Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: schutz der menschenwürde, pressefreiheit, verfassungsbeschwerde, untersuchungshaft, grundrecht, zugang, interview, öffentlich, gehalt, handbuch

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
19/93
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 5 Abs 1 S 1 GG, Art 5 Abs 1
S 2 GG, Art 28 Abs 1 S 1 GG,
Art 79 Abs 3 GG, Art 8 Abs 1
Verf BE
VerfGH Berlin: Keine ausdrückliche Gewährleistung eines
Grundrechts auf Pressefreiheit durch die Verf BE - zum
Anspruch eines Journalisten auf Erteilung einer Besuchserlaubnis
zum Interview eines in Untersuchungshaft einsitzenden
Angeklagten
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer ist Journalist bei der Berliner Tageszeitung "D. T.". Er hatte am 12.
November 1992 bei dem Vorsitzenden der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts
Berlin eine Besuchserlaubnis für die Untersuchungshäftlinge - E. H. und H. K. beantragt.
Durch Beschluß vom 28. November 1992 lehnte der Vorsitzende der Strafkammer es
ab, eine Besuchserlaubnis zu erteilen. Hiergegen legt der Beschwerdeführer Beschwerde
beim Kammergericht ein. Das Kammergericht verwarf diese Beschwerde, soweit sie sich
gegen die Versagung der Besuchserlaubnis für den Angeklagten K. richtete (der
seinerzeitige Angeklagte H. war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Untersuchungshaft),
durch Beschluß vom 25. Januar 1993 - 4 Ws 9/93 -. Hiergegen richtet sich die
Verfassungsbeschwerde.
Der Beschwerdeführer sieht sich in seinem Grundrecht der Pressefreiheit verletzt. Dieses
Grundrecht sei durch Art. 8 Vvb im Umfang des auch von Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG
vermittelten Schutzes gewährleistet. Das Kammergericht habe die Tragweite des
Grundrechtsschutzes bei der Anwendung des § 119 Abs. 3 StPO verkannt. Dieses
Grundrecht beinhalte auch die Freiheit der Informationsbeschaffung durch einen
Journalisten unbeeinträchtigt von staatlichen Eingriffen. Zu der so geschützten
Informationsbeschaffung gehört euch die Vorbereitung und Durchführung eines
Interviews. Das gelte auch, wenn - wie hier - der zu Interviewende sich in
Untersuchungshaft befinde und mit dem Interview einverstanden sei. Die Auffassung des
Kammergerichts, durch die Publizierung eines derartigen Interviews werde die Gefahr
begründet, daß insbesondere die Laienrichter in der Hauptverhandlung ihre Pflichten
nicht mehr unvoreingenommen erfüllen könnten, sei nicht tragfähig begründet und trage
insbesonders nicht der Aufgabe der Presse Rechnung, aber Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens - hierum handele es sich bei dem Angeklagten K. - zu berichten.
Der Beschwerdeführer beantragt, die Beschlüsse des Vorsitzenden der Strafkammer
sowie des Kammergerichts aufzuheben und die Sache an das Kammergericht
zurückzuverweisen, sowie - hilfsweise - die Feststellung, daß die Beschlüsse ihn in
seinem Grundrecht auf Pressefreiheit verletzten. Der Hilfsantrag werde vorsorglich für
den Fall gestellt, daß der Angeklagte K. bis zur Entscheidung des
Verfassungsgerichtshofs vom Vollzug der Untersuchungshaft verschont werden sollte.
II. Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
1. Art. 8 VvB gewährt in Abs. 1 das Recht der Meinungsäußerungsfreiheit, verbürgt in
Abs. 2 die Freiheit, sich über die Meinung anderer "durch die Presse" (und auch durch
andere Nachrichtenmittel) zu unterrichten und verbietet in Abs. 3 die Zensur. Vergleicht
man dies mit dem Bundesrecht, so nimmt die Verfassung von Berlin Art. 5 Abs. 1 S. 1, 3
GG, nicht aber dessen S. 2 auf. Es fehlt also an einer gesonderten Verbürgung der
Pressefreiheit, wie auch der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film.
Diese Lücke im Berliner Grundrechtskatalog kann nicht etwa durch eine
Zusammenschau anderer, in die Verfassung von Berlin ausdrücklich aufgenommener
Grundrechte geschlossen werden. Die Ableitung eines ungeschriebenen Grundrechts
aus anderen, geschriebenen Grundrechten bedarf vielmehr konkreter normativer
Anhaltspunkte, wie die der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 12.
Januar 1993 - 55/92 - (NJW 1999, 515) für den Menschenwürdeschutz angenommen hat.
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Januar 1993 - 55/92 - (NJW 1999, 515) für den Menschenwürdeschutz angenommen hat.
Daran fehlt es im vorliegenden Zusammenhang. Die Entscheidung der Berliner
Verfassung, aus dem Normenbündel, das sich in Art. 5 Abs. 1 GG zusammengefaßt
findet, nur einen Teil auch landesverfassungsrechtlich zu verbürgen (und dadurch den
verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz auch auf der Ebene des Landesrechts zu
eröffnen), ist vom Rechtsanwender hinzunehmen. Eine derartige "Unvollkommenheit"
grundrechtlichen Schutzes (im Ergebnis: landesverfassungsprozessualen Schutzes) darf
nicht allein Anlaß sein, eine "Vervollkommnung" durch Interpretation vorzusehen
(ebenso Pestalozza, NVwZ 1993, 340, 342).
Auch die von dem Verfassungsgerichtshof in der erwähnten Entscheidung für die
landesverfassungsrechtliche Geltung des Grundrechts auf Menschenwürde gegebene -
weitere - Begründung, das Landesverfassungsrecht werde durch dasjenige des Bundes
mitgeprägt, ist auf die Pressefreiheit nicht übertragbar. Das ergibt sich nicht etwa aus
einem Vergleich der verfassungspolitischen Bedeutung beider Grundrechte; diese ist
auch bei der Pressefreiheit unzweifelhaft besonders ausgeprägt. Die vorgenannte
Begründung findet ihren Anhalt vielmehr in der in Rechtsprechung und Schrifttum allseits
anerkannten, in Art. 79 Abs. 3 GG prägnant Ausdruck findenden hervorgehobenen und
insoweit kraft normativer Entscheidung auch einzigartigen Bedeutung das
Menschenwürdeschutzes. Während der Schutz der Menschenwürde im Kern das
Anliegen aller landesverfassungsrechtlichen Grundrechte, in der Verfassung insgesamt
ist (vgl. dazu auch Häberle, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.
1, 1987, § 29, Rdn. 57, der die Menschenwürde als "Prämisse" von Einzelgrundrechten,
Staatszielen und Staatsform beschreibt), stellt die Pressefreiheit - so gesehen - ein
Einzelgrundrecht neben anderen dar.
2. Aus dem Fehlen eines eigenständigen grundrechtlichen Schutzes der Pressefreiheit
im Verfassungsrecht des Landes Berlin kann nicht der Schluß gezogen werden, daß eine
Tätigkeit, die bundesrechtlich innerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG
liegt (und demzufolge ihre Schranken nur in allgemeinen Gesetzen finden kann, Art. 5
Abs. 2 GG) nach der Verfassung von Berlin von Art. 8 Abs, 1,2 VvB keinen
grundrechtlichen Schutz genösse. Die Presse hat vielmehr selbstverständlich teil an der
verbürgten Meinungsäußerungs- und Unterrichtungsfreiheit.
a) Art. 8 Abs. 1 VvB verbürgt, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern, Art. 5 Abs. 1
S. 1 1. Alt. GG demgegenüber die Freiheit, eine Meinung "frei zu äußern und zu
verbreiten". Das Berliner Recht bleibt - anders als das Bundesrecht - mit seiner
Formulierung in der Tradition der Paulskirchenverfassung und der Weimarer
Reichsverfassung, ohne daß sich aber hieraus ein Unterschied zum derzeit geltenden
Bundesrecht ergäbe. Die Versuche, dort zwischen den beiden Tatbeständen zu
differenzieren (vgl. Wendt, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 4. Aufl.,
1992, Art. 5 Rdn. 17) haben sich zu Recht nicht durchgesetzt. Der Grundrechtsschutz
umfaßt hier wie dort die kommunikative Entfaltung desjenigen, der sich "äußern" will, das
"Verbreiten" steht deshalb im Mittelpunkt (s. Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof,
Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 141 Rdn. 24). Die Freiheit, seine Meinung zu
verbreiten (und ihre Kehrseite: die Meinung für sich zu behalten), gibt aber nicht den
Anspruch auf Zugang zu Informationen, welche die eigene Meinungsbildung erst
ermöglichen, um eine so gebildete Meinung sodann zu verbreiten. Aus diesem Grund
bedarf es keiner Erörterung, ob zur Meinungsfreiheit auch das Recht zur Verbreitung von
Tatsachen (solche wollte der Beschwerdeführer recherchieren) zu rechnen ist, wie es die
überwiegende Meinung annimmt (vgl. etwa Degenhart, Bonner Kommentar, Art. 5 Rdn.
138; Schmitt Glaeser, in: AöR 113, 1988, 52, 75).
b) Die allgemeine Unterrichtungsfreiheit kann das Begehren des Beschwerdeführers
ebenfalls nicht tragen. Sie ist in Art. 8 Abs. 2 VvB gleichen Inhalts wie in Art. 5 Abs. 1 S. 1
2. Alt. GG verbürgt, stellt also ein Abwehrrecht der, das davor schützt, daß dem
einzelnen der Zugang zu im übrigen allgemein zugänglichen Informationsquellen
abgeschnitten wird. Soweit es - wie hier - um das Verlangen geht, eine bestimmte
Information zu erhalten, kann die Unterrichtungsfreiheit möglicherweise etwa gegen
öffentlich-rechtlich strukturierte Übermittler von Informationen, wie z.B.
Rundfunkanstalten, gerichtet werden, wobei aber unklar ist, ob und ggfl. unter welchen
Voraussetzungen ein solcher Anspruch besteht (vgl. BVerwG, DÖV 1979, 102;
Jarass/Pieroth, GG, 2. Aufl., 1992, Art. 5 Rdn. 17; Hoffmann-Riem, Alternativkommentar
GG, 2. Aufl., 1989, Art. 5 Rdn. 98). Das ist hier schon deshalb nicht zu vertiefen, weil der
Beschwerdeführer seinen Anspruch nicht gegen den Staat als Träger einer allgemein
zugänglichen Quelle richtet.
c) Soweit der Meinungsfreiheit wie der Unterrichtungsfreiheit auch objektiv-rechtliche
Gehalte zukommen, welche den Staat verpflichten, der Bedeutung beider Grundrechte
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Gehalte zukommen, welche den Staat verpflichten, der Bedeutung beider Grundrechte
für den (auch) von der Verfassung von Berlin vorausgesetzten freien
Meinungsbildungsprozeß Rechnung zu tragen, ist dem vorliegend nicht nachzugehen,
weil die Einhaltung objektiv-rechtlicher Verfassungsverbürgungen mit der
(individualrechtlichen) Verfassungsbeschwerde ohnehin nicht eingefordert werden kann.
3. Steht damit fest, daß der Beschwerdeführer - würde er sein Anliegen "als Bürger"
verfolgen - nicht durchdringen könnte, so stellt sich die weitere Frage, ob - auch
ungeachtet des Fehlens einer ausdrücklich verbürgten Pressefreiheit in der Verfassung
von Berlin - derjenige, der einen Presseberuf ausübt, einen qualifizierten
grundrechtlichen Schutz innehat, soweit es um die hier für eine nähere Betrachtung
allein infrage kommende Unterrichtungsfreiheit geht. Das ist deshalb nicht von
vornherein von der Hand zu weisen, weil die Bedeutung der Presse für das Funktionieren
eines freiheitlichen Gemeinwesens nicht nur faktisch offenkundig ist, sondern diesem
Gesichtspunkt auch bei der Auslegung der Verfassung Rechnung zu tragen ist (vgl. dazu
statt vieler: BVerfGE 20, 162, 174).
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Landesverfassung - im Einklang mit Art. 28
Abs. 1 S. 1 GG - das Land Berlin als eine Demokratie des vom Grundgesetz
vorgesehenen Typus konstituiert. Die Verfassung von Berlin ist damit vom
demokratischen Prinzip getragen, wobei allerdings der normative Gehalt dieses Prinzips
nur anhand der konkreten Ausgestaltung der Verfassung erschlossen werden kann (s.
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl.,
1991, Rdn. 127). Das mag hier in den Einzelheiten auf sich beruhen. Jedenfalls gebiete
(auch) die Verfassung von Berlin eine Grundrechtsauslegung, die bei den hierfür in
Betracht kommenden Grundrechten den demokratischen Charakter der staatlichen
Ordnung berücksichtigt. Die grundgesetzliche und die von der Verfassung von Berlin
geschaffene demokratische Struktur sind in ihrer Funktionsfähigkeit mitbedingt durch die
Existenz einer freien, sich in für ihre Entfaltung zuträglichen Rahmenbedingungen
entfaltenden Presse. Das kann - von weiteren Konsequenzen abgesehen - für die
Auslegung insbesondere des Art. 8 VvB nicht ohne Berücksichtigung bleiben. Auch ohne
eine ausdrückliche Verbürgung der Pressefreiheit in der Verfassung von Berlin könnte
deshalb die Unterrichtungsfreiheit des Art. 8 Abs. 2 VvB möglicherweise
verfassungsrechtliche Informationsansprüche Presseangehöriger gegenüber dem Staat
gewähren, deren Rechtsstellung insoweit über diejenige anderer Interessenten
hinausginge.
Aber auch dieser Gesichtspunkt verhilft der Verfassungsbeschwerde nicht zum Erfolg.
Ein derartiger Anspruch kann nur dann und insoweit bestehen, als seine Erfüllung
vorausgesetzt ist, um die Aufgabe wahrzunehmen, welche der Presse in einer
freiheitlich-demokratischen Staatsform zukommt. Das Interview mit einem Angeklagten
rechnet hierzu nicht. Es besteht nach Maßgabe der Rechtsordnung die Freiheit der
Berichterstattung über Gerichtsverfahren. Ein angeklagter Untersuchungshäftling kann
sich unmittelbar oder über seine Rechtsvertreter an die Öffentlichkeit wenden, er kann -
beispielsweise - der Presse Erklärungen zukommen lassen, über sie auch schriftlich
kommunizieren, soweit dem insbesondere das Strafprozeßrecht nicht im Wege steht.
Das verschafft der Presse Gelegenheit, ihrerseits die Öffentlichkeit in einer zur
demokratischen Willensbildung beitragenden Weise über mit dem Strafprozeß
zusammenhängende Tatsachen zu unterrichten. Daß die demokratische Aufgabe der
Presse infrage gestellt wäre, wenn ihr das direkte Gespräch mit einem
Untersuchungshäftling verweigert wird, ist selbst dann nicht ersichtlich, wenn es sich -
wie vorliegend - um eine Person handelt, deren politisches Wirken ein besonderes
Interesse der Öffentlichkeit gefunden hat. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 2 VvB ist
also durch die angegriffenen Entscheidungen auch dann nicht verletzt, wenn er in das
Licht des die Tätigkeit der Presse fördernden Demokratieprinzips gestellt wird.
4. Wegen fehlender landesverfassungsrechtlicher Maßstäblichkeit ist es danach dem
Verfassungsgerichtshof verwehrt, in die Prüfung der von dem Beschwerdeführer
aufgeworfenen Fragen einzutreten, ob Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG den Zugang eines
Journalisten zu einem Untersuchungshäftling gebieten kann, welche Konsequenzen dies
für die Auslegung von § 119 Abs. 3 StPO hat und ob der Vorsitzende der Strafkammer
bzw. das Kammergericht diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe verkannt haben. Im
Verfahren der Verfassungsbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof kann sich die
Frage nach dem Gehalt eines bundesgrundrechtlichen Grundrechts nur als Vorfrage
stellen (vgl. dazu den Beschluß vom 23. Dezember 1992 - 38/92 -, NJW 1993, 513). Doch
ist eine solche Vorfrage erst aufzuwerfen, wenn ein Bundesgrundrecht eine
landesgrundrechtliche Entsprechung hat. Daran fehlt es hier.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus §§ 33 f. VerfGHG.
16 Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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