kindertagesförderungsgesetz – KitaFöG –) vom 23. Juni 2005 (GVBl. S. 322) beigefügt
war:
„Das Gesetz zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und
Kindertagespflege (Kindertagesförderungsgesetz - KitaFöG) vom 23. Juni 2005 (GVBI.
Seite 322) wird wie folgt geändert:
1. § 4 (Anspruch und bedarfsgerechte Förderung) wird wie folgt geändert:
a) In Abs. 1 erhalten die Sätze 1 bis 3 folgende Fassung:
(1) Jedes Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt
Anspruch auf Förderung und Bildung in einer Tageseinrichtung. Kinder, die bis zum 31.
Juli des nächsten Jahres das dritte Lebensjahr vollenden, können ohne Vorliegen eines
Bedarfs ab dem 1. August des laufenden Jahres gefördert werden. Kinder unter drei
Jahren sollen einen geeigneten Platz in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege
erhalten, wenn ein entsprechender Bedarf festgestellt wird. Gleiches gilt für Kinder nach
Satz 1 und 2, soweit ein über eine Teilzeitförderung hinausgehender Bedarf oder eine
Betreuung in Kindertagespflege beantragt wird.
b) In Abs. 3 wird das Wort „Halbtagsförderung“ durch das Wort
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b) In Abs. 3 wird das Wort „Halbtagsförderung“ durch das Wort
„Teilzeitförderung“ ersetzt.
c) Abs. 4 erhält folgende Fassung:
„(4) Die Erfüllung eines Förder- und Betreuungsbedarfs nach § 4 Abs. 1 Satz 2, 3
und 4 setzt einen vorherigen Antrag und die Feststellung nach § 7 voraus.“
2. In § 5 (Betreuungsumfang) erhält Satz 1 folgende Fassung:
„Der tägliche Betreuungsumfang muss dem Anspruch auf Bildung und Förderung
und dem Wohl des Kindes Rechnung tragen.“
3. § 7 (Anmeldung, Bedarfsprüfung und Nachweisverfahren) wird wie folgt geändert:
a) es wird folgender Absatz 1 neu eingefügt:
„(1) Kinder mit einem Förderungs- und Bildungsanspruch nach § 4 Abs.1 Satz 1
und § 4 Abs. 1 Satz 2 erhalten auf Antrag ohne weitere Bedarfsprüfung einen
Teilzeitplatz.
b) Die bisherigen Absätze 1-9 werden zu den Absätzen 2-10.
c) In Abs. 3 (neu) wird nach „unterstützen“ ergänzt:
„Dabei werden Eltern im Rahmen des Willkommenpaktes bei Geburt des Kindes
auf den Anspruch und Förderung der Betreuungsmöglichkeiten in Tageseinrichtungen
informiert.“
d) In Abs. 3 (neu) erhalten die Sätze 1 bis 3 folgende Fassung:
„(3) Die Eltern melden den Förderungs- und Betreuungsbedarf nach § 4 Abs. 1
Satz 2, 3 und 4 bei dem zuständigen Jugendamt durch Antrag an.“
e) In Abs. 7 (neu) erhalten die Sätze 1 bis 3 folgende Fassung:
„(7) Eine Bedarfsprüfung ist notwendig, wenn
1. eine Erweiterung des Betreuungsumfangs über den Teilzeitplatz hinaus
beantragt wird,
2. die in der Rechtsverordnung nach Absatz 10 festzulegende Frist, bis zu der
die Förderung begonnen haben muss, abgelaufen ist, diese Frist soll 4 Monate
betragen.“
f) In Abs. 8 (neu) Satz 1 werden die Worte „Absatz 9“ ersetzt durch „Absatz 10“
und „Absatz 6 “ ersetzt durch „Absatz 7“
g) In Abs. 9 (neu) werden in Satz 2 die Worte „Absatz 6“ ersetzt durch „Absatz
7“
4. § 11 (Personalausstattung) wird der Abs. 1 wie folgt geändert:
a) „(1) Die Förderung der Kinder in den Tageseinrichtungen ist durch
ausreichendes sozialpädagogisches Personal sicherzustellen. Die Voraussetzungen für
die Anerkennung des sozialpädagogischen Personals sowie die Personalbemessung
entsprechend dem Aufgabeninhalt, dem Aufgabenumfang und der Aufgabenintensität
sind durch Rechtsverordnung zu regeln. In den Vorgaben für die Personalausstattung
nach Absatz 2 sind alle Ausfallzeiten bereits abschließend berücksichtigt, unter anderem
für die Vor- und Nachbereitung 5 Std. in der Woche pro pädagogischer Fachkraft (bei
38,5 Stunden Wochenarbeitszeit) und für die Fort- und Weiterbildung mind. 3 Tage im
Jahr einer pädagogischen Fachkraft (bei 38,5 Stunden Wochenarbeitszeit)“
b) In Abs. (2) erhält der 1. Punkt folgende Fassung:
„38,5 Wochenstunden pädagogisches Fachpersonals sind vorzusehen
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c) Abs. (2) erhält zusätzlich einen 4. Punkt wie folgt :
„4. Für die Leitung der Tageseinrichtung sind zusätzliche Personalzuschläge zu
gewähren, die bei 100 Kindern mit 38,5 Wochenarbeitsstunden bemessen sind.“
Die Einspruchsführer gaben in dem Einleitungsantrag an, die
Unterstützungsunterschriften datierten zwischen dem 7. Februar und 28. Juli 2008.
2. Mit Beschluss vom 26. August 2008 stellte der Senat von Berlin fest, das
Volksbegehren sei unzulässig. Hierüber informierte die Senatsverwaltung für Inneres und
Sport die Einspruchsführer mit Schreiben vom 11. September 2008 unter Beifügung der
Vorlage des Senats an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 9. September 2008
(Abghs-Drs. 16/1719). Darin wird die Entscheidung des Senats im Wesentlichen wie folgt
erläutert:
Das Volksbegehren sei unzulässig, weil es das Budgetrecht des Parlaments als
verfassungsimmanente Grenze der Volksgesetzgebung verletze. Der Antrag auf
Einleitung eines Volksbegehrens sei daher zurückzuweisen. Die weiteren formalen
Anforderungen an ein Volksbegehren seien erfüllt.
Unterstelle man, dass etwa die Hälfte der bislang nicht betreuten Kinder künftig einen
Kitaplatz in Anspruch nähme, würde die Umsetzung des Gesetzentwurfs insgesamt
Kosten von 166 Millionen Euro verursachen. Bei einer Inanspruchnahme durch alle
bislang nicht betreuten Kinder wären es insgesamt 212 Millionen Euro.
Mit der Ersetzung der Formulierung „Landeshaushalt“ in Art. 62 Abs. 5 der Verfassung
von Berlin – VvB – a. F. durch „Landeshaushaltsgesetz“ in Art. 62 Abs. 2 VvB n.F. habe
der verfassungsändernde Gesetzgeber lediglich klarstellen wollen, dass Volksbegehren
nicht allein deshalb unzulässig seien, weil sie Einnahmen oder Ausgaben auslösten. Die
Volksgesetzgebung sei nicht unter einen pauschalen Finanzvorbehalt gestellt, weil sonst
weite Regelungsbereiche von der direkten Demokratie ausgeschlossen wären. Mit der
Begründung, es sei verfassungsrechtlich nicht bestimmbar, ab wann ein
finanzwirksames Volksbegehren den Landeshaushalt verletze, sei die Konkretisierung
auf den Begriff des „Haushaltsgesetzes“ für erforderlich gehalten worden, wobei dieser
Begriff die Bestandteile des Haushaltsgesetzes und damit auch den Haushaltsplan
umfasse. Auch wenn der Gesetzgeber mit der Verfassungsänderung die Gegenstände
der Volksinitiative und Volksgesetzgebung als Instrumente der direkten Demokratie
habe erweitern wollen, bleibe festzuhalten, dass die Volksgesetzgebung ihre
verfassungsimmanenten Grenzen im Budgetrecht des Parlaments sowie in den
Anforderungen an einen verfassungsgemäßen Haushalt finde, für den das Parlament die
alleinige Verantwortung trage. Volksbegehren, die gewichtige staatliche Einnahmen oder
Ausgaben nach sich zögen und damit den Haushalt des Landes wesentlich und
nachhaltig beeinflussten, seien auch nach der Verfassungsänderung unzulässig.
Der Senat halte den Gesetzentwurf des Volksbegehrens materiell-rechtlich für
Haushaltsgesetzgebung und damit für einen unzulässigen Abstimmungsgegenstand.
Maßgeblich sei nach wie vor die in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu
Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. dargelegte verfassungsrechtliche Erheblichkeitsschwelle, die
durch eine wertende Gesamtbetrachtung im konkreten Fall zu ermitteln sei. Diese
Rechtsprechung entspreche insbesondere auch derjenigen des
Bundesverfassungsgerichts zur Landesverfassung für Schleswig-Holstein und anderer
Landesverfassungsgerichte. Soweit der sächsische Verfassungsgerichtshof die
Volksgesetzgebung auch im Falle unüberwindbarer haushaltsrechtlicher Schwierigkeiten
als zulässig ansehe, da der parlamentarische Gesetzgeber die Möglichkeit habe, notfalls
das vom Volk beschlossene Gesetz ausgabenneutral aufzuheben, habe der
Verfassungsgerichtshof Berlin diesen Ansatz als „realitätsfern“ verworfen.
Das Volksbegehren ziehe im Erfolgsfalle Kosten nach sich, die zur Überschreitung der
Erheblichkeitsschwelle führten. Mehrkosten in Höhe von 166 bzw. 212 Millionen Euro
entsprächen einer Mehrbelastung von 0,83 % bzw. 1,06 % des Gesamtvolumens der im
Berliner Landeshaushalt veranschlagten Ausgaben. Das Bundesverfassungsgericht habe
für Schleswig-Holstein eine Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle bei einer
zusätzlichen Belastung von circa 0,5 % bis 0,7 % des Gesamthaushalts angenommen.
Entscheidend sei, dass das Volksbegehren in Bezug auf die Tageseinrichtungen
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Entscheidend sei, dass das Volksbegehren in Bezug auf die Tageseinrichtungen
gewichtige und unmittelbar wirkende finanzpolitische Entscheidungen zum Gegenstand
habe, die – auch wegen seiner Pflicht, einen verfassungsgemäßen Haushalt zu
verabschieden – allein der Haushaltsgesetzgeber treffen könne. Darüber hinaus
unterliege der finanzielle Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum bezüglich der
Ausgaben des Landes Berlin einer Vielzahl von Beschränkungen, insbesondere durch
nicht veränderbare Ausgaben für den Schuldendienst und allenfalls mittel- und langfristig
zu verändernden Personalausgaben. Das Kita-Volksbegehren müsse im
Zusammenhang mit der finanziellen und personellen Ausstattung anderer Bereiche
betrachtet werden, für die vergleichbare ausgabenintensive Volksbegehren ebenfalls
zugelassen werden müssten. Die Volksgesetzgebung finde deshalb nach der Verfassung
von Berlin ihre Schranken dort, wo grundlegende finanzpolitische Entscheidungen zu
Gunsten oder zu Lasten verschiedener Betroffenengruppen unter Abwägung
widerstreitender öffentlicher und privater Interessen getroffen werden müssten. Insoweit
trage allein der parlamentarische Gesetzgeber die Verantwortung, weil nur er im System
der repräsentativen Demokratie in der Lage sei, die Folgewirkungen von Entscheidungen
zu berücksichtigen und die notwendigen Kompromisse zu finden, die einer
Volksgesetzgebung mit einer bloßen „Ja/Nein – Entscheidung“ nicht zugänglich seien.
Soweit in dem Gesetzentwurf die Vor- und Nachbereitung und die Fort- und
Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte festgelegt werde, stelle die vorgesehene
Regelung darüber hinaus einen unzulässigen Eingriff in die verfassungsrechtlich
garantierte Tarifautonomie dar.
Der dem Gesetzentwurf anhaftende Mangel sei nicht nach § 17 Abs. 2 AbstG im Wege
der Änderung durch die Trägerin des Volksbegehrens behebbar. Eine teilweise
Zulassung des Volksbegehrens komme nicht in Betracht, da die Regelungsbereiche
nicht trennbar erschienen.
3. Der vorliegende Einspruch vom 25. September 2008 richtet sich gegen die
Entscheidung des Senats von Berlin über die Unzulässigkeit des Volksbegehrens.
Zur Begründung tragen die Einspruchsführer vor:
Das Volksbegehren verstoße nicht gegen Art. 62 Abs. 2 VvB. Der Haushaltsvorbehalt
erfasse lediglich Volksbegehren zum Landeshaushaltsgesetz im formellen Sinne nach
der Legaldefinition des Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut,
aber auch nach der Entstehungsgeschichte, der Systematik und Sinn und Zweck des
Art. 62 Abs. 2 VvB.
Aus den Materialien zur Verfassungsänderung und dem unmittelbaren zeitlichen
Zusammenhang zum Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 22. November 2005 zum
Volksbegehren „Schluss mit dem Berliner Bankenskandal“ werde deutlich, dass der
verfassungsändernde Gesetzgeber den Haushaltsvorbehalt entsprechend Art. 73 Abs. 1
der Verfassung des Freistaates Sachsen in der Interpretation des Sächsischen
Verfassungsgerichtshofs als Haushaltsgesetz im formellen Sinne habe verstanden
wissen wollen. Die Beschränkung des Haushaltsvorbehalts auf das
„Landeshaushaltsgesetz“ habe die verfassungsrechtliche Grenze für haushaltsrelevante
Volksgesetzgebung im Vergleich zu Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. bestimmbar machen sollen.
Damit sei es ausgeschlossen, die Vorschrift im Wege einer teleologischen Auslegung
entsprechend der alten Rechtslage anzuwenden.
Gegen eine finanzwirksame Gesetze erfassende Auslegung des Haushaltsvorbehalts
spreche auch die Entstehungsgeschichte des § 15 Abs. 1 Satz 3 AbstG, wonach die
Unterschriftsliste bzw. die Unterschriftsbögen zur Unterstützung eines Antrags auf
Einleitung eines Volksbegehrens eine amtliche Kostenschätzung aufweisen müssten.
Durch diese Regelung sei eine Anregung aus dem Verfahren zur Verfassungsänderung
im Jahre 2006 mit dem Ziel aufgenommen worden, die notwendige Transparenz zu den
finanziellen Auswirkungen schon auf der ersten Stufe eines Volksbegehrens zu schaffen.
Eine Berücksichtigung dieses Aspektes im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung durch den
Senat sei somit überflüssig.
Die systematische Auslegung der Berliner Verfassung bestätige die auf das formelle
Haushaltsgesetz beschränkte Auslegung. Die weiteren Unzulässigkeitsgründe nach Art.
62 Abs. 2 VvB hätten bei einer Auslegung, wie sie der Senat vornehme, keine
eigenständige Bedeutung. Da der Volksgesetzgeber im System der
Haushaltsgesetzgebung normativ nicht vorgesehen sei, verliere der Haushaltsvorbehalt
bei einer Begrenzung auf das formelle Haushaltsgesetz seinerseits nicht jede
eigenständige Funktion.
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Nach seinem Sinn und Zweck habe ein finanzbezogener Ausschluss der
Volksgesetzgebung seit jeher den spezifischen Bedingungen des auf „Ja/Nein -
Abstimmungen“ über Sachfragen beschränkten und von seiner technischen Eigenart
inneren Schranken unterworfenen Volksgesetzgebungsverfahrens Rechnung tragen
sollen.
Der Haushaltsvorbehalt diene nicht der Abwehr einer missbräuchlichen
Instrumentalisierung von Plebisziten zur Bedienung von Sonderinteressen zu Lasten des
Allgemeinwohls.
Ein auf das formelle Haushaltsgesetz beschränkter Vorbehalt für die Volksgesetzgebung
führe nicht zu einer Verletzung des Budgetrechts des Abgeordnetenhauses. Durch die
jeweilige Ausgestaltung der Volksgesetzgebung und der Budgethoheit des
parlamentarischen Gesetzgebers schaffe die Verfassung von Berlin die erforderliche
praktische Konkordanz zwischen beiden Verfassungsprinzipien. Aufgrund des Haushalts-
und Abgabenvorbehalts in Art. 62 Abs. 2 VvB, der Mitwirkungsrechte des
Abgeordnetenhauses im Volksgesetzgebungsverfahren, der Höhe der Quoren, der
Ausgestaltung des Volksgesetzgebungsverfahrens sowie zeitlicher Beschränkungen für
Volksbegehren sei ein ausreichender Schutz des parlamentarischen Budgetrechts
hergestellt.
Die Budgethoheit des Parlaments sei so lange nicht in Frage gestellt, wie dieses in der
Lage sei, einen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Haushalt
vorzulegen. Das sei erst dann nicht mehr der Fall, wenn es dem Haushaltsgesetzgeber
nicht mehr möglich wäre, die vom Volksgesetzgeber geschaffenen Positionen
aufzuheben oder den Haushalt entsprechend anzupassen. Das Abgeordnetenhaus habe
– auch im vorliegenden Fall – unter anderem die Möglichkeit, das im Wege der
Volksgesetzgebung zustande gekommene Gesetz rechtzeitig aufzuheben. Die
Möglichkeit der Aufhebung eines Volksgesetzes sei nicht realitätsfern. Entsprechende
Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs seien im Zusammenhang mit Art. 62 Abs. 5
VvB a. F. gemacht worden und würden der Ausweitung der Volksgesetzgebung durch die
Verfassungsänderung im Jahre 2006 nicht mehr gerecht. Das mit der
Verfassungsänderung institutionalisierte und verfestigte Spannungsverhältnis zwischen
Parlaments- und Volksgesetzgebung dürfe nicht interpretatorisch beseitigt werden,
indem der Volks- oder Parlamentsgesetzgebung ein in der Verfassung nicht
vorgesehener Vorrang eingeräumt werde. Dass das Ansehen des Parlaments in der
Bevölkerung leiden könne, sogar eine Beendigung der Wahlperiode möglich wäre, sei
eine politische Konsequenz und keine verfassungsrechtliche Schranke.
Solange die Zuständigkeit des Parlaments für die formelle Haushaltsgesetzgebung nicht
angetastet werde, halte sich der landesverfassungsrechtliche Haushaltsvorbehalt auch
innerhalb der vom Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gezogenen Grenze.
Durch die Forderung, dass es dem Haushaltsgesetzgeber möglich bleiben müsse, nach
erfolgreicher Volksgesetzgebung einen verfassungskonformen Haushalt aufzustellen,
werde auch der Verpflichtung des Art. 109 Abs. 2 GG zur Berücksichtigung der
Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung getragen.
Dessen ungeachtet sei das Volksbegehren auch gemessen an den Maßstäben zulässig,
die der Verfassungsgerichtshof zu Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. aufgestellt habe. Bei
wertender Gesamtbetrachtung überschritten die Auswirkungen des erfolgreichen
Volksbegehrens auf den Haushalt des Landes Berlin nicht die verfassungsrechtliche
Erheblichkeitsschwelle. Entgegen der Kostenschätzung des Senats sei mit einer
dauerhaften jährlichen Finanzbelastung in Höhe von 95,9 Millionen Euro zu rechnen, was
im Verhältnis zu den Gesamtausgaben des Berliner Haushalts eine Mehrbelastung von
0,48 % bedeuten würde. Neben den finanziellen Auswirkungen sei insbesondere das
Kriterium „Sachgehalt und Wertigkeit des Anliegens“ zu berücksichtigen. Auch müsse
das Ziel der Verfassungsänderung, die Zulässigkeit von Volksbegehren auszuweiten, in
der Abwägung Berücksichtigung finden.
Durch die Ausweitung der Zeiten für Vor- und Nachbereitung bzw. Fort- und
Weiterbildung des Personals im Rahmen des Betreuungsschlüssels zur Feststellung des
Personalbedarfs nach § 11 Abs. 1 des Gesetzentwurfs des Volksbegehrens werde nicht
in den Schutzbereich der Tarifautonomie eingegriffen.
Die Einspruchsführer beantragen,
die Entscheidung des Senats von Berlin vom 26. August 2008 aufzuheben.
Der Senat beantragt,
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den Einspruch zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung verstößt das Volksbegehren gegen den in Art. 62 Abs. 2 VvB
verankerten Haushaltsvorbehalt. Es sei zwar nicht auf eine Änderung des
Haushaltsgesetzes gerichtet, wohl aber auf eine Änderung des rechtlich mit diesem eine
Einheit bildenden Haushaltsplanes. Art. 62 Abs. 2 VvB entspreche in seinem
Regelungsgehalt Art. 62 Abs. 5 VvB alter Fassung. Ausweislich der Begründung der
Vorlage zur Änderung der Verfassung im Jahr 2006 – Abghs-Drs 15/5038 – habe der
verfassungsändernde Gesetzgeber mit der sprachlichen Neufassung des
Haushaltsvorbehalts lediglich klargestellt, dass die Volksgesetzgebung nicht unter einem
pauschalen Finanzvorbehalt stehe. Damit habe aber nur die vom
Verfassungsgerichtshof gegen Wortlaut und Entstehungsgeschichte vorgenommene
einschränkende Auslegung des Haushaltsvorbehalts entbehrlich werden, nicht aber die
Unzulässigkeit solcher Volksbegehren beseitigt werden sollen. Aus der Neufassung des §
15 Abs. 1 Satz 3 AbstG, mit dem eine Pflicht zur Offenlegung der Kostenschätzung auf
den Unterschriftsbögen für die Volksbegehren eingeführt worden sei, lasse sich kein
anderer Wille des Gesetzgebers ableiten.
Bei einem auf das formelle Haushaltsgesetz beschränkten Verständnis liefe der
Haushaltsvorbehalt letztlich leer, da sich bereits aus den Regelungen zum Finanzwesen
in der Verfassung von Berlin ergebe, dass die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes
allein Sache des Abgeordnetenhauses sei. Zweck des Haushaltsvorbehalts sei,
Volksbegehren mit Kostenauswirkungen jedenfalls von einer gewissen
haushaltswirtschaftlichen Schwelle an zu unterbinden und derartige Entscheidungen
dem Abgeordnetenhaus vorzubehalten, das auch nach der Verfassungsänderung die
Aufgabe und Verantwortung habe, sämtliche Einnahmen und notwendigen Ausgaben
unter Beachtung der Vorgaben der Verfassung in eine sachgerechte Relation zueinander
zu setzen und für den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben zu sorgen.
Ein Begriffsverständnis, das den Haushaltsvorbehalt auf das formelle Haushaltsgesetz
beschränkte, wäre mit dem Grundgesetz unvereinbar. Art. 62 Abs. 2 VvB müsse daher
jedenfalls verfassungskonform ausgelegt werden. Ein enges Begriffsverständnis
widerspräche dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Aus dem dort
verankerten Demokratieprinzip folge die Pflicht zur Wahrung der Budgethoheit des
Parlaments, die für den demokratisch verfassten Staat ein unverzichtbares Mittel zur
Steuerung des gesamten staatlichen Handelns darstelle. Seien Volksbegehren zulässig,
die sehr erhebliche Auswirkungen auf staatliche Einnahmen und Ausgaben hätten, wäre
das Parlament ständig in Gefahr, in seiner Kernkompetenz erheblich beeinträchtigt zu
werden. Wie das Bundesverfassungsgericht bestätigt habe, sei das Budgetrecht des
Parlaments ein zentraler Bestandteil des Systems eines gewaltengeteilten
demokratischen Verfassungsstaats. Dem Parlament komme im Verhältnis zu den
anderen an der Feststellung des Haushaltsplans beteiligten Verfassungsorganen eine
überragende verfassungsrechtliche Stellung zu. Es treffe mit dem Haushaltsplan, der als
Wirtschaftsplan ein gesetzesförmiger staatsleitender Hoheitsakt sei, eine wirtschaftliche
Grundentscheidung für alle Bereiche der Politik und für die gesamte vollziehende
Staatsgewalt während des jeweiligen Planungszeitraums. Das so beschriebene
Budgetrecht des Parlaments sei dabei ein wesentliches Instrument der
Regierungskontrolle, die den Kernbereich der rechtsstaatlichen Demokratie betreffe und
sie entscheidend mitpräge. Die Budgethoheit beinhalte das Recht der
parlamentarischen Mehrheit und der von ihr getragenen Regierung, ihr politisches
Programm, das mit der Wahl eine demokratische Legitimation erhalten habe, in Gestalt
des – in der Regel in komplizierten politischen Aushandlungsprozessen erreichten –
Haushaltsplans zu verwirklichen.
Wie sich aus §§ 28 ff. der Landeshaushaltsordnung – LHO – ergebe, komme die
Budgetinitiative allein der Regierung zu. Damit werde der Tatsache Rechnung getragen,
dass die Regierung das Verfassungsorgan sei, das entsprechend seiner politischen
Leitungsaufgabe, nämlich die Ziele der Politik zu bestimmen, das Regierungsprogramm
aufzustellen und zu verwirklichen, als bestimmender Teil der Exekutive den übrigen
Gewalten gegenüber stehe. Das Parlament als maßgebliches Organ der Legislative habe
demgegenüber die Aufgabe, den Haushaltsplan festzustellen und durch Erlass des
Haushaltsgesetzes in Gesetzeskraft erwachsen zu lassen, ohne dabei an die
Budgetvorlage der Regierung gebunden zu sein. Parlament und Regierung trügen die
Verantwortung für einen ausgeglichenen Haushalt. Ausgaben dürften grundsätzlich nur
dann beschlossen werden, wenn auch ein entsprechender Haushaltsausgleich
geschaffen werden könne (Art. 85 ff. VvB, § 8 LHO, § 2 Satz 1
Haushaltsgrundsätzegesetz – HGrG –). Die Entscheidungsmöglichkeiten des
Haushaltsgesetzgebers bei der Aufstellung und Feststellung des Haushaltsplans und
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Haushaltsgesetzgebers bei der Aufstellung und Feststellung des Haushaltsplans und
auch bei Erlass einzelner finanzwirksamer Gesetze seien durch kaum veränderbare
Eckwerte wie Personalkosten, außerbudgetäre Gesetze (z.B. sozialstaatliche
Leistungsgesetze) und vertragliche Bindungen begrenzt.
Der Volksgesetzgeber sei hingegen nicht verpflichtet, bei seiner Willensbildung auf den
künftigen Haushalt und die Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
Rücksicht zu nehmen. Es bestehe auch keine Möglichkeit, im Gesetzgebungsverfahren
eine Deckungsmöglichkeit unter Anpassung des Gesetzentwurfs zu schaffen.
Unabhängig davon dürfte es dem Volksgesetzgeber aufgrund der Vielschichtigkeit der
zu berücksichtigenden Faktoren auch praktisch kaum möglich sein, die
Ausgabenplanung des Landes so zu überschauen, dass ein angemessener Ausgleich
unter Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorgesehen werden könne.
Eine haushaltswirksame Volksgesetzgebung könne deshalb in das austarierte
Zusammenwirken von Regierung und Parlament bei Aufstellung, Feststellung und
Verantwortung des Haushalts weitreichend eingreifen und ein vorhandenes
Gleichgewicht erheblich stören. Bei wiederholt erfolgreichen oder stark
ausgabewirksamen Volksbegehren könne sich der Handlungsspielraum des Parlaments
gegen Null bewegen und damit die Funktionsfähigkeit des Parlaments erheblich
beeinträchtigt werden und eine Überforderung des staatlichen Leistungsvermögens
eintreten. Müsse das Parlament für einen Deckungsausgleich sorgen, ohne sich zugleich
die durch das Volksbegehren herbeigeführten Begünstigungen zurechnen lassen zu
können, werde darüber hinaus auch sein Ansehen und damit seine
Repräsentationsfunktion beeinträchtigt.
Das Volksgesetzgebungsverfahren sei nicht geeignet, die erforderliche
Gemeinwohlorientierung sicherzustellen. Durch die mangelnde Verpflichtung des
Volksgesetzgebers, für vorgesehene Ausgaben entsprechende Einnahmen vorzusehen,
bestünde die Gefahr, dass Gesetze beschlossen würden, die mangels ausreichender
Berücksichtigung der Finanzierungsfragen zu einer gemeinwohlschädlichen Belastung
des Haushalts zu Lasten anderer Positionen führten. Darüber hinaus entspreche die
Mitwirkung der Bürger am Gesetzgebungsprozess nicht demokratischen Grundsätzen,
wenn sie mangels Regelung zur Haushaltsdeckung nicht aus dem Gesetzentwurf selbst
oder dessen Begründung dessen Inhalt und Tragweite erkennen und zwischen den
Zielen des finanzwirksamen Gesetzes und dessen haushaltswirtschaftlichen
Auswirkungen abwägen könnten.
Die vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof gezogene Grenze, wonach in die
Kompetenzen des Parlaments erst dann eingegriffen werde, wenn es diesem durch ein
mit aller Beschleunigung betriebenes Gesetzgebungsverfahren nicht mehr möglich wäre,
die vom Volksgesetzgeber geschaffenen haushaltswirksamen Positionen zu beseitigen,
sei zu eng. Zwar habe das Parlament rein rechtlich gesehen grundsätzlich die
Möglichkeit, seinen budgetären Gestaltungsspielraum durch die Aufhebung
finanzwirksamer Volksgesetze zurückzugewinnen. Die politische Hürde dürfte jedoch
kaum zu überwinden sein. Volksbegehren böten dem Volk die Möglichkeit, seiner
Unzufriedenheit mit den gewählten Volksvertretern Ausdruck zu verleihen. Durch die
Rückgängigmachung von Volksgesetzen, die aus dieser Unzufriedenheit resultierten,
begäbe sich das Parlament in einen direkten politischen Konflikt mit dem Volk, was
seiner Legitimität Schaden zufügen würde. Dies gelte umso mehr, als in Berlin – anders
als in Sachsen – in Art. 62 Abs. 6 VvB die Möglichkeit geschaffen worden sei, die
Wahlperiode des Abgeordnetenhauses im Wege des Volksbegehrens vorzeitig zu
beenden. Zudem befreie die Aufhebung eines finanzwirksamen Volksgesetzes, aufgrund
dessen langfristige Investitionen vorgenommen worden seien, das Land nicht von sich
zwangsläufig ergebenden Folgeausgaben.
Eine auf das formelle Haushaltsgesetz beschränkte Auslegung des Haushaltsvorbehalts
stünde ferner im Widerspruch zu Art. 109 Abs. 2 GG, da die Einhaltung der Verpflichtung,
bei der Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts Rechnung zu tragen, insbesondere übermäßige Haushaltsdefizite zu
vermeiden, nicht mehr sichergestellt wäre.
Eine unzulässige Beeinträchtigung des Landeshaushalts wäre auch dann anzunehmen,
wenn die Berechnungen der Einspruchsführer als richtig unterstellt würden. Aus der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Landesverfassung von Schleswig-
Holstein lasse sich nicht ableiten, dass eine Belastung, die knapp unter den dort
genannten Prozentwerten liege, verfassungsrechtlich unbedenklich wäre. Vielmehr liege
die Vermutung nahe, dass das Bundesverfassungsgericht eine absolute Mehrbelastung
von 0,48 % ebenfalls nicht für zulässig gehalten hätte.
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Wären die verfassungsrechtliche Erheblichkeitsschwelle überschreitende finanzwirksame
Gesetze nicht durch Art. 62 Abs. 2 VvB der Volksgesetzgebung entzogen, ergäbe sich
diese Beschränkung aus der aus Art. 85 ff. VvB herzuleitenden verfassungsimmanenten
Schranke des Budgetrechts des Abgeordnetenhauses. Entgegen der Auffassung der
Einspruchsführer genügten die grundsätzlichen Beschränkungen des Volksgesetzgebers
durch den Abgabenvorbehalt und die Möglichkeiten des Parlaments, den begehrten
Entwurf in seinen wesentlichen Bestandteilen anzunehmen oder einen eigenen
„haushaltsverträglicheren“ Gesetzentwurf zur Abstimmung zu bringen, nicht dem
besonderen Schutzbedürfnis des parlamentarischen Budgetrechts.
Der Senat habe ein Volksbegehren grundsätzlich auch auf seine Vereinbarkeit mit der
Verfassung von Berlin, dem Grundgesetz und sonstigem Bundesrecht zu überprüfen.
Die Prüfung sei nicht auf Art. 62 Abs. 2 VvB und die Anforderungen der §§ 10 bis 16
AbstG zu beschränken. Aus § 17 Abs. 5 AbstG ergebe sich keine entsprechende
Beschränkung des Kontrollmaßstabes, vielmehr lasse der Wortsinn die Prüfung weiterer
Aspekte zu und sprächen systematische Erwägungen für diese Auffassung. Anderes
lasse sich auch der Entstehungsgeschichte der Regelung nicht entnehmen. Eine
weitreichende Präventivkontrolle sei aus verfahrensökonomischen Erwägungen und zum
Grundrechtsschutz der potenziell Betroffenen geboten. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 36
VvB stünden einer Mitwirkung des Senats an der Herbeiführung eines erkannt
höherrangiges Recht verletzenden Volksentscheids entgegen.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin teilt die Ansicht des Senats zu einer umfassenden
Prüfungskompetenz. Ergänzend verweist das Abgeordnetenhaus auf die Regelung in §§
42a, 55 Abs. 3 VerfGHG. Diese eröffne die Möglichkeit, bereits vor Durchführung des
Volksbegehrens den Verfassungsgerichtshof anzurufen, um ein Volksbegehren zu
verhindern, das auf ein voraussichtlich für ungültig zu erklärendes Gesetz gerichtet sei.
Es könne nicht gewollt sein, dass der Senat einerseits verpflichtet sei, ein erkannt
verfassungswidriges Volksbegehren einzuleiten, um sodann den Verfassungsgerichtshof
im Wege des bezeichneten Eilverfahrens hiermit befassen zu können und müssen.
II.
Der nach § 41 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren und
Volksentscheid (Abstimmungsgesetz – AbstG –) vom 11. Juni 1997 (GVBl. S. 304),
geändert durch das Gesetz zur Anpassung abstimmungsrechtlicher Vorschriften und
begleitender Regelungen (Anpassungsgesetz – AnpassG –) vom 20. Februar 2008 (GVBl.
S. 22) i. V. m. § 14 Nr. 7 und § 55 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof –
VerfGHG – zulässige Einspruch gegen die Entscheidung des Senats vom 26. August
2008 ist begründet. Die Entscheidung des Senats, das Volksbegehren sei unzulässig, ist
mit Art. 62 Abs. 2 der Verfassung von Berlin – VvB – und § 17 Abs. 5 Satz 1 AbstG nicht
vereinbar und aufzuheben (§ 55 Abs. 2 VerfGHG).
1. Rechtsgrundlage der angegriffenen Entscheidung ist § 17 Abs. 5 Satz 1 AbstG.
Danach stellt der Senat für den Fall, dass das Volksbegehren nach Artikel 62 Abs. 2 der
Verfassung von Berlin unzulässig ist oder nicht den Anforderungen der §§ 10 bis 16
AbstG entspricht, dies durch Beschluss ausdrücklich fest.
§ 17 Abs. 5 Satz 1 AbstG legt durch den vorgegebenen Prüfkatalog den Maßstab der
Zulässigkeitsprüfung im Stadium der Einleitung des Volksbegehrens abschließend fest.
Für zwei genau bezeichnete Fälle (das Volksbegehren ist nach Artikel 62 Abs. 2 VvB
unzulässig – Alt. 1 – oder entspricht nicht den Anforderungen der §§ 10 bis 16 AbstG –
Alt. 2 –) wird festgelegt, dass der Senat durch Beschluss die Unzulässigkeit des
Volksbegehrens feststellt. Ein tatbestandsöffnender Zusatz, wie ihn entsprechende
Bestimmungen anderer Bundesländer enthalten (vgl. etwa Art. 64 Abs. 1 Satz 2
Landeswahlgesetz Bayern; § 3 Abs. 1 Volksabstimmungsgesetz Saarland), findet sich in
§ 17 Abs. 5 AbstG nicht. Danach ist der Senat von Berlin grundsätzlich nicht befugt, den
Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens über diese Anforderungen hinaus auf
Verstöße gegen höherrangiges Recht zu überprüfen. Weder Entstehungsgeschichte,
Gesetzessystematik noch (landes- oder bundes)verfassungsrechtliche Vorgaben bieten
Anlass für eine andere Auslegung (vgl. im Einzelnen Urteil vom heutigen Tage in dem
Verfahren VerfGH 63/08 unter II. 3.).
2. Das Volksbegehren ist unter der Voraussetzung, dass es im Falle eines erfolgreichen
Volksentscheides frühestens mit dem nächsten auf die Verkündung des Gesetzes
folgenden Haushaltsjahr in Kraft tritt, kein (unzulässiges) Volksbegehren zum
Landeshaushaltsgesetz im Sinne des Art. 62 Abs. 2 VvB.
Der Haushaltsvorbehalt des Art. 62 Abs. 2 VvB (in der seit Beginn der 16. Wahlperiode
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Der Haushaltsvorbehalt des Art. 62 Abs. 2 VvB (in der seit Beginn der 16. Wahlperiode
des Abgeordnetenhauses von Berlin 2006 geltenden Fassung) schließt Volksbegehren
aus, die die formelle Haushaltsgesetzgebung im Sinne der Art. 85 ff. VvB betreffen.
Unzulässig sind danach nur Volksbegehren, die das Haushaltsgesetz und den in ihm
festgestellten Haushaltsplan für das laufende Haushaltsjahr unmittelbar zum
Gegenstand haben. Dazu gehören auch Volksbegehren, die in einen im Zeitpunkt des
Zustandekommens des Volksgesetzes geltenden Haushaltsplan eingreifen Dagegen
erstreckt sich der Haushaltsvorbehalt des Art. 62 Abs. 2 VvB nicht auf finanzwirksame
Gesetze, die sich lediglich auf künftige Haushaltsgesetze und zukünftige
Haushaltsperioden auswirken. Die nach der alten Fassung des Haushaltsvorbehalts in
Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. bestehende Schranke für finanzwirksame Volksbegehren, die in
ihren Auswirkungen auf den Landeshaushalt eine durch Gesamtabwägung zu
bestimmende „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten, gilt nach der hier anzuwendenden
Neufassung des Art. 62 Abs. 2 VvB nicht. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut, der
Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck des Haushaltsvorbehalts neuer Fassung.
a)Während nach Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. Volksbegehren zum "Landeshaushalt"
unzulässig waren, sind nach der neuen Fassung des Art. 62 Abs. 2 VvB nur noch
Volksbegehren “zum Landeshaushaltsgesetz“ unzulässig. Der verfassungsändernde
Gesetzgeber hat mit "Landeshaushaltsgesetz" einen in Art. 85 Abs. 1 VvB in seinem
Bedeutungsgehalt eindeutig definierten Begriff gewählt: Durch das
(Landes)Haushaltsgesetz wird der Haushaltsplan festgestellt, in dem für jedes
Rechnungsjahr alle Einnahmen und Ausgaben veranschlagt werden müssen. Auch im
allgemeinen juristischen Sprachgebrauch ist "Haushaltsgesetz" das den Haushalt
feststellende formelle Gesetz (vgl. Köbler, Juristisches Wörterbuch, 14. Auflage 2004).
Bei wortlautgetreuer Auslegung kommt diesem Begriff – anders als der Formulierung
"Landeshaushalt" in Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. – kein über die Haushaltsgesetzgebung im
engen Sinne hinausgehender materieller Gehalt zu. Das Haushaltsgesetz und der mit
diesem eine Einheit bildende Haushaltsplan (BVerfGE 38, 121 <126>; Korbmacher, in:
Driehaus, VvB, 2. Aufl. 2005, Art. 85, Rn. 12) sind in formeller, begrifflicher Hinsicht
streng von den Einnahmen bzw. Ausgaben auslösenden finanzwirksamen Einzelgesetzen
zu unterscheiden (Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der
Volksgesetzgebung, 2005, S. 77; Rosenke, Die Finanzbeschränkungen bei der
Volksgesetzgebung in Deutschland, 2005, S. 254; vgl. auch Art. 110 Abs. 4 GG). Der
durch das Haushaltsgesetz festgestellte Haushaltsplan, der keine Außenwirkung
entfaltet (§ 3 Abs. 2 LHO; Kisker in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV,
1990, § 89 Rn. 26; Schenke in: Sodan, Grundgesetz, 2009, Art. 110, Rn. 11), vollzieht im
Wesentlichen die Entscheidungen der Sachgesetzgebung nach. Letztere verwirklicht die
politische Konzeption, die im jährlichen Haushaltsplan in konkrete Ausgaben- und
Einnahmenansätze zu transformieren ist (vgl. BVerfGE 119, 96 <126>; E 79, 311 <329
f.>). Der Haushaltsplan enthält zeitlich begrenzt und ausgabenbezogen ein die
Regierungspolitik in Zahlen widerspiegelndes „Regierungsprogramm in Gesetzesform“
(BVerfGE 79, 311 <329>).
Dem Wortsinn nach umfasst der Begriff „Volksbegehren zum Haushaltsgesetz“ nicht nur
Volksbegehren, die unmittelbar auf die Änderung eines bestehenden Haushaltsgesetzes
gerichtet sind, sondern auch solche, die eine solche Änderung zwingend nach sich
ziehen (vgl. auch Urteil vom 2. Juni 1999 – VerfGH 22/99 – LVerfGE 10, 64 <67 f.> und –
wie alle im Folgenden zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs – unter
www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de). Insoweit geht Art. 62 Abs. 2 VvB
über Art. 73 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung in der Auslegung durch den
Sächsischen Verfassungsgerichtshof hinaus.
b) Entgegen der Ansicht des Senats ergeben die Gesetzesmaterialien und die
Entstehungsgeschichte keinen Anhalt für eine andere Auslegung.
Die Begründung zur Neufassung des Haushaltsvorbehalts in Art. 62 Abs. 2 VvB in dem
von allen Fraktionen des Abgeordnetenhauses gemeinsam eingebrachten Entwurf des
Achtes Gesetzes zur Änderung der Verfassung von Berlin (Abghs-Drs. 15/5038, S. 6)
lautet wörtlich:
„2. Das Ausschlusskriterium -Landeshaushalt wird in -Landeshaushalts-gesetz
geändert. Damit wird nur klargestellt, dass Volksbegehren auch dann zulässig sein
können, wenn sie Einnahmen oder Ausgaben auslösen. Die Volksgesetzgebung wird
nicht unter einen pauschalen Finanzvorbehalt gestellt, da sonst weite Regelungsbereiche
von der direkten Demokratie ausgeschlossen wären. Dies entspricht im Übrigen der
bisherigen Rechtslage.
Die Grenze, ab wann ein finanzwirksames Volksbegehren den -Landes-haushalt
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Die Grenze, ab wann ein finanzwirksames Volksbegehren den -Landes-haushalt
verletzt, ist verfassungsrechtlich nicht bestimmbar. Deshalb war es erforderlich, die
Klausel auf den Begriff des „Haushaltsgesetzes“ zu konkretisieren, was seine
Bestandteile und damit auch den Haushaltsplan umfasst. Dieses ist für die
Volksgesetzgebung schon deshalb ungeeignet, weil es in einem festen zeitlichen
Rahmen verabschiedet werden muss. Auch eignet sich die auf ein konkretes Vorhaben
zugeschnittene direkte Demokratie nicht als Instrument der globalen Steuerung durch
das Haushaltsgesetz, welches dem Parlament vorbehalten bleibt.
Volksgesetzgebung und direkte Demokratie finden auch jenseits des
Landeshaushaltsgesetzes in der Verfassung selbst ihre immanenten Grenzen im
Budgetrecht des Parlaments sowie in den Anforderungen an einen verfassungsgemäßen
Haushalt, für den das Parlament die alleinige Verantwortung trägt.
Die Frage, wie die nötige Kostentransparenz geschaffen werden kann, damit die
Bürgerinnen und Bürger auch wissen, welche finanziellen Auswirkungen ihre
Entscheidungen haben, soll im Ausführungsgesetz ähnlich geregelt werden, wie beim
Bürgerbegehren und Bürgerentscheid.“
Ausweislich des zweiten Absatzes der Begründung hat der verfassungsändernde
Gesetzgeber bewusst den Begriff des „Haushaltsgesetzes“, der „seine Bestandteile und
damit auch den Haushaltsplan umfasst“, in seiner haushaltsrechtlichen Bedeutung
gewählt, um der Vorbehaltsklausel in Art. 62 Abs. 2 VvB einen eindeutig bestimmten
Inhalt zu geben. Er hielt die Konkretisierung auf den Begriff des „Haushaltsgesetzes“ für
„erforderlich“, weil Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. seiner Auffassung nach den Ausschlussgrund
in „verfassungsrechtlich nicht bestimmbarer“ Weise formulierte. Die so als zumindest
problematisch gekennzeichnete Verfassungslage sollte nicht aufrecht erhalten bleiben.
Zur Reichweite des Haushaltsvorbehalts nach Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. hatte der
Verfassungsgerichtshof wenige Monate vor Einbringung des Antrages zur
Verfassungsänderung im Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 35/04 – (LVerfGE 16,
41 ff.) entschieden, dass diese durch eine im jeweiligen Einzelfall im Ergebnis einer
Gesamtabwägung festzustellende Erheblichkeitsschwelle bestimmt werde. Für ein auf
das formelle Haushaltsgesetz beschränktes Begriffsverständnis sah er im Wortlaut des
Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. keinen Anknüpfungspunkt, da der Verfassungsgeber gerade
nicht den in Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB ausdrücklich definierten Begriff „Haushaltsgesetz“
verwendet hatte (a. a. O. S. 61). In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dieser
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs hat sich der verfassungsändernde
Gesetzgeber veranlasst gesehen, den Haushaltsvorbehalt neu zu formulieren und dabei
gerade den in Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB definierten Begriff „(Landes)haushaltsgesetz“
zu verwenden. Er hat sich dabei, wie aus der Gesetzesbegründung hervorgeht, von
einem auf das formelle Haushaltsgesetz beschränkten Begriffsverständnis leiten lassen.
Auch aus der Formulierung, mit der Änderung des Ausschlusskriteriums
„Landeshaushalt“ in „Landeshaushaltsgesetz“ werde „nur klargestellt, dass
Volksbegehren auch dann zulässig sein können, wenn sie Einnahmen oder Ausgaben
auslösen“, und es entspreche „im Übrigen der bisherigen Rechtslage“, wenn die
Volksgesetzgebung nicht unter einen pauschalen Finanzvorbehalt gestellt werde, folgt
nichts anderes. Insbesondere ergibt sich daraus nicht, dass der verfassungsändernde
Gesetzgeber mit der „Konkretisierung“ des Ausschlusskriteriums lediglich eine
redaktionelle Klarstellung vornehmen und die auf den alten Wortlaut bezogene
Auslegung festschreiben, also letztlich alles beim Alten belassen wollte. Außerdem kann
der erste Absatz der Begründung des Gesetzentwurfs auch in dem Sinne verstanden
werden, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die Auslegung von Art. 62 Abs. 5
VvB a. F. durch den Verfassungsgerichtshof als zu eng ansah und aus diesem Grunde
eine „Klarstellung“ der Zulässigkeit von Volksbegehren, die Einnahmen und Ausgaben
auslösen, für erforderlich hielt.
Art. 62 Abs. 2 VvB ist schließlich nicht isoliert neu gefasst worden, sondern im Zuge
einer generellen Erweiterung der Gegenstände der Volksinitiative und
Volksgesetzgebung als Instrumente der direkten Demokratie und der Erleichterung ihrer
Handhabung (Abghs-Drs. 15/5038, S. 3). Nunmehr kann selbst die Verfassung durch
Volksentscheid geändert werden. Wie bereits die Einführung des Bürgerentscheids auf
Bezirksebene im Jahr zuvor (Fünftes Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin
vom 28. Juni 2005 – GVBl. S. 346 –; Siebentes Gesetz zur Änderung der
Bezirksverwaltungsgesetzes vom 7. Juli 2005 – GVBl. S. 390), ist die Erweiterung der
plebiszitären Einflussmöglichkeiten auf Landesebene im Jahr 2006 Ausdruck einer
verfassungspolitischen Entscheidung für mehr direkte Demokratie und eines
gewachsenen Vertrauens in das Volk als Mitgestalter der landesrechtlichen und
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gewachsenen Vertrauens in das Volk als Mitgestalter der landesrechtlichen und
gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Dass der verfassungsändernde
Gesetzgeber insoweit auch Entscheidungen der Bürger mit finanziellen Auswirkungen im
Blick hatte, hat seinen Niederschlag auch im letzten Absatz der Begründung des
Entwurfs zu Art. 62 Abs. 2 VvB gefunden. Entstehungsgeschichtlich drängt es sich
deshalb auf, Art. 62 Abs. 2 VvB gerade nicht so eng wie Art. 62 Abs. 5 VvB a. F.
auszulegen, sondern entsprechend dem verfassungspolitischen Anliegen der Änderung
zu Gunsten einer erheblichen Erweiterung der Zulässigkeit von finanzwirksamen
Volksbegehren und Volksentscheiden.
c) Der Haushaltsvorbehalt dient nach seinem Sinn und Zweck der Regelung des
Verhältnisses zwischen der Haushaltsgesetzgebung in ihrer Ausgestaltung durch Art. 85
ff. VvB und der Volksgesetzgebung. Insoweit trägt der Haushaltsvorbehalt dem
Budgetrecht des Parlaments und den Anforderungen an einen verfassungsgemäßen
Haushalt Rechnung (vgl. Abghs-Drs. 15/5038, S. 6; s. o.).
Das Budgetrecht wird maßgeblich durch die verfassungsrechtlichen
Haushaltsgrundsätze der Vollständigkeit und Einheitlichkeit (Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB: „
Alle Einnahmen und Ausgaben müssen…. in dem Haushaltsplan veranschlagt werden“),
der Jährlichkeit (Art. 85 Abs. 1 Satz 1. „für jedes Rechnungsjahr“), der Vorherigkeit und
der Ausgeglichenheit (Korbmacher, in: Driehaus, a. a. O., Art. 85 Rn. 9, 11) geprägt.
Diesen zeitlichen und inhaltlichen Vorgaben vermag das auf konkrete Sachfragen
zugeschnittene und sich zwingend über einen mehrmonatigen Zeitraum erstreckende
Volksgesetzgebungsverfahren nicht in allem gerecht zu werden. Art. 62 Abs. 2 VvB trägt
dem Rechnung und stellt klar, dass sowohl die Budgetinitiative, d. h. das Recht, den
Haushaltsplan einzubringen, als auch die Feststellung des Haushaltsplanes durch das
Haushaltsgesetz dem Volksgesetzgeber entzogen sind. Diese Klarstellung ist entgegen
der Ansicht der Senatsverwaltung für Inneres bei systematischer Betrachtung nicht
überflüssig. Der Erlass des Haushaltsgesetzes ist in Art. 85 ff. VvB nicht ausdrücklich
dem Abgeordnetenhaus vorbehalten. Auch der Grundsatz der Budgetinitiative der
Regierung ist in der Verfassung von Berlin – anders als im Grundgesetz (Art. 110 Abs. 3
GG) – nicht ausdrücklich verankert. Lediglich aus Art. 86 Abs. 3 Satz 2 VvB, wonach die
fünfjährige Finanzplanung dem Abgeordnetenhaus von Berlin mit dem Entwurf des
Haushaltsplans für das nächste Haushaltsjahr vorzulegen ist, lässt sich dieser Grundsatz
mittelbar entnehmen (Korbmacher, in: Driehaus, a. a. O., Art. 85 Rn. 2).
Art. 62 Abs. 2 VvB verleiht darüber hinaus insbesondere dem verfassungsrechtlichen
Grundsatz der Jährlichkeit des Haushaltsplans auch gegenüber der Volksgesetzgebung
Wirkung. Das Jährlichkeitsprinzip und das Gebot der Vorherigkeit, wonach der
Haushaltsplan grundsätzlich vor Beginn des Haushaltsjahres festzustellen ist (hierzu
Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 217/04 –, LVerfGE 16, 80 <94>), zielen auf die
Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in zeitlicher Hinsicht und gewährleisten
insbesondere die Leitungsfunktion des Haushalts für das gesamte Haushaltsjahr (vgl.
zum Bundesrecht: BVerfGE 119, 96 <120>).
Nach Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB wird der Haushaltsplan für jedes Rechnungsjahr
aufgestellt. Rechnungsjahr ist gemäß § 4 Satz 1 des Gesetzes über die Grundsätze des
Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzegesetz – HGrG –;
BGBl I 1969, S. 1273, zuletzt geändert durch Gesetz v. 31.10.2006, BGBl. I, S. 2407) das
Kalenderjahr. Auch der verspätet verabschiedete Haushaltsplan erstreckt sich auf das
gesamte Rechnungsjahr und wird insoweit für die bereits verstrichene Zeit rückwirkend in
Kraft gesetzt. Soweit Art. 85 Abs. 1 Satz 2 VvB eine Veranschlagung und Feststellung für
einen längeren Zeitabschnitt durch Gesetz zulässt und § 9 Abs. 1 HGrG bzw. § 12 Abs. 1
LHO (GVBl. 2009, S. 31) entsprechend die Möglichkeit eröffnen, den Haushaltsplan für
zwei Haushaltsjahre, nach Jahren getrennt, aufzustellen, wird das Jährlichkeitsprinzip
hierdurch nicht aufgehoben, sondern lediglich modifiziert, da es bei der Trennung nach
Jahren bleibt (Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 217/04 –, a. a. O.).
Die Entscheidung über die Verteilung aller voraussichtlichen Einnahmen im
Rechnungsjahr ist ungeachtet der Einschränkung des Gestaltungsspielraums durch
kaum veränderbare Eckwerte wie Personalkosten, außerbudgetäre (Bundes-)Gesetze
und vertragliche Bindungen in der Regel das Ergebnis eines komplizierten politischen
Aushandlungsprozesses (Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 35/04 –, LVerfGE 16,
41 <64>). Der Haushaltsplan als Ergebnis dieses Aushandlungsprozesses stellt die für
ein Jahr verbindliche Entscheidung über die Mittelverteilung dar. Mit der Entscheidung
über den Haushaltsplan, der ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleitender
Hoheitsakt in Gesetzesform ist, trifft das Parlament eine wirtschaftliche
Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik während des Planungszeitraums
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Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik während des Planungszeitraums
(zum Bundesrecht: BVerfGE 45, 1 <32>). Nach Art. 62 Abs. 2 VvB soll der
Volksgesetzgeber an diese Entscheidung strikt gebunden sein. Die außerbudgetäre
Gesetzgebung des Abgeordnetenhauses zur Sicherung des Haushaltsausgleichs
unterliegt Beschränkungen und lässt Maßnahmen, die eine Minderung der Einnahmen
oder eine Erhöhung der Ausgaben gegenüber dem Haushaltsplan zur Folge haben, nur
in einem besonderen Verfahren zu (Art. 90 Abs. 1 und 2 VvB). Dagegen soll sich der
Volksgesetzgeber, dem dieses Verfahren nicht offen steht (vgl. ebenso Urteil vom 22.
November 2005 – VerfGH 35/04 –, a. a. O., S. 67 und Krafczyk, a. a. O., S. 136), nicht
über einen aktuellen Haushaltsplan hinwegsetzen können; ihm ist jeder Eingriff in den
Haushaltsplan und damit in den Kernbereich der Budgethoheit des Abgeordnetenhauses
prinzipiell untersagt.
Hingegen muss sich der Volksgesetzgeber nicht auch solche Haushaltspläne
entgegenhalten lassen, die in Anwendung von § 12 Abs. 1 LHO bereits für weitere
künftige Haushaltsjahre festgestellt sind.
Art. 85 Abs. 1 VvB geht zwar einerseits von dem Grundsatz der Jährlichkeit des
Haushaltsplans und des Haushaltsgesetzes aus, ermächtigt das Parlament aber
andererseits, hiervon nach seinem nicht näher begrenzten, also grundsätzlich weiten
haushaltspolitischen Ermessen abzuweichen und "eine Veranschlagung und Feststellung
für einen längeren Zeitabschnitt" zuzulassen. In der Staatspraxis haben sich zunehmend
zweijährige Haushaltsgesetze durchgesetzt. Die Zulassung einer haushaltswirksamen
Volksgesetzgebung durch Art. 62 VvB lässt diese Regelung unberührt. Gleichwohl ist bei
der Prüfung, ob ein Volksbegehren im Sinne des Art. 62 Abs. 2 VvB einen Eingriff in den
gesetzlich festgestellten Haushaltsplan enthält, mit Rücksicht auf die vom
verfassungsändernden Gesetzgeber bezweckte Stärkung der Volksgesetzgebung nur
anzunehmen, wenn und soweit das Volksbegehren unter Beachtung des
verfassungsrechtlich vorrangigen Jährlichkeitsprinzips einen aktuellen Haushaltsplan
betreffen würde, d. h. im Falle eines erfolgreichen Volksentscheids finanzwirksame
Rechtswirkungen bereits in einem laufenden Rechnungsjahr (Kalenderjahr) entfalten
könnte. Absehbare Auswirkungen auf künftige Haushaltsjahre können hingegen ein
Volksbegehren nicht unzulässig machen; die sonst eintretenden zusätzlichen zeitlichen
Verzögerungen des Inkrafttretens erfolgreicher Volksentscheide würden dem Anliegen
des Art. 62 Abs. 2 VvB nicht gerecht.
Finanzwirksame Volksgesetze können danach in verfassungsrechtlich zulässiger Weise
nach Art. 62 Abs. 2 VvB i. V. m. Art. 85 Abs. 1 Satz 1 VvB nur für künftige Haushaltsjahre
beschlossen werden und in Kraft treten. Art. 90 Abs. 2 VvB ist – wie ausgeführt – auf die
Volksgesetzgebung nicht anwendbar; daran hält der Verfassungsgerichtshof in
Übereinstimmung mit dem Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 35/04 – (a. a. O.)
fest. Soweit der Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang zum
Haushaltsvorbehalt nach der alten Verfassungsrechtslage weitere grundsätzliche
Erwägungen zur Begrenzung der Volksgesetzgebung angestellt hat, sind diese auf die
geänderte neue Fassung des Art. 62 Abs. 2 VvB nicht übertragbar.
d) Bundesrecht steht der dargelegten Auslegung von Art. 62 Abs. 2 VvB nicht entgegen.
Dabei ist im Grundsatz unbestritten und steht nicht infrage, dass auch der
Volksgesetzgeber an höherrangiges Recht, insbesondere Bundesrecht, in gleicher Weise
wie das Abgeordnetenhaus gebunden ist. Aus dieser Bindung folgt indes weder eine
Pflicht zur Vorabprüfung von Volksbegehren auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem
Recht (vgl. oben zu II. 1.) noch enthält das Bundesrecht Vorgaben, die eine Erstreckung
des Haushaltsvorbehalts auf finanzwirksame (Volks-)Gesetze gebieten, welche in ihren
Auswirkungen auf künftige Haushalte eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle
überschreiten.
aa) Aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, wonach die
verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen,
demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen
und das Volk eine nach verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätzen gewählte Vertretung
haben muss, folgt keine solche Vorgabe.
Art. 28 Abs. 1 GG will dasjenige Maß an struktureller Homogenität zwischen Gesamtstaat
und Gliedstaaten gewährleisten, welches für das Funktionieren eines Bundesstaates
unerlässlich ist. Er will aber nicht für Uniformität sorgen (vgl. BVerfGE 9, 268 <279>).
Das Grundgesetz geht im Gegenteil von der grundsätzlichen Verfassungsautonomie der
Länder aus (vgl. BVerfGE 36, 342 <361>; 64, 301 <317> m. w. N.). Es fordert nur ein
Mindestmaß an Homogenität, das inhaltlich in Art. 28 Abs. 1 GG umschrieben ist. Dieser
Zurückhaltung gegenüber den Landesverfassungen entspricht eine enge Interpretation
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Zurückhaltung gegenüber den Landesverfassungen entspricht eine enge Interpretation
von Art. 28 Abs. 1 GG. Das Homogenitätserfordernis ist auf die dort genannten
Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen und innerhalb dieser wiederum auf deren
Grundsätze beschränkt. Die konkreten Ausgestaltungen, die diese Grundsätze im
Grundgesetz gefunden haben, sind für die Landesverfassungen nicht verbindlich
(BVerfGE 90, 60 <85>). Dem Ermessen der Länder überlassen ist insbesondere, ob sie
den Erlass von Gesetzen dem Parlament vorbehalten oder daneben ein
Volksgesetzgebungsverfahren vorsehen. In diesen Bereich der Gestaltungsfreiheit der
Länder, der weder durch Art. 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG noch durch andere Vorschriften
des Grundgesetzes beschränkt wird, gehören auch die landesrechtlichen Bestimmungen
darüber, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Inhalten Volksbegehren und
Volksentscheid zulässig sein sollen (BVerfGE 60, 175 <207>).
Die landesverfassungsrechtliche Zulassung finanzwirksamer Volksbegehren und
Volksentscheide, die im Erfolgsfall vom Parlament bei der Aufstellung künftiger
Haushalte zu berücksichtigen sind, stellt weder das Demokratie- und das
Rechtsstaatsprinzip noch die Funktions- und Handlungsfähigkeit des Abgeordnetenhaus
als durch Wahlen legitimierte Volksvertretung in Frage (Rosenke, a. a. O. S. 304 ff.; Rux,
Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 242 ff., 282; Neumann, Sachunmittelbare
Demokratie, 2009, Rn. 918 f.; a. A. ThürVerfGH, LVerfGE 12, 405 <449>; BayVerfGH,
BayVerfGHE 53, 42 <64>; Isensee, DVBl. 2001, 1161 <1163> ). Das ergibt sich bereits
daraus, dass im Wege der Volksgesetzgebung beschlossene finanzwirksame Gesetze
vom Abgeordnetenhaus jederzeit geändert oder aufgehoben werden können. Nach Art.
62 Abs. 2 VvB sind außerdem Volksbegehren unzulässig, die finanzwirksame Regelungen
vorsehen, welche unmittelbar in bestehende Haushaltsgesetze eingreifen oder zu einem
Zeitpunkt vor Ablauf eines aktuellen Haushaltsjahres in Kraft treten.
Die Budgethoheit als „wesentliches Instrument der parlamentarischen
Regierungskontrolle, die die rechtsstaatliche Demokratie entscheidend prägt“ (BVerfGE
70, 324 <356>), bleibt in der Ausgestaltung durch Art. 85 ff. und 62 Abs. 2 VvB dem
Abgeordnetenhaus vorbehalten. Das Abgeordnetenhaus hat im Verhältnis zum Senat
die Letztentscheidungskompetenz über den für jedes Rechnungsjahr zu erstellenden
Haushaltsplan, der während des Haushaltsjahres auch für den Volksgesetzgeber
verbindlich ist. Mit dem alleinigen Haushaltsbewilligungsrecht ist und bleibt ihm die
politische Kontrolle des gesamten Staatsapparats und Staatshandelns eröffnet (vgl.
Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. 3, 2000, Art. 110 Rn. 12 a. E.).
Außerbudgetäre Gesetze, die die Dispositionsfreiheit des parlamentarischen
Haushaltsgesetzgebers einschränken, stellen die Budgethoheit des Parlaments nicht
grundsätzlich in Frage. Sie „unterminieren“ (so Isensee, a. a. O.) nicht die
Haushaltsverantwortung des Parlaments. Dessen Handlungsmöglichkeiten werden durch
finanzwirksame Volksgesetze nicht in einem Maße beschnitten, dass das
Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG verletzt wäre.
Sieht sich das Abgeordnetenhaus wegen eines erfolgreichen Volksbegehrens veranlasst,
seine Planungen und Prioritätensetzungen zu modifizieren, ist dies notwendige Folge der
Verfassungsentscheidung für mehr direkte Demokratie und nicht per se
demokratiewidrig (Degenhart, ThürVBl. 2001, 201 <210>). Es liegt in der Konsequenz
der Modifikation des repräsentativ-demokratischen parlamentarischen Systems durch
die Möglichkeit der plebiszitären Gesetzgebung, dass die parlamentarische Mehrheit ihr
politisches Programm nicht mehr notwendig ungebrochen durchführen kann
(SächsVerfGH, LVerfGE 13, 315 <329>).
Außerdem erlegen Volksgesetze dem parlamentarischen Landesgesetzgeber – anders
als zum Beispiel Bundesgesetze – keine von diesem zwingend hinzunehmenden
Bindungen auf. Das Abgeordnetenhaus von Berlin kann plebiszitäre Gesetze jederzeit
ganz oder teilweise aufheben. Die Verfassung von Berlin beschränkt seine
Gesetzgebungskompetenz insoweit nicht, sondern stellt die Volksgesetzgebung in Art. 3
Abs. 1 Satz 1 gleichwertig neben die parlamentarische Gesetzgebung, ohne ihr einen
Vorrang einzuräumen. So wie der Volksgesetzgeber – mit der Begrenzung des Art 62
Abs. 1 Satz 3 VvB – Entscheidungen des Parlamentsgesetzgebers abändern kann (Art.
62 Abs. 1 Satz 1 VvB: „Volksbegehren können darauf gerichtet werden, Gesetze zu
erlassen, zu ändern oder aufzuheben,…“), muss umgekehrt auch das Parlament
Entscheidungen des Volksgesetzgebers nicht als unumstößlich hinnehmen (vgl. so auch
im Ansatz Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 35/04 –, a. a. O., S. 65 m. w .N.;
HambVerfG, LVerfGE 15, 221 <234 f.> m. w. N. ; BayVerfGH, a. a. O., S. 61;
SächsVerfGH, LVerfGE 13, 315 <329>; Rossi/Lenski, DVBl. 2008, 416 <418 f.>; Müller,
LKV 2008, 451 <453>). Ob der Grundsatz der Organtreue im Verhältnis zwischen Volk
und Parlament Anwendung findet, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner
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und Parlament Anwendung findet, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner
Entscheidung, da sich auch aus diesem Gebot keine den Parlamentsgesetzgeber
„knebelnden“ Bindungen ergäben (vgl. Beschluss vom 27. Oktober 2008 – VerfGH 86/08
–, juris, Rn. 76 f.).
Angesichts des mit der beabsichtigten Stärkung der direkten Demokratie (Abghs-Drs.
15/5038, S. 5) zum Ausdruck gebrachten gewachsenen Vertrauens des
verfassungsändernden Gesetzgebers in das Zusammenwirken von repräsentativen und
direkt-demokratischen Entscheidungsprozessen kann es verfassungsrechtlich auch nicht
darauf ankommen, ob die Möglichkeit des Parlaments, den zur Erfüllung seiner Aufgaben
notwendigen budgetären Gestaltungsspielraum durch die Änderung oder Aufhebung
finanzwirksamer Volksgesetze zurückzugewinnen, „realitätsfern“ ist, wie der
Verfassungsgerichtshof noch im Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 35/04 –, (a. a.
O., S. 65) angenommen hat. Das Nebeneinander von parlamentarischem und
Volksgesetzgebungsverfahren für sich deckende Regelungsbereiche stellt beide
Verfahren in ein Spannungsverhältnis zueinander. Setzt der verfassungsändernde
Gesetzgeber das Parlament bewusst diesem Spannungsverhältnis aus, ist damit die
Erwartung verbunden, dass es in der Lage ist, sich hierin zu behaupten, ohne dass die
Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Organe in Frage gestellt werden. Das
Vertrauen in den mündigen und verantwortungsbewussten Bürger erstreckt sich nicht
nur auf sein Abstimmungsverhalten, sondern auch auf seine Bereitschaft, sich sowohl im
Vorfeld einer Abstimmung als auch in der öffentlichen Diskussion um den Vollzug
beziehungsweise die Änderung oder Aufhebung eines Volksgesetzes mit den
Argumenten von Senat und/oder Abgeordnetenhaus auseinanderzusetzen, wenn diese
ein Volksgesetz und dessen Folgewirkungen für unvereinbar mit höherrangigem Recht
oder dem Gemeinwohl halten. Schon bei der öffentlichen Erörterung eines
Volksbegehrens - und ebenso im weiteren Verfahren - können der Senat und das
Abgeordnetenhaus ihre Positionen wirksam öffentlich zur Geltung bringen und dabei
auch darauf hinweisen, dass notfalls auch eine Korrektur durch Parlamentsgesetz ohne
Bindung an einen erfolgreichen Volksentscheid möglich bleibt.
Auch die Komplexität haushaltsrechtlicher Entscheidungen gebietet nicht, die
Urteilsfähigkeit der Bürger im Zusammenhang mit finanzwirksamen Gesetzen
grundlegend in Zweifel zu ziehen (vgl. VerfGBbg, LVerfGE 12, 119 <139>). Mögen die
haushaltsrechtlichen Folgen, insbesondere die Deckungsmöglichkeiten und die
Notwendigkeit der Kürzung der Mittel für andere Aufgaben, für die Mehrzahl der
Abstimmungsberechtigten nicht selbst ermittelbar sein, rechtfertigt dies noch nicht die
Befürchtung, dass sie sich in der Mehrheit entsprechenden Darlegungen im Vorfeld einer
Abstimmung verschließen oder die Entscheidung des Abgeordnetenhauses, ein
Volksgesetz ganz oder teilweise wieder aufzuheben, nicht nachzuvollziehen bereit oder
in der Lage wären. Führt ein Volksgesetz zu Folgen, die aus der Sicht des
Abgeordnetenhauses nicht vertretbar erscheinen, und wird das Volksgesetz deshalb
korrigiert, dürfte dies mündigen und verantwortungsbewussten Bürgern auch in
Anbetracht komplizierter Sachzusammenhänge vermittelbar sein. Im Übrigen schützt
die Verfassung den Senat und das Abgeordnetenhaus auch sonst nicht vor unpopulären
Entscheidungen, die sie als verfassungsrechtlich oder politisch geboten erachten.
Schließlich verhindern die Ausgestaltung des Volksgesetzgebungsverfahrens,
insbesondere das für die Annahme eines Gesetzes erforderliche Quorum der Mehrheit
der Teilnehmer und zugleich mindestens eines Viertels der zum Abgeordnetenhaus
Wahlberechtigten (Art. 63 Abs. 1 Satz 3 VvB) und das Quorum für eine vorzeitige
Beendigung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses (Art. 63 Abs. 3 VvB) sowie die
Einmaligkeit von Volksbegehren zu demselben Thema innerhalb einer Wahlperiode (Art.
62 Abs. 1 Satz 3 VvB), dass sich Sonderinteressen, die das Gemeinwohl ignorieren,
gegen Entscheidungen des Abgeordnetenhauses durchsetzen (vgl. Urteil vom 22.
November 2005 – VerfGH 35/04 –, a. a. O., S. 63). Auch insoweit hat die
Landesverfassung hinreichende Vorkehrungen gegen eine gemeinwohlschädliche
Volksgesetzgebung getroffen; es ist nicht erkennbar, dass höherrangiges Recht mehr
oder anderes erfordert.
So wird das Demokratieprinzip auch durch etwaige Informationsdefizite der
Abstimmungsberechtigten nicht durchgreifend in Frage gestellt. Eine demokratischen
Grundsätzen entsprechende freie und unbeeinflusste Teilnahme der Staatsbürger an der
staatlichen Willensbildung durch Volksbegehren und Volksentscheid setzt nicht zwingend
voraus, dass sich dem Gesetzentwurf des Volksbegehrens die zukünftige
Haushaltsdeckung der mit dem Volksgesetz verbundenen Ausgaben entnehmen lässt
(a. A. wohl Krafczyk, a. a. O., S. 290). Die Einschätzung, dass die Kenntnis der
prognostizierten Kosten, die sich aus der Verwirklichung des Gesetzentwurfs des
Volksbegehrens ergeben würden, für die Bürger die nötige Kostentransparenz zur
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Volksbegehrens ergeben würden, für die Bürger die nötige Kostentransparenz zur
Beurteilung der finanziellen Auswirkungen ihrer Entscheidung schaffe (vgl. Abghs-Drs.
15/5038, S. 6 a. E., § 45 Abs. 2 und § 46 Abs. 2 des Bezirksverwaltungsgesetzes –
BezVG –, GVBl. 2006, S. 2), hält sich auch insoweit im Rahmen des Einschätzungs- und
Prognosespielraums des verfassungsändernden Gesetzgebers (hierzu: Beschluss vom
1. November 2004 – VerfGH 120/03 – LKV 2005, 212; BVerfG, Beschluss vom 22. April
2009 – 1 BvR 121/08 – juris Rn. 41; BVerfGE 104, 337 <347 f.>). Allerdings hat der
Verfassungsgerichtshof im Urteil vom 22. November 2005 – VerfGH 35/04 – (a. a. O. S.
67) zu Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. auf ein Informations- und Abwägungsdefizit der
Abstimmungsberechtigten bei haushaltswirksamen Gesetzen oberhalb der
Erheblichkeitsschwelle des damaligen Haushaltsvorbehalts hingewiesen. Diese
Ausführungen beziehen sich jedoch auf die frühere Fassung des Haushaltsvorbehalts in
Art. 62 Abs. 5 VvB a. F. und enthalten keine Aussage zu den Grenzen einer zulässigen
Verfassungsänderung. Sie stellen deshalb auch die auf dem gewachsenen Vertrauen in
die Möglichkeiten der direkten Demokratie beruhende Einschätzung des Gesetzgebers
nicht durchgreifend in Frage. Gegenstand der Abstimmung ist in erster Linie die konkrete
Sachfrage. Die haushaltsplanerische und haushaltsrechtliche Bewältigung der
finanziellen Folgen ist nicht Voraussetzung der Zulässigkeit des Volksbegehrens nach
Art. 62 Abs. 2 VvB. Sie bleibt ohne bindende und den Handlungsspielraum
einschränkende Vorgaben dem Abgeordnetenhaus als Inhaber des Budgetrechts
überlassen. Mit Rücksicht hierauf ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn
der verfassungsändernde Gesetzgeber die näheren Regelungen über die Bekanntgabe
der Größenordnung der zu bewältigenden Kosten dem Ausführungsgesetz überlassen
und das Abgeordnetenhaus die Regelungen in § 15 Abs. 1 Satz 3 und 4 AbstG als eine
ausreichende Grundlage angesehen hat, um den Bürgern die Tragweite des
Volksbegehrens zu verdeutlichen und ihnen eine freie Willensbildung zu ermöglichen.
bb) Art. 109 GG steht der Zulassung finanzwirksamer Volksgesetze mit möglicherweise
erheblichen Auswirkungen auf den Landeshaushalt weder in der bis zum 31. Juli 2009
geltenden, letztmals auf das Haushaltsjahr 2010 anzuwendenden Fassung (BGBl. I 1967,
S. 587; Art. 143d eingefügt durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes [Art. 91c,
91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d] vom 29. Juli 2009, BGBl. I, S. 2248) noch in der ab dem
1. August 2009 geltenden, erstmals für das Haushaltsjahr 2011 anzuwenden Fassung
(BGBl. I 2009, S. 2248) entgegen (s. aber StGH Bremen, LVerfGE 11, 179 <197> zu
einer anders als Art. 62 Abs. 2 VvB die Volksgesetzgebung bis zur Grenze des
„Haushaltsplans im ganzen“ zulassenden Vorbehaltsklausel).
Sollten einzelne finanzwirksame Volksgesetze dazu führen, dass das Abgeordnetenhaus
als Inhaber des Budgetrechts den jeweiligen Anforderungen des Art. 109 Abs. 2 GG an
eine am gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht orientierte Haushaltswirtschaft bzw. die
Erfüllung gemeinschaftsrechtlicher Verpflichtungen zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin
sowie der Verpflichtung des Art. 109 Abs. 3 GG n. F., den Haushalt grundsätzlich ohne
Einnahmen aus Krediten auszugleichen, nicht mehr Rechnung tragen kann, kann es und
muss es ggf. den erforderlichen Handlungsspielraum durch die Änderung oder
Aufhebung dieser Gesetze zurückerlangen (s. o; so auch Rosenke, a. a. O., S. 334).
Findet Art. 109 GG auch auf die außerbudgetäre Gesetzgebung und damit auch auf die
Volksgesetzgebung Anwendung (Rux, LKV 2002, 253 <257>; Krafczyk, a. a. O., S. 284;
a. A. Siekmann, in: Sachs, Grundgesetz, 4. Aufl. 2007, Art. 109 Rn. 4), können diesem
widersprechende Volksgesetze darüber hinaus etwa im Wege einer abstrakten
Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden.
3. Im vorliegenden Verfahren steht angesichts der Höhe der durch das Volksbegehren
„Kitakinder + Bildung von Anfang an = Gewinn für Berlin“ im Erfolgsfalle ausgelösten
Kosten außer Zweifel, dass das Volksbegehren notwendig eine Änderung des im
Zeitpunkt des Zustandekommens des Gesetzes aktuellen Haushaltsplanes nach sich
zöge. Es unterliegt daher der oben dargestellten, aus Art. 62 Abs. 2 i. V. m. Art. 85 ff.
VvB folgenden zeitlichen Beschränkung seines etwaigen Inkrafttretens nach einem
erfolgreichen Volksentscheid
Das Volksbegehren der Einspruchsführer enthält keine Bestimmung zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens des Gesetzes. Damit steht einer den Vorgaben des Art. 62 Abs. 2 VvB
entsprechenden Ergänzung des Gesetzentwurfs im Sinne des § 17 Abs. 2 AbstG vor
Einleitung des Volksbegehrens nichts entgegen. Der Gegenstand des Volksbegehrens
bleibt hiervon unberührt. Die zur Unterstützung des Begehrens geleisteten
Unterschriften verlieren durch eine entsprechende Ergänzung nicht ihre Aussagekraft.
Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung hat die Trägerin des Volksbegehrens
zum Zeitpunkt des Inkrafttretens ihres Gesetzentwurfs auch keinen einer
verfassungskonformen Ergänzung entgegenstehenden Willen gebildet. Insbesondere hat
sie die Auffangregelung des Artikels 60 Abs. 3 VvB, wonach Gesetze, in denen eine
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sie die Auffangregelung des Artikels 60 Abs. 3 VvB, wonach Gesetze, in denen eine
Bestimmung zum Tag des Inkrafttretens fehlt, mit dem 14. Tage nach Ablauf des Tages
in Kraft treten, an dem sie verkündet worden sind, nicht als abschließende und
maßgebende Bestimmung in ihren Willen aufgenommen. Es bestehen daher auch keine
Bedenken, das Volksbegehren so auszulegen, dass das mit ihm initiierte Volksgesetz
erst zu Beginn des nächsten Haushaltsjahres in Kraft treten soll, das auf einen
erfolgreichen Volksentscheid folgt.
4. Die weiteren Ausschließungsgründe des Art. 62 Abs. 2 VvB sind im vorliegenden Fall
nicht einschlägig. Die Anforderungen der §§ 10 bis 16 AbstG sind gewahrt. Da die
angegriffene Entscheidung dies ebenfalls nicht in Frage stellt, beschränkt sich der
Verfassungsgerichtshof auf folgende Anmerkungen:
a) Der Senat hat die Ablehnung zutreffend nicht darauf gestützt, dass die mit dem
Antrag auf Einleitung des Volksbegehrens eingereichten Unterschriftsbögen entgegen
§ 15 Abs. 1 Satz 3 AbstG keine amtliche Kostenschätzung enthielten. Die insoweit
maßgebliche Änderung des Abstimmungsgesetzes durch das Anpassungsgesetz trat
erst am 28. Februar 2008 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Trägerin des
Volksbegehrens – wie im Einleitungsantrag kenntlich gemacht – bereits seit drei Wochen
mit der Sammlung der für die Einleitung des Volksbegehrens geforderten
Unterstützungsunterschriften begonnen. Obwohl der Gesetzgeber keine
Übergangsregelung getroffen hat, durften die Initiatoren das Volksbegehren im
Vertrauen auf die zur Zeit der Einleitung geltenden Bestimmungen fortführen, da sie
bereits Unterschriften gesammelt und erhebliche Kosten und organisatorische
Vorkehrungen für Unterschriftslisten nach altem Recht aufgewendet hatten. Die
Änderung des § 15 Abs. 1 Satz 3 AbstG durch das Anpassungsgesetz war daher nicht
anzuwenden (vgl. zur Geltung des neuen Rechts im Übrigen das gleichzeitig ergehende
Urteil im Verfahren VerfGH 63/08 unter II. 1.).
b) Ob die Festlegung von Vor- und Nachbereitungs- bzw. Fort- und Weiterbildungszeiten
in § 11 des Gesetzentwurfs des Volksbegehrens im Rahmen der Vorgaben für die
Personalausstattung in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie eingreift,
ist nicht Gegenstand der Überprüfung des Volksbegehrens im Stadium seiner Einleitung
(s. o. II. 1.).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
abgeschlossen.
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