Urteil des VerfGH Berlin vom 25.09.1987

VerfGH Berlin: sperrklausel, politische partei, unterlassen, ablauf der frist, verfassungsbeschwerde, subjektives recht, chancengleichheit, wahlrecht, erstreckung, rüge

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
37/95, 37/95 A, 39/95,
39/95 A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 Abs 1 S 1 Verf BE, Art 54
Abs 1 Verf BE, § 22 Abs 2
WahlG BE, § 22 Abs 2 WahlG BE
vom 25.09.1987, § 49 Abs 1
VGHG BE
(VerfGH
Berlin:
Mangels hinreichender Substantiierung unzulässige
Verfassungsbeschwerde bzw wegen Verfristung
unzulässige Organklage gegen fortdauerndes
gesetzgeberisches Unterlassen der Aufhebung der 5
vH-Sperrklausel für die Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen)
Gründe
I.
§ 22 Abs. 2 des Gesetzes über die Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den
Bezirksverordnetenversammlungen (LWahlG) vom 25. September 1987 (GVBl. S. 2370),
auf das Gesamtgebiet von Berlin erstreckt durch Art. III Abs. 4 des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Landeswahlgesetzes vom 30. Oktober 1991 (GVBl. S. 244), zuletzt
geändert durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 3. Juli
1995 (GVBl. S. 400), bestimmt für die Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen:
Auf Bezirkswahlvorschläge, für die weniger als 5 von 100 der Stimmen abgegeben
werden, entfallen keine Sitze."
Gegen diese Bestimmung wenden sich der in Berlin wohnhafte und wahlberechtigte
Beschwerdeführer, der Landesvorsitzender der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP)
ist, und die Antragstellerin, die sich als politische Partei an den Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen am 22. Oktober 1995 beteiligt und die sich auch
bereits mit Bezirkswahlvorschlägen an den Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen am 24. Mai 1992 in den Bezirken Charlottenburg,
Spandau, Wilmersdorf, Zehlendorf, Steglitz, Tempelhof, Köpenick und Reinickendorf
beteiligt hat (vgl. Bekanntmachung der Bezirkswahlvorschläge vom 22. April 1992 - ABl.
S. 1249).
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde, das Abgeordnetenhaus
habe es "verfassungswidrigerweise unterlassen, Bestimmung des § 22 Abs. 2 LWahlG
aufzuheben. Die mit ihr fortgeschriebene 5%-Sperrklausel sei früher verfassungsmäßig
gewesen, weil die Verfassung von Berlin vom 1. September 1950 in Art 54 Abs 1 für die
Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen ausdrücklich die gleichen Grundsätze
- und damit auch die in Art 26 Abs. 2 Satz 2 VvB enthaltene 5%-Sperrklausel -
vorgeschrieben habe wie für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin. Mit dem
Gesetz zur Änderung der Verfassung von Berlin vom 28. März 1958 (GVBl. S. 308), das
für die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen den Bezug zu den Wahlen
zum Abgeordnetenhaus von Berlin fallen gelassen hat, sei die 5%-Sperrklausel für die
Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen "rechtfertigungsbedürftig" geworden.
Die 5%-Sperrklausel sei für Kommunalwahlen, damit auch für die Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin, inzwischen verfassungswidrig geworden.
Dies verletze den Beschwerdeführer in seinem "Grundrecht auf gleiche Wahl", das sich
aus Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 54 Abs. 1 VvB ergebe. Da eine Unterlassung des
Abgeordnetenhauses gerügt werde, stehe die sich aus § 51 VerfGHG ergebende
Jahresfrist der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen.
Die Antragstellerin rügt im Organstreitverfahren, daß sie durch die Unterlassung einer
gesetzlichen Änderung der 5%-Sperrklausel in § 22 Abs. 2 LWahlG durch das
Abgeordnetenhaus in ihrem Recht auf Chancengleichheit (Wahlrechtsgleichheit) gemäß
Art. 6 Abs. 1, 54 Abs. 1 Verfassung von Berlin in Verbindung mit Art 21 Abs 1 GG und
dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2, Art 28 Abs 1 GG) verletzt werde.
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In der Sache tragen der Beschwerdeführer und die Antragstellerin im wesentlichen vor,
die angegriffene Sperrklausel sei zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der
Bezirksverordnetenversammlungen nicht zwingend erforderlich. Von einer solchen
Erforderlichkeit habe wohl noch Ende der 50er Jahre ausgegangen werden können.
Seither aber sei ein "überwältigender empirischer Nachweis" erbracht worden, daß eine
Sperrklausel jedenfalls auf der bezirklichen Ebene nicht notwendig sei, was sich
insbesondere durch die Erfahrungen bei Kommunalwahlen in einigen Bundesländer
belegen lasse. Die einzig denkbare Rechtfertigung für eine 5%-Speerklausel im
Kommunalwahlrecht, ihr Wegfall führe zur Funktionsunfähigkeit der
Bezirksverordnetenversammlungen oder jedenfalls zu einer schwerwiegenden
Beeinträchtigung ihrer Funktion, sei aufgrund der praktischen Erfahrungen insbesondere
in Bundesländern ohne 5%-Sperrklausel nicht mehr vertretbar, einer entsprechenden
Prognose sei durch diese Erfahrungen der Boden entzogen.
Selbst wenn es insoweit ein "theoretisches Restrisiko" geben würde, sei dieses so gering,
daß die Sperrklausel jedenfalls unverhältnismäßig u. damit verfassungswidrig sei. Den
Gesetzgeber treffe die Pflicht, in angemessenen Abständen zu prüfen, ob eine
Sperrklausel in Anbetracht gewandelter Verhältnisse oder neuer Erkenntnisse noch
aufrechterhalten werden könne. Wenn dies nicht der Fall sei, sei er verfassungsrechtlich
zur Aufhebung der Sperrklausel verpflichtet. Da das Abgeordnetenhaus letzteres
unterlassen habe, habe es gegen das Recht des Beschwerdeführers auf gleiche Wahl
und gegen die Rechte der Antragstellerin auf Gleichheit der Wahl und politische
Chancengleichheit verstoßen.
Der Beschwerdeführer beantragt festzustellen,
daß das Abgeordnetenhaus von Berlin sein Grundrecht auf gleiche Wahl gemäß Art. 6
Abs. 1, 54 Abs. 1 Verfassung von Berlin verletzt hat, indem es unterlassen hat, die
verfassungswidrig gewordene 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG aufzuheben,
hilfsweise: die 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG abzumildern,
weiter hilfsweise: die 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG
daraufhin zu überprüfen, ob sie noch mit dem Grundsatz der
gleichen Wahl vereinbar ist.
Die Antragstellerin beantragt festzustellen,
daß das Abgeordnetenhaus ihre Rechte aus Art 21 Abs. 1 i.v.m. Art 20 GG und Art. 6
Abs. 1, 54 Abs. 1 Verfassung von Berlin verletzt hat, indem es unterlassen hat, die
verfassungswidrig gewordene 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG aufzuheben,
hilfsweise: die 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG abzumildern,
weiter hilfsweise: die 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG daraufhin zu überprüfen,
ob sie noch mit dem Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien vereinbar
ist.
Der Senat und das Abgeordnetenhaus haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Das Abgeordnetenhaus, das um Zurückweisung der Anträge der Antragstellerin bittet,
ist der Auffassung, § 22 Abs. 2 LWahlG unterliege nicht der Überprüfung des
Verfassungsgerichtshofs, weil er vor Inkrafttreten des Gesetzes über den
Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin in Kraft getreten sei. Die seitdem ergangenen
Neuregelungen betrafen jeweils nur Einzelpunkte. Daraus lasse sich keine Pflicht des
Gesetzgebers herleiten, das gesamte Gesetz in den Blick zu nehmen und zu überprüfen.
Das Abgeordnetenhaus sei auch nicht passivlegitimiert, da es als solches keine Befugnis
zum Betreiben von Gesetzesinitiativen habe.
Im übrigen seien die Anträge auch in der Sache unbegründet. Selbst wenn konkrete
Gefahren für die störungsfreie Funktion der Bezirksverordnetenversammlungen derzeit
nicht erkennbar sein sollten, sei es Sache des Gesetzgebers, darüber zu befinden, ob
Regelungen in Kraft bleiben sollten, die dazu dienten, der Gefahr einer
Funktionsunfähigkeit der Bezirksverordnetenversammlungen vorzubeugen.
II.
Die Verfahren werden gemäß § 22 VerfGHG zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Der Verfassungsgerichtshof hat gemäß § 24 Abs. 1 VerfGHG einstimmig auf mündliche
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Der Verfassungsgerichtshof hat gemäß § 24 Abs. 1 VerfGHG einstimmig auf mündliche
Verhandlung verzichtet.
A.
Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers ist sowohl in ihrem Hauptantrag wie
auch in den Hilfsanträgen unzulässig.
Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt gemäß § 49 Abs. 1 VerfGHG
voraus, daß der Beschwerdeführer die Verletzung eines (auch) zu seinen Gunsten von
der Verfassung von Berlin begründeten Rechts geltend macht. Dieses Erfordernis ist nur
bei konkreter Darlegung der Möglichkeit erfüllt, daß der Beschwerdeführer durch das
beanstandete Verhalten der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin in einem solchen
Recht verletzt sein könnte. Wird - wie hier - ein Unterlassen des Gesetzgebers gerügt,
muß ein Beschwerdeführer nachvollziehbar darlegen, aus welchen Gründen der
Gesetzgeber die Verfassungspflicht zur Vornahme einer bestimmten Handlung zu einer
bestimmten Zeit treffen soll. Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen des
Beschwerdeführers nicht.
Ein in dem vorgenannten Sinn subjektives Recht stellt allerdings der hier als verletzt
geregte Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 8 Abs 1 Satz 1 VvB dar, der nicht etwa
lediglich eine der Regelung des Art 3 Abs. 2 GG vergleichbare Vorschrift zur
Gleichbehandlung der Geschlechter ist, sondern nach seinem sachlichen
Regelungsgehalt eine umfassende Gleichheitsgarantie enthält (vgl. den Beschluß vom
17. Februar 1993 - VerfGH 53/92 -). Art. 6 Abs 1 Satz 1 VvB gewährleistet mit Blick auf
Art 54 Abs. 1 VvB damit auch das subjektive Recht auf Wahrung des in der
letztgenannten Vorschrift ausgeformten Grundsatzes der Wahlgleichheit bei den Wahlen
zu den Bezirksverordnetenversammlungen (vgl. in diesem Zusammenhang zum
Verhältnis des allgemeinen Gleichheitssatzes zum Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit
BVerfGE 51, 222, 232 m.w.Nachw.). Der einzelne Wähler kann sich aufgrund dessen
unmittelbar gegen eine gesetzliche Ausgestaltung des Wahlrechts zur Wehr setzen,
welche den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt (vgl. BVerfGE 1, 208, 237; 13, 1,
10 f.; s. auch BVerfGE 47, 253, 270).
Es ist auch nicht von vornherein ausgeschlossen, ein Unterlassen - auch des
Gesetzgebers - zulässigerweise zum Angriffsgegenstand einer Verfassungsbeschwerde
zu machen. In diesem Zusammenhang mag dahinstehen, ob mit der
Verfassungsbeschwerde ein solches Unterlassen nur angegriffen werden kann, wenn sich
ein Beschwerdeführer auf die Nichterfüllung ausdrücklicher Verfassungsaufträge beruft
(in diesem Sinne etwa: BVerfGE 6, 257, 263 ff.; 56, 54, 70 f.) bzw. ob und in welchen
Konstellationen der einzelne Staatsbürger auch darüber hinaus einen gerichtlich
verfolgbaren Anspruch auf ein bestimmtes Handeln des Gesetzgebers haben kann. Dem
muß hier nicht weiter nachgegangen werden, denn nach dem Vortrag des
Beschwerdeführers fehlt es bereits aus anderen Gründen an einer hinreichend
nachvollziehbaren Möglichkeit, daß das Abgeordnetenhaus von Berlin ihm gegenüber
unter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl eine Veränderung des
Wahlrechts in dem begehrten Sinne unterlassen hat bzw. dazu ihm gegenüber derzeit
verpflichtet ist.
Dem Substantiierungserfordernis für die Rüge einer (subjektive Rechte verletzenden)
Unterlassung des Gesetzgebers ist nicht schon immer dann genügt, wenn ein
Beschwerdeführer einen möglicherweise verfassungswidrigen Gesetzgebungsakt als
Unterlassen verfassungsgemäßen Handelns darstellt (vgl. in diesem Zusammenhang
BVerfGE 13, 284, 287). Denn anderenfalls würde die Fristbestimmung des § 51 VerfGHG
leerlaufen (vgl. zum gleichlautenden § 93 BVerfGG Schmidt-Bleibtreu, in Maunz/Schmidt-
Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, Kommentar, Stand Dezember 1993, § 93 Rdn. 54
a.E.; Majer, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Kommentar, 1992, § 93 Rdn. 42). Mag diese
Vorschrift auch für Verfassungsbeschwerden gegen ein Unterlassen der öffentlichen
Gewalt "grundsätzlich" nicht greifen (vgl zu § 93 BVerfGG BVerfGE 77, 170, 214), so ist
ihrem Anliegen, nämlich Rechtssicherheit herbeizuführen, jedenfalls bei den
Anforderungen an das Darlegungserfordernis des § 50 VerfGHG Rechnung zu tragen, um
auf diese Weise einen Leerlauf des § 51 VerfGHG zu verbinden. Das hat zur Folge, daß
im Falle der Behauptung, ein zum Zeitpunkt seines Erlasses verfassungsmäßiges
Gesetz sei nach Ablauf der Frist, innerhalb derer eine Verfassungsbeschwerde gegen
dieses Gesetz zulässig gewesen wäre, aus tatsächlichen Gründen verfassungswidrig
geworden, die Tatsachen, aus denen sich die aktuelle Verfassungswidrigkeit ergeben
soll, nach dem Inkrafttreten des in Rede stehenden Gesetzes eingetreten sein müssen.
Daran fehlt es hier.
Zwar mag nicht von vornherein auszuschließen sein, daß die auch vom
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Zwar mag nicht von vornherein auszuschließen sein, daß die auch vom
Beschwerdeführer für "zunächst", namentlich Ende der 50er Jahre für verfassungsmäßig
gehaltene Sperrklausel in den Ländern für Kommunalwahlen bzw. im Land Berlin für die
Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen durch einen Wandel der
tatsächlichen Verhältnisse bzw. die Falsifizierung der seinerzeit vom Gesetzgeber
gestellten Prognose verfassungswidrig geworden sein könnte (so für das nordrhein-
westfälische Kommunalwahlrecht VerfGH NW Urteil vom 29. September 1994 - NWVBl
1994, 453). Indes reicht es in diesem Zusammenhang nicht aus, wenn der
Beschwerdeführer lediglich allgemein darlegt, selbst in Gemeinden und Landkreisen
solcher deutscher Länder, für deren Wahlrecht vergleichbare Sperrklauseln nicht
bestehen, sei es ungeachtet einer "Parteienzersplitterung" in den vergangenen
Jahrzehnten nicht zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit der
jeweiligen "Parlamente" gekommen. Für eine prozeßordnungsgemäß hinreichende
Darlegung hätte der Beschwerdeführer vielmehr vorbringen müssen, die tatsächlichen
Verhältnisse u. Erfahrungen, aus denen er die Verfassungswidrigkeit eines Unterlassens
der Aufhebung oder Änderung der Sperrklausel herleiten möchte, hätten sich erst und
gerade nach der erneuten gesetzlichen Bestätigung der Sperrklausel durch das
Landeswahlgesetz im Jahre 1987 bzw. durch dessen Erstreckung auf das Gebiet von
Gesamtberlin im Jahre 1991 eingestellt. Derartiges hat der Beschwerdeführer jedoch
nicht vorgetragen. Im übrigen ist auch nichts ersichtlich, was eine derartige These
stützen könnte. Der Beschwerdeführer verweist zwar darauf, daß es neue Erfahrungen
durch das Fehlen einer Sperrklausel in den neuen Bundesländern Brandenburg und
Sachsen sowie auch durch eine auf etwa 3,03 % gemilderte Sperrklausel seit 1988 in
Rheinland-Pfalz gebe, doch ändert dies nichts daran, daß der Beschwerdeführer sich in
erster Linie auf Erfahrungen aus dem Fehlen von Sperrklauseln in Baden-Württemberg,
Bayern und Niedersachsen beruft und es sich dabei um Erfahrungen handelt, die auf die
Zeit vor 1987 bzw. 1991 zurückgehen. Sie mögen sich seitdem insbesondere durch die
Erkenntnisse in Brandenburg und Sachsen verdichtet haben. Doch werden grundlegend
neue Erkenntnisse seit 1987 bzw. 1991 vom Beschwerdeführer weder vorgetragen noch
sind sie ersichtlich. Die von § 49 Abs. 1 VerfGHG vorausgesetzte Möglichkeit einer
aktuellen Verletzung von Rechten des Beschwerdeführers durch Unterlassen des
Gesetzgebers ist danach nicht gegeben.
Aus dem gleichen Grunde müssen die Hilfsanträge scheitern.
B.
Der Antrag der Antragstellerin im Organstreitverfahren und ihre hilfsweisen Anträge sind
ebenfalls unzulässig.
1. Der Rechtsweg zum Verfassungsgerichtshof ist gemäß Art. 72 Abs 1 Nr. 1 VvB, § 14
Nr. 1 VerfGHG gegeben. Es handelt sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit im
Sinne dieser Bestimmung. Die Antragstellerin macht mit ihrem Hauptantrag und mit
ihren Hilfsanträgen geltend, das Abgeordnetenhaus sei aufgrund der sich aus Art. 6 und
54 VvB ergebenden Verpflichtung, "gleiche" Wahlen vorzuschreiben, und aus dem Gebot
der Chancengleichheit der politischen Parteien, das sich aus dem unmittelbar auch für
die Landesverfassungen geltenden Art. 21 Abs. 1 mit Art. 20 GG ergebe, gehalten
gewesen, die 5%-Sperrklausel in § 22 Abs. 2 LWahlG für die Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen aufzuheben bzw. abzumildern. Diese
verfassungsrechtliche Pflicht obliege dem Abgeordnetenhaus auch der Antragstellerin
gegenüber.
Die Antragstellerin und das Abgeordnetenhaus als Antragsgegner sind nach §§ 36, 14
Nr. 1 VerfGHG im Organstreitverfahren parteifähig. Der Antragsteller ist eine politische
Partei, der Antragsgegner ein oberstes Landesorgan. Nach der Rechtsprechung des
Verfassungsgerichtshofs (vgl. Urteil vom 17. Juni 1993 - VerfGH 21/92 -) kann eine
politische Partei die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status, zu dem die Teilhabe
an gleichen Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen wie auch ihr Recht auf
Chancengleichheit bei Wahlen gehört, im Organstreitverfahren geltend machen.
Die Antragstellerin ist ferner antragsbefugt (§ 37 Abs. 1 VerfGHFG). Sie bringt vor, durch
die Unterlassung der Aufhebung des § 22 Abs. 2 LWahlG (bzw. durch die Unterlassung
der Abmilderung dieser Vorschrift), in ihren verfassungsmäßigen Rechten auf
Chancengleichheit bei einer Wahl (Wahlrechtsgleichheit) verletzt zu sein. Sie wendet sich
somit gegen ein Unterlassen des Gesetzgebers, das ebenso eine Maßnahme im Sinne
des § 37 Abs. 1 VerfGHG sein kann wie der Erlaß eines Gesetzes (vgl. Urteil vom 17 Juni
1993 - VerfGH 21/92 -). Zu Recht richtet sich das Begehren der Antragstellerin gegen
das Abgeordnetenhaus. Denn die Antragstellerin rügt sein Unterlassen als Gesetzgeber.
Insoweit ist das Abgeordnetenhaus als solches oberstes Landesorgan im Sinne des Art.
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Insoweit ist das Abgeordnetenhaus als solches oberstes Landesorgan im Sinne des Art.
72 Abs. 2 Nr. 1 VvB und des § 14 Nr. 1 VerfGHG und für die hier den Streit bildenden
Anträge passiv prozeßführungsbefugt.
2. Gleichwohl ist der Antrag unzulässig. Dabei kann dahinstehen, ob - wie die
Antragstellerin meint - dem Antragsgegner eine pflichtwidrige Unterlassung vorzuhalten
ist. Darauf kommt es nicht ausschlaggebend an. Maßgebend ist vielmehr, ob es sich um
eine Unterlassung handelt, die der Antragstellerin erst innerhalb der von § 37 Abs. 3
VerfGHG gesetzten Frist von sechs Monaten vor ihrer Antragsteilung bekanntgeworden
ist. Das ist zu verneinen, und daran scheitert die Zulässigkeit des Antrags.
Ein Antrag im Organstreitverfahren kann zulässigerweise nur binnen sechs Monaten von
dem Zeitpunkt angestellt werden, in dem die "beanstandete Maßnahme oder
Unterlassung dem Antragsteller bekanntgeworden ist (§ 37 Abs. 3 VerfGHG). Bei der
Rüge einer unterlassenen Gesetzgebung (hier: Änderung des § 22 Abs. 2 LWahlG) muß
mithin ein konkreter Zeitpunkt feststehen oder feststellbar sein, zu dem der
Gesetzgeber spätestens hätte tätig werden müssen (siehe in diesem Zusammenhang
such BVerfG DVBl. 1995, 298). Daran fehlt es mit Blick auf die geltend gemachte
Unterlassung einer Änderung des § 22 Abs. 2 LWahlG. Jedenfalls liegt ein solcher
Zeitpunkt nicht innerhalb des nach § 37 Abs. 3 VerfGHG maßgeblichen Zeitraums.
Mit der Erstreckung des Landeswahlgesetzes von 1987 auf das Gesamtgebiet von Berlin
durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 30. Oktober 1991
hat der Gesetzgeber sogar konkludent die 5%-Sperrklausel neu bestätigt und eine
Überprüfung verweigert.
Die von der Antragstellerin behaupteten Erfahrungen aus Bundesländern ohne 5%-
Sperrklausel sind - wie bereits gesagt - keine Erkenntnisse, die sich seit Oktober 1991
ergeben und deshalb den Gesetzgeber zu einer Änderung des Landeswahlgesetzes erst
innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Antrag der Antragstellerin
verfassungsrechtlich verpflichtetet hätten. Auf den Zeitpunkt, zu dem die Antragstellerin
durch Entgegennahme des von ihr in Auftrag gegebenen Rechtsgutachtens Kenntnis von
der Verfassungswidrigkeit der 5%-Sperrklausel erlangt haben will, kommt es nicht an.
Denn die Tatsachen, aus denen sich nach dem Vorbringen der Antragstellerin eine
verfassungsrechtliche Pflicht zur Änderung des § 22 Abs. 2 LWahlG für den Gesetzgeber
ergeben soll, sind schon mehrere Jahre allgemein bekannt. Unerheblich ist, wann welche
Partei oder Wählervereinigung welche Schlußfolgerung aus diesen Tatsachen zieht.
Die Überprüfung der 5%-Sperrklausel mußte sich dem Gesetzgeber auch nicht bei den
Änderungen des Landeswahlgesetzes durch die Gesetze vom 26. Januar 1995, vom 20
Juni 1995 und vom 3. Juli 1995 aufdrängen. Insoweit kann offenbleiben, ob der
Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen seinem Urteil
vom 29. September 1994 (NWVBl. 1994, 453) zum nordrhein-westfälischem
Kommunalverfassungs- und wahlrecht für das Wahlrecht zu den
Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin gefolgt werden kann, wonach der
Gesetzgeber bei einer weitgehenden Neugestaltung des Kommunalverfassungs- u. -
wahlrechts verpflichtet ist, die Beibehaltung der 5%-Sperrklausel zu überprüfen. Denn in
Berlin hat es derartige wesentliche Änderungen des Wahlrechts zu den
Bezirksverordnetenversammlungen in den vergangenen sechs Monaten vor
Antragsteilung nicht gegeben. Durch Art. XI des Gesetzes über die Neuorganisation der
Schulaufsicht und die Errichtung eines Landesschulamts in Berlin vom 26. Januar 1995
(GVBl. S. 33) sind Übergangsregelungen für im Bezirk als Beamte oder Angestellte
beschäftigte Lehrer geschaffen worden. Das Fünfte Gesetz zur Änderung des
Landeswahlgesetzes vom 20. Juni 1995 (GVBl S. 373) regelt das Wahlrecht der
Unionsbürger. Das Sechste Gesetz zur Änderung des Landeswahlgesetzes vom 3. Juli
1995 (GVBl. S. 400) schließlich erleichterte das Wahlrecht von nicht im Melderegister
verzeichneten Personen. Zur Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG haben die damit
beschriebenen gesetzlichen Änderungen keinen Bezug. Auch stellen sie keine
grundlegende Änderung der Bezirksverfassung in Berlin dar, die den Gesetzgeber
zwingend zu einer Überprüfung auch der 5%-Sperrklausel hätte veranlassen müssen.
Angesichts dessen kann keine Rede davon sein, für den Berliner Gesetzgeber sei in den
letzten Monaten vor der Antragstellung eine Pflicht zur Änderung des § 22 Abs. 2 LWahlG
mit der Folge entstanden, daß der Antragstellerin eine pflichtwidrige Unterlassung erst
innerhalb der Frist des § 37 Abs. 3 VerfGHG bekannt geworden sei.
Das alles schließt - wie angedeutet - nicht aus, daß durch die Weitergeltung des § 22
Abs. 2 LWahlG Rechte der Antragstellerin bei den bevorstehenden Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen verletzt werden können. Die von der Antragstellerin
beantragte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten Vorschrift kann
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beantragte Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten Vorschrift kann
bei dieser Sachlage dann nur durch die Überprüfung von Vollzugsakten der Vorschrift
erfolgen.
3. Aus den zuvor bezeichneten Gründen scheitert auch die Zulässigkeit des
Hilfsantrages auf "Abmilderung der Vorschrift des § 22 Abs. 2 LWahlG, so daß
dahinstehen kann, ob das mit dem Hilfsantrag verfolgte Ziel, d. h. die Festsetzung einer
geringeren als der vom Gesetzgeber festgesetzten Sperrklausel überhaupt Gegenstand
einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs sein könnte.
Der weitere Hilfsantrag, die 5%-Sperrklausel des § 22 Abs. 2 LWahlG daraufhin zu
überprüfen, ob sie noch mit dem Grundsatz der Chancengleichheit der politischen
Parteien vereinbar ist, ist ebenfalls unzulässig. Gegenstand einer Entscheidung des
Verfassungsgerichtshofs ist nach § 39 Satz 1 VerfGHG, ob eine Maßnahme oder
Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung der Verfassung von Berlin
verstößt. Nur im Falle einer solchen Feststellung - nicht aber isoliert - kann der
Verfassungsgerichtshof gemäß § 39 Satz 2 VerfGHG "zugleich eine für die Auslegung der
Bestimmung der Verfassung von Berlin erhebliche Rechtsfrage entscheidend.
Damit erübrigen sich Entscheidungen über die jeweils am 13. September 1995
gestellten Anträge des Beschwerdeführers und der Antragstellerin auf Erlaß von
einstweiligen Anordnungen, mit denen die Ausgabe der Briefwahlunterlagen bis zur
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in der Hauptsache untersagt werden sollte.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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