Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: wiedereinsetzung in den vorigen stand, rechtliches gehör, faires verfahren, verfassungsbeschwerde, willkürverbot, fristversäumnis, post, verspätung, verfügung, glaubhaftmachung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
120/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 10 Abs 1 Verf BE, Art 15
Abs 1 Verf BE, § 234 Abs 2
ZPO, § 234 Abs 1 ZPO, § 522
Abs 1 S 4 ZPO
Tenor
Der Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I. 1. Die Beschwerdeführerin war Eigentümerin einer Wohnung in 12347 Berlin. Die
Wohnung war vermietet. Im Zivilrechtstreit nahm die Mieterin die Beschwerdeführerin auf
Aufwendungsersatz in Höhe von € 2.261,59 in Anspruch. Mit Urteil des Amtsgerichts
Neukölln vom 9. September 2003 (15 C 123/03) wurde der Klage stattgegeben. Das
Urteil wurde der Beschwerdeführerin am 23. Oktober 2003 zugestellt.
Gegen das Urteil legte die Beschwerdeführerin Berufung ein. Diese wurde mit Schriftsatz
des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin vom 22. Dezember 2003
begründet. Dieser Schriftsatz erhielt beim Landgericht Berlin den Eingangsstempel vom
29. Dezember 2003.
Mit Hinweis vom 5. Januar 2004 wies der Vorsitzende der zuständigen Kammer die
Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin darauf hin, dass die
Berufungsbegründung vom 22. Dezember 2003 erst am 29. Dezember 2003 und damit
verspätet eingegangen sei. Zugleich wurde der Beschwerdeführerin eine Frist zur
Stellungnahme von zwei Wochen gesetzt. Nach einem entsprechenden Vermerk in der
Verfahrensakte wurde dieser Hinweis am 9. Januar 2004 ausgefertigt und per Post an die
Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin versandt.
Am 13. Februar 2004 wies das Landgericht die Berufung der Beschwerdeführerin als
unzulässig zurück, da die Berufungsbegründungsfrist nach § 520 ZPO nicht eingehalten
worden sei. Der Beschluss wurde der Beschwerdeführerin am 24. Februar 2004
zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 1. März 2004, beim Landgericht eingegangen am 4. März 2004,
erhob die Beschwerdeführerin Gegenvorstellung gegen den Beschluss vom 13. Februar
2004 und beantragte hinsichtlich der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte die Beschwerdeführerin
aus, ein die Berufung verwerfender Beschluss sei auf Gegenvorstellung hin zu ändern,
wenn er auf einer Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör beruhe. Dies sei der
Fall, da sie als Partei vor dem Verwerfungsbeschluss nicht gehört worden sei. Bei einer
Anhörung hätte rechtzeitig darauf hingewiesen werden können, dass die
Berufungsbegründung vom Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 22.
Dezember 2003 persönlich im Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen worden
sei. Es sei unzutreffend, dass die Berufungsbegründung erst am 29. Dezember 2003 -
wie dem Prozessbevollmächtigten auf telephonische Nachfrage mitgeteilt worden sei -
zugegangen sei. Der Einwurf in den Briefkasten am 22. Dezember 2003 wurde seitens
des Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin eidesstattlich versichert.
Zusätzlich wurde ein Nachweis vorgelegt, wonach bei der Beschwerdeführerin selbst eine
Abschrift der Berufungsbegründung am 23. Dezember 2003 eingegangen sein soll.
Mit Beschluss vom 27. April 2004 lehnte das Landgericht hinsichtlich der
Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin eine Abänderung des Beschlusses vom 13.
Februar 2004 ab und wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als
unzulässig zurück. Die Beschwerdeführerin habe es unterlassen, fristgemäß die allein
zulässige Rechtsbeschwerde nach § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO einzulegen. Die Kammer sei
auf die Gegenvorstellung hin nicht zur Aufhebung des rechtskräftigen Beschlusses
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auf die Gegenvorstellung hin nicht zur Aufhebung des rechtskräftigen Beschlusses
befugt. Für den Wiedereinsetzungsantrag fehle es deshalb an einem
Rechtsschutzbedürfnis. Zudem sei der Antrag nicht gemäß § 234 ZPO fristgerecht
gestellt.
2. Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin richtet sich sowohl gegen die
Zurückweisung ihrer Berufung als auch gegen die Ablehnung der Abänderung dieser
Entscheidung und die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung. Gerügt wird die
Verletzung der Rechte aus Art. 15 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 VvB.
Die Frist des § 51 Abs. 1 VerfGHG sei gewahrt. Die Beschwerdeführerin sei gehalten
gewesen, gegen den Beschluss vom 13. Februar 2004 zunächst alle zulässigen
Rechtsmittel einzulegen, hier zunächst die Gegenvorstellung nach § 321 a ZPO. Dem
habe die Beschwerdeführerin durch den Schriftsatz vom 1. März 2004 genügt.
Auch der Rechtsweg sei erschöpft. Gegen den Beschluss vom 13. Februar 2004 sei kein
weiteres Rechtsmittel mehr zulässig gewesen. Die an sich statthafte Rechtsbeschwerde
sei hier unzulässig gewesen, da sie weder von der grundsätzlichen Bedeutung der Sache
noch zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
gefordert gewesen sei. Gegen den Beschluss vom 27. April 2004 sei eine weitere
Beschwerde nicht mehr statthaft gewesen. Auch eine in Ausnahmefällen zulässige
außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit hätte nicht mehr zur
Verfügung gestanden, da die angegriffenen Entscheidungen nicht in diesem Maße
gesetzeswidrig gewesen seien.
Die Verfassungsbeschwerde sei begründet, da beide Entscheidungen die
Beschwerdeführerin in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzten.
Der Beschluss vom 13. Februar 2004 verstoße gegen das Recht auf rechtliches Gehör
aus Art. 15 Abs. 1 VvB. Vor der Verwerfung der Berufung wegen ihrer verspäteten
Begründung sei die Beschwerdeführerin zu hören gewesen. Dies sei nicht erfolgt. Damit
sei der Beschwerdeführerin die Möglichkeit genommen worden, zur Rechtzeitigkeit des
Eingangs ihres Schriftsatzes vorzutragen.
Der Beschluss vom 27. April 2004 verletze die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein
faires Verfahren aus Art. 15 Abs. 1 VvB und verstoße gegen das Willkürverbot aus Art. 10
Abs. 1 VvB.
Das Landgericht habe die Gegenvorstellung mit der Begründung zurückgewiesen, dass
eine Rechtsbeschwerde nach § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft gewesen wäre. Mit dem
dagegen gerichteten Vorbringen der Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 20. April
2004 habe sich das Landgericht in dem Beschluss nicht auseinandergesetzt. Zumindest
eine kurze Beschäftigung hiermit wäre in der Begründung des Beschlusses nach dem
Grundsatz des fairen Verfahrens aber erforderlich gewesen.
Soweit das Landgericht den Wiedereinsetzungsantrag als verspätet zurückgewiesen
habe, verstoße der Beschluss vom 27. April 2004 gegen das Willkürverbot aus Art. 10
Abs. 1 VvB. Die Frist des § 234 Abs. 1 und 2 ZPO habe mit der Zustellung des
Beschlusses am 24. Februar 2004 zu laufen begonnen. Vorher sei die behauptete
Verspätung nicht bekannt gewesen. Der Schriftsatz vom 1. März 2004 sei am 4. März
2004 und damit rechtzeitig beim Landgericht eingegangen. Die Ansicht des Landgerichts
sei deshalb unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich haltbar und somit
willkürlich.
Auch die Auffassung des Landgerichts, dem Wiedereinsetzungsantrag ermangele es an
einem Rechtsschutzbedürfnis, verstoße gegen das Willkürverbot. Selbst wenn gegen den
Beschluss vom 13. Februar 2004 allein die Rechtsbeschwerde statthaft gewesen wäre,
sei der Beschluss bei Eingang des Antrags auf Wiedereinsetzung noch nicht rechtskräftig
gewesen.
II. Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
1. Hinsichtlich des Beschlusses vom 13. Februar 2004 ist der Rechtsweg nicht erschöpft
(§ 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG). Nach dieser einfachgesetzlichen Ausprägung des
Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer
alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen,
um einen möglichen Grundrechtsverstoß bereits im fachgerichtlichen Verfahren zu
beseitigen. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil ein statthaftes und
zumutbares Rechtsmittel nicht eingelegt wurde.
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Nach § 574 Abs. 2 ZPO ist die Rechtsbeschwerde zwar nur zulässig, wenn die
Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung ist (Nr. 1) oder der Fortbildung des Rechts
bzw. der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dient (Nr. 2) (vgl. BGH, NJW 2003,
2172). Nach der Rechtsprechung des BGH liegt der Zulassungsgrund der Sicherung
einer einheitlichen Rechtsprechung u. a. dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung
auf einem Rechtsfehler beruht, der geeignet ist, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu
beschädigen (BGH, NJW 2003, 1943 <1946> m. w. N.). Dies wird etwa dann
angenommen, wenn die Entscheidung gegen grundlegende, verfassungsrechtlich
abgesicherte Gerechtigkeitsanforderungen verstößt und deshalb von Verfassung wegen
einer Korrektur bedarf. Unter diesem Gesichtspunkt wird insbesondere auch eine
Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör für relevant gehalten. Nach Auffassung des
BGH dient die Kontrollmöglichkeit gerade dazu, erfolgreiche Verfassungsbeschwerden zu
vermeiden. Damit war die Einlegung der Rechtsbeschwerde im vorliegen Fall nicht von
vornherein ungeeignet, den geltend gemachten Verfassungsverstoß zu korrigieren. Ein
solches Vorgehen wäre der Beschwerdeführerin mithin zumutbar gewesen. Die von dem
anwaltlichen Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin ausdrücklich als
„Gegenvorstellung“ erhobenen Rügen konnten auch nicht in eine Rechtsbeschwerde
umgedeutet werden. Dementsprechend wurde der Rechtsweg nicht erschöpft.
2. Gegen den Beschluss des Berufungsgerichts vom 27. April 2004, mit dem über die
Gegenvorstellung und den Wiedereinsetzungsantrag entschieden wurde, war kein
weiteres Rechtsmittel statthaft (§ 567 Abs. 1 ZPO; für den Wiedereinsetzungsantrag vgl.
Baumbach/Lauterbach/u. a., ZPO, 62. Aufl. 2001, § 238 Rn. 13; für die Gegenvorstellung
dieselben, Grundz § 567 Rn. 9). § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG steht der Zulässigkeit also
nicht entgegen. Es kann auch dahinstehen, ob ausreichend konkret ein Sachverhalt
dargelegt wird, der eine Verletzung von Rechten der Beschwerdeführerin aus der
Verfassung von Berlin als möglich erscheinen lässt, denn jedenfalls ist eine solche
Verletzung nicht ersichtlich, so dass die Verfassungsbeschwerde insoweit zumindest
unbegründet ist.
a) Hinsichtlich der Ablehnung der Wiedereinsetzung wird eine Verletzung des Gebots
ausreichenden rechtlichen Gehörs gemäß Art. 15 Abs. 1 VvB gerügt. Es trifft auch zu,
dass das Landgericht den Vortrag der Beschwerdeführerin, sie habe den Hinweis auf die
Verspätung der Berufungsbegründung vom 5. Januar 2004 nicht erhalten, bei seiner
Entscheidung nicht berücksichtigt hat. Das Landgericht hätte jedoch auch bei
Berücksichtigung dieses Vortrags nicht anders entscheiden können. Zum einen war
diese Behauptung nicht glaubhaft gemacht worden. Selbst bei Glaubhaftmachung
müsste der Wiedereinsetzungsantrag jedoch unabhängig davon erfolglos bleiben, weil
auch nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin kein Fall einer zulässigen
Wiedereinsetzung vorliegen konnte. Sie ging davon aus, dass die
Berufungsbegründungsschrift am 22. Dezember 2003 bei Gericht eingegangen war.
Dann lag keine Fristversäumnis vor. Trifft dies nicht zu, so wäre zwar eine
Fristversäumnis gegeben, es würde jedoch an jeglichem Vortrag und jeglicher
Glaubhaftmachung dahingehend fehlen, dass diese schuldlos erfolgte (vgl. § 233 ZPO).
Die angegriffene Entscheidung beruht also nicht auf einer möglichen Verletzung
rechtlichen Gehörs.
Der Beschluss des Landgerichts vom 27. April 2004 verstößt auch nicht gegen das
Willkürverbot des Art. 10 Abs. 1 VvB. Das verfassungsrechtliche Willkürverbot wird durch
eine gerichtliche Entscheidung nicht schon dann verletzt, wenn das Gesetz fehlerhaft
ausgelegt worden ist, sondern erst dann, wenn die Entscheidung unter keinem
rechtlichen Aspekt mehr vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie
auf sachfremden Erwägungen beruht. Die Rechtslage muss in krasser Weise verkannt
worden sein; dies ist dann der Fall, wenn bei objektiver Würdigung der Gesamtumstände
die Annahme geboten ist, die von dem Gericht vertretene Rechtsauffassung sei im
Bereich des schlechthin Abwegigen anzusiedeln (vgl. u. a. Beschluss vom 25. April 1994
- VerfGH 34/94 - LVerfGE 2, 16 <18>, st. Rspr.).
Das Landgericht hat vorliegend die Gegenvorstellung als unzulässig zurückgewiesen.
Damit entsprach es einer bereits damals verbreiteten Auffassung in Literatur und
Rechtsprechung, die auch der Verfassungsgerichtshof teilt (vgl. oben 1.). Auch der
Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin räumt insoweit ein, dass von einer
„greifbaren Gesetzwidrigkeit“ keine Rede sein kann.
Das Landgericht hat darüber hinaus den Wiedereinsetzungsantrag als verfristet
zurückgewiesen. Ob die dafür gegebene Begründung bei unterstellter Fristversäumnis
zutreffend war oder nicht, hängt von der Richtigkeit der nicht glaubhaft gemachten
Behauptung der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin ab, sie hätten den am
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Behauptung der Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin ab, sie hätten den am
9. Januar 2004 per Post abgesandten Hinweis des Gerichts nicht erhalten. Dem brauchte
das Landgericht jedoch nicht nachzugehen, weil der Wiedereinsetzungsantrag im
Ergebnis - wie dargelegt - in jedem Fall abzulehnen war. Es liegt also keine krasse
Verkennung der Rechtslage und damit kein Verstoß gegen das Willkürverbot vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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