Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: freiheit der person, haftbefehl, anspruch auf rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, recht auf freiheit, anspruch auf bildung, wohnsitz im ausland, recht auf akteneinsicht

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
134/01
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 7 Verf BE, Art 8 Abs 1 S 2
Verf BE, Art 10 Abs 1 Verf BE,
Art 15 Abs 1 Verf BE, Art 15
Abs 5 S 2 Verf BE
Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ablehnung
eines Richters wegen Befangenheit vor Beschlussfassung über
die Eröffnung des Hauptverfahrens; zum Recht des
Tatverdächtigen auf Akteneinsicht; langandauernder Haftbefehl
gegen einen in seinem Heimatstaat aufhältigen ausländischen
Tatverdächtigen.
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der 1954 geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Schweiz und dort
wohnhaft. Aufgrund von Strafanzeigen der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte
Sonderaufgaben und der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und
Vereinigungskriminalität vom Juni 1995 leitete die Staatsanwaltschaft Berlin gegen ihn
und zahlreiche weitere Beschuldigte ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen
Verdachts des Betruges zum Nachteil der Treuhandanstalt und der Untreue zum
Nachteil der W. GmbH ein. Hiervon erhielt der Beschwerdeführer durch eine am 6. Juli
1995 auf richterliche Anordnung vorgenommene Durchsuchung seiner Wohn- und
Nebenräume Kenntnis.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht Tiergarten am 27. Dezember
1996 einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer, in dem ihm gemeinschaftlicher
Betrug in einem Fall sowie gemeinschaftliche Untreue in vier Fällen zur Last gelegt
wurden. Am 7. März 1997 ordnete das Amtsgericht Tiergarten den dinglichen Arrest in
das gesamte Vermögen des Beschwerdeführers an.
Im März 1997 nahm die damalige Bevollmächtigte des Beschwerdeführers,
Rechtsanwältin T., Akteneinsicht in die Ermittlungsakten Bände 1 bis 16. Im Juli 1997
zeigte der jetzige Verfahrensbevollmächtigte unter Vorlage einer Vollmacht vom 5. Juni
1997 an, daß er die Vertretung des Beschwerdeführers übernommen habe und bat um
Akteneinsicht.
Im Juli 1997 trennte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Beschwerdeführer
und 20 weitere Mitbeschuldigte ab, weil sie beabsichtigte, gegen fünf in
Untersuchungshaft befindliche Mitbeschuldigte Anklage zu erheben, was im September
1997 auch geschah.
Die zuständige Staatsanwältin sagte Ende 1997 eine für Mitte Januar 1998 angekündigte
Reise in die Schweiz zur verantwortlichen Vernehmung des Beschwerdeführers und eines
weiteren Schweizer Beschuldigten bei der Zürcher Bezirksanwaltschaft ab, da sie die
Verteidiger gebeten habe, ihr mitzuteilen, ob ihre Mandanten tatsächlich vorbehaltlos
aussagen wollten, jedoch von ihnen bisher nichts gehört habe; zudem fehlten noch
Unterlagen von Konten in der Schweiz über die Gelder, die von der W. GmbH u. a. an
den Beschwerdeführer geflossen seien.
Am 9. September 1998 kam es bei der Bezirksanwaltschaft Zürich zu einer
Besprechung, an der die zuständige Berliner Staatsanwältin und für den
Beschwerdeführer der Berner Rechtsanwalt M.-R. teilnahmen. Letzterer verfaßte für den
Beschwerdeführer am 30. September und 20. Oktober 1998 umfangreiche
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Beschwerdeführer am 30. September und 20. Oktober 1998 umfangreiche
Stellungnahmen zu dem Ermittlungsverfahren, die der Berliner Staatsanwaltschaft
Anfang November 1998 zugeleitet wurden.
Mitte Dezember 1998 teilte die Staatsanwaltschaft dem Verfahrensbevollmächtigten
mit, aufgrund der Einlassung des Beschwerdeführers erscheine es erforderlich, dessen
verantwortliche Vernehmung in Deutschland durchzuführen, da es nur hier möglich sein
werde, ihm das umfangreiche Beweismaterial zum jeweiligen Tatkomplex zur Kenntnis zu
geben. Zur Durchführung der Vernehmung solle dem Beschwerdeführer sicheres Geleit
gewährt werden; ein Vernehmungstermin sei für Februar 1999 vorgesehen; es werde um
Mitteilung gebeten, ob der Beschwerdeführer damit einverstanden sei.
Zunächst reagierte der Beschwerdeführer hierauf nicht. Im September 1999 formulierte
Rechtsanwalt M.- R. acht Bedingungen für eine Reise des Beschwerdeführers nach Berlin.
Durch Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Oktober 1999 wurde dem
Beschwerdeführer für die Zeit vom 4. Oktober bis 5. November 1999 freies Geleit für die
Wahrnehmung von Terminen zur Beschuldigtenvernehmung gewährt. Er hielt sich
daraufhin in der Zeit vom 26. Oktober bis zum 4. November 1999 zu einer Vernehmung
durch die Staatsanwaltschaft in Berlin auf und machte Angaben zur Sache. Am 29.
Oktober 1999 suchte er in Begleitung seines Verfahrensbevollmächtigten die Zentrale
Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) auf, um die dort
befindlichen Asservate einzusehen. Dem Verfahrensbevollmächtigten des
Beschwerdeführers stand Akteneinsicht seit Dezember 1998 zu.
Am 24. September 1999 wurde der Beschwerdeführer in Prag aufgrund des Haftbefehls
des Amtsgerichts Tiergarten verhaftet, am 28. September 1999 aber wieder auf freien
Fuß gesetzt.
Im März 2000 gab die ZERV den Umfang des beschlagnahmten schriftlichen
Beweismaterials mit 3.500 bis 4.000 Aktenordnern an.
Zwischen Ende 1998 und Anfang 2001 gingen weitere Stellungnahmen des
Beschwerdeführers, vorwiegend von seinem Schweizer Anwalt M.- R. verfaßt, bei der
Staatsanwaltschaft ein, mit denen er sich zu den Ermittlungen in materiellrechtlicher und
verfahrensrechtlicher Hinsicht umfänglich äußerte. Unter anderem bezweifelte er die
Vollständigkeit der Akten und rügte, daß diese nicht hinreichend systematisch geordnet
seien.
Die Staatsanwaltschaft, die im April 2000 einen fünfseitigen „aktuellen Aktenaufbauplan“
verfaßt hatte, bot Unterstützung bei einer etwaigen Akteneinsichtnahme an und führte
in diversen Schreiben wiederholt auf, welche Akten an welcher Stelle asserviert seien.
Schließlich schrieb sie Herrn Rechtsanwalt M.-R. am 11. September 2000: „... wie bereits
wiederholt mitgeteilt, sind die Unterlagen der Treuhandanstalt, soweit sie die Abwicklung
der Firma W...- GmbH betreffen, in den in meinem Dienstzimmer (Raum A 838)
befindlichen Stehordnern 4 T 1, 4 T 2, 4 T 3, 4 T 4, 4 T 5, 4 T 6, 4 T 7, 4 T 8, 4 T 9.1 und 4
T 9.2 abgelegt. Die von Ihnen erbetenen Geschäftsakten der W... (Objekt 84, Pos. 1 –
561) befinden sich vollständig in dem Keller der Staatsanwaltschaft und zwar auf der
rechten Seite in den Regalen 17 – 24.
Die C...-Akten (Objekt 58, Pos. 1 – 13; Objekt 59; Objekt 67, Pos. 1, 2, 7, 11, 12, 14)
befinden in den Diensträumen des Landgerichts Berlin und zwar im Raum 334 in dem 2.
Regal auf der linken Seite. Die von Ihnen erbetenen Unterlagen der P...Holding AG
(Objekt 57, Pos. 1 – 35; Objekt 67, Pos. 3, 5, 9) sind ebenfalls im Raum 334 abgelegt und
zwar in dem ersten bzw. zweiten (oben) Regal auf der linken Seite.“
Rechtsanwalt M.-R. erwiderte am 13. September 2000 u. a.: „Mit Interesse nahm ich
Kenntnis davon, wo sich die Geschäftsakten der vier Firmen, welche Herr Häberlin und
ich einsehen möchten, befinden. Leider haben Sie mir nichts mitgeteilt über deren Inhalt
und Vollständigkeit.“
Mit Schreiben vom 30. Oktober 2000 kritisierte Rechtsanwalt M.-R., daß die Firmenakten
anläßlich einer Akteneinsichtnahme am 25. Oktober bei „stichprobenweiser“ Prüfung
wegen ihres Durcheinanders einen „katastrophalen Eindruck“ hinterlassen hätten.
Mit Anklageschrift vom 14. November 2000 erhob die Staatsanwaltschaft Klage gegen
den Beschwerdeführer und einen Schweizer Mitbeschuldigten. Darin legte sie dem
Beschwerdeführer gemeinschaftlichen Betrug in einem besonders schweren Fall sowie
gemeinschaftliche Untreue in drei besonders schweren Fällen zur Last. Hinsichtlich eines
weiteren Falls von Untreue stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 154
Abs. 1 StPO vorläufig ein. Die Anklageschrift wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des
Beschwerdeführers auf Verfügung des Vorsitzenden der zuständigen Großen
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Beschwerdeführers auf Verfügung des Vorsitzenden der zuständigen Großen
Strafkammer (Wirtschaftsstrafkammer) des Landgerichts Berlin am 7. Dezember 2001
zugestellt. Zugleich erhielt der Verfahrensbevollmächtigte des Beschwerdeführers
Gelegenheit, zu den Anträgen der Staatsanwaltschaft auf Zulassung der Anklage und
Eröffnung des Hauptverfahrens sowie auf Erlaß eines neuen Haftbefehls nach Maßgabe
der Anklageschrift in einer Frist von vier Wochen Stellung zu nehmen.
Der Verfahrensbevollmächtigte beantragte Akteneinsicht sowie eine Fristverlängerung
für die Stellungnahme „zunächst“ bis zum 31. März 2001. Er führte aus, daß er davon
ausgehe, daß die beantragte Fristverlängerung stillschweigend gewährt werde, wenn ihm
gegenteilige Nachricht nicht zugehe. Die Staatsanwaltschaft trat der beantragten
Fristverlängerung in einer Stellungnahme vom 10. Januar 2001 mit dem Hinweis
entgegen, dem Beschwerdeführer und seinen Anwälten sei bereits während des
Ermittlungsverfahrens umfangreich rechtliches Gehör gewährt worden. Es lägen insoweit
umfassende Einlassungen bzw. Schutzschriften des Beschwerdeführers vor, mit denen
sich die Anklageschrift auch auseinandergesetzt habe. Die Behauptung des
Verfahrensbevollmächtigten, ihm hätten nicht alle Akten zur Einsicht zur Verfügung
gestanden, sei unzutreffend. Die Forderung nach Fristverlängerung verfolge erkennbar
das Ziel, den ersten Komplex der Anklage mit einem Betrugsschaden von über 68 Mio.
DM in die Verjährung zu treiben.
Der Vorsitzende der zuständigen Großen Strafkammer teilte am 18. Januar 2001 mit,
daß das Verfahren beschleunigt bearbeitet würde, und verlängerte die Frist zur
Stellungnahme mit Schreiben vom 30. Januar 2001 bis zum 16. Februar 2001. In einem
Schreiben vom 5. Februar 2001 erhob der Verfahrensbevollmächtigte den Vorwurf, daß
ihm die Geschäftsakten der Treuhandanstalt/BVS, der W. GmbH, der C. AG und der P.
Holding AG, jeweils in der Zeit von 1990 bis 1992, nicht zur Verfügung gestellt worden
seien. Die Staatsanwaltschaft habe außerdem den Standort mehrerer Protokolle nicht
bezeichnen können. Die Akten seien insgesamt ungeordnet und unvollständig. Mit
weiteren Schreiben vom 14. Februar 2001, das eine von dem
Verfahrensbevollmächtigten, das zweite gleichzeitig von Rechtsanwalt M.- R. und dem
Beschwerdeführer selbst, lehnte der Beschwerdeführer den Vorsitzenden Richter am
Landgericht H. wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Dieser Richter habe den Antrag,
dem Beschwerdeführer zu versichern, daß „alle in der Sache entscheidenden
Unterlagen“ bei den Akten seien, nicht beschieden. Er habe für die Stellungnahme auf
eine 215 Seiten starke Anklageschrift eine viel zu kurze Frist verfügt und diese
anschließend erst verspätet und unzulänglich verlängert. Er habe den Vorhalt des
Beschwerdeführers, daß sich die Akten in einem Umfang von über 3.000 Stehordnern
ungeordnet in vier verschiedenen Räumen stapelten, daß Zweifel an ihrer Vollständigkeit
bestünden und daß insbesondere die Geschäftsakten der W. GmbH, der C. AG, der
Treuhand/BVS und der P. Holding AG, sämtlich für die Jahre von 1990 bis einschließlich
1992, nicht vorlägen, unbeachtet gelassen. Damit habe er gröblich gegen den
Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, das in der Strafprozeßordnung
vorgesehene Zwischenverfahren zur Farce werden lassen und zu erkennen gegeben,
daß es ihm ausschließlich darum gehe, den Eintritt der Verfolgungsverjährung zu
verhindern. Aufgrund dieser Verhaltensweise müsse der Beschwerdeführer
notwendigerweise Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters hegen.
Durch Beschluß vom 23. Februar 2001 verwarf das Landgericht Berlin den
Ablehnungsantrag des Beschwerdeführers gegen den Vorsitzenden Richter am
Landgericht H. als unzulässig. Der abgelehnte Richter sei entsprechend der
Strafprozeßordnung verfahren. Akteneinsicht sei umfassend gewährt, von der Partei
aber nicht so umfassend wahrgenommen worden. Die beanstandete zügige
Verfahrensweise entspreche dem auch für das Zwischenverfahren geltenden
Beschleunigungsgebot. Dieses diene sowohl dem Beschwerdeführer als auch dem
öffentlichen Interesse. Der in der Schweiz bevollmächtigte Verteidiger M.- R. könne vor
einem deutschen Strafgericht Verteidigerrechte erst wahrnehmen, wenn er – auf Antrag
– vom Gericht zugelassen werde. Der vorgebrachte Grund, der abgelehnte Richter
weigere sich, das Verfahren zu verzögern, sei kein Ablehnungsgrund im Sinne der
Strafprozeßordnung. Der Antrag diene ersichtlich dem Ziel, das Verfahren in die
absolute Verjährung zu treiben. Über die Prozedur des Ablehnungsantrages solle dem
Gericht die Möglichkeit genommen werden, noch rechtzeitig eine Entscheidung über die
Eröffnung des Hauptverfahrens zu treffen.
Durch weiteren Beschluß vom gleichen Tage ließ das Landgericht die Anklage unter
Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zu. Zugleich hob es den
Haftbefehl vom 27. Dezember 1996 auf und erließ gegen den Beschwerdeführer einen
neuen Haftbefehl nach Maßgabe des Anklagesatzes, wobei als Haftgründe Flucht- und
Verdunklungsgefahr angegeben wurden. Die im Verurteilungsfalle bestehende
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Verdunklungsgefahr angegeben wurden. Die im Verurteilungsfalle bestehende
Straferwartung und die Sicherung der Tatbeute böten einen hohen Fluchtanreiz.
Gegen diese Beschlüsse erhob der Beschwerdeführer durch Schriftsätze seines
Verfahrensbevollmächtigten vom 6. und 8. März 2001 sowie auch persönlich Beschwerde
bzw. sofortige Beschwerde. Er erneuerte die bereits früher vorgebrachten Gründe
bezüglich seines Ablehnungsgesuchs, begehrte den Eröffnungsbeschluß für unwirksam
zu erklären, da er unter Mitwirkung eines zu Recht wegen Befangenheit abgelehnten
Richters zustande gekommen sei, und beantragte den Haftbefehl aufzuheben, da
ersichtlich keine Fluchtgefahr bestehe. Der Beschwerdeführer sei zu seiner Vernehmung
nach Berlin gekommen und werde auch zur Verhandlung selbst erscheinen, sofern er
sicher sein könne, in Deutschland nicht aufgrund eines Haftbefehls verhaftet zu werden.
Das Kammergericht erließ am 6. Juli 2001 in der Angelegenheit des Beschwerdeführers
drei Beschlüsse, die dem Verfahrensbevollmächtigten am 18. Juli 2001 zugingen.
Hinsichtlich des Ablehnungsgesuchs ließ es dahingestellt, ob der Ablehnungsantrag
zulässig sei; jedenfalls sei er unbegründet. Solange die Rechtsansicht eines Richters
nicht völlig abwegig sei oder den Eindruck der Willkür erwecke, begründe sie selbst dann
nicht die Besorgnis der Befangenheit, wenn sie fehlerhaft sein sollte. Da der Vorsitzende
die beantragte Einsichtnahme in alle dem Gericht vorliegenden Aktenbestandteile
bewilligt habe, treffe es nicht zu, daß er sämtliche Anträge des Beschwerdeführers
unbeachtet gelassen habe. Das Recht auf Akteneinsicht beziehe sich nur auf die
aufgrund des Verfahrens und seines Prozeßgegenstandes entstandenen Akten und auf
die dem Gericht vorliegenden Beiakten, gebe jedoch keinen Anspruch auf Bildung
weiterer Aktenbestände. Der Vorwurf, der Vorsitzende habe die Erklärungsfrist nicht
ausreichend bemessen bzw. nachträglich überraschend verkürzt, sei nicht berechtigt.
Der Vorsitzende habe innerhalb angemessener Frist signalisiert, daß die Kammer eine
beschleunigte Bearbeitung des Verfahrens beabsichtige.
Soweit sich die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Eröffnungsbeschluß
wandte, verwarf das Kammergericht diese als unzulässig. Der Eröffnungsbeschluß
unterliege gemäß § 210 Abs. 1 StPO grundsätzlich nicht der Anfechtung durch den
Angeschuldigten. Vorliegend könne dahinstehen, ob, wie eine Mindermeinung in der
Literatur vertrete, entgegen dem Wortlaut eine Anfechtung in Ausnahmefällen durch den
Angeklagten statthaft sein könne; denn ein Mangel, der einen derartigen Ausnahmefall
begründe, liege hier nicht vor. Wie dargelegt, habe an dem angefochtenen Beschluß kein
Richter mitgewirkt, der im Ergebnis zu Recht wegen der Besorgnis der Befangenheit
abgelehnt worden sei. Die dem Angeklagten zur Erhebung von Einwendungen gegen die
Eröffnung des Hauptverfahrens gesetzte Frist von insgesamt über zwei Monaten sei
jedenfalls nicht in der Weise unangemessen, daß sie einen schweren Mangel des
Eröffnungsbeschlusses begründen könne, zumal der Beschwerdeführer bereits während
des Ermittlungsverfahrens durch seine Verteidiger mehrfach Akteneinsicht genommen
habe und ihm die Tatvorwürfe, die den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildeten,
sowie auch die Beweismittel der Staatsanwaltschaft zumindest überwiegend bekannt
gewesen seien.
Schließlich verwarf das Kammergericht die gegen den neuen Haftbefehl gerichtete
Beschwerde des Beschwerdeführers mit der Maßgabe, daß der Haftgrund der
Verdunklungsgefahr entfalle. Der Beschwerdeführer sei der ihm zur Last gelegten Taten
aufgrund der in der Anklageschrift aufgeführten Beweismittel dringend verdächtig. Der
Haftgrund der Verdunklungsgefahr liege nicht vor, wohl aber der Haftgrund der
Fluchtgefahr. Dieser liege allerdings nicht allein in dem Umstand, daß der
Beschwerdeführer sich an seinem Wohnsitz im Ausland aufhalte. Sie ergebe sich
indessen aus der hohen Strafe, mit der der Beschwerdeführer im Hinblick auf den
entstandenen großen Schaden im Falle einer Verurteilung rechnen müsse.
Anzurechnende Untersuchungshaft habe er bisher nicht verbüßt. Die im Falle einer
Verurteilung bestehende Straferwartung rechtfertige nach ständiger Rechtsprechung
des Kammergerichts regelmäßig die Annahme von Fluchtgefahr, sofern sich nicht aus
vorliegenden Tatsachen etwas anderes ergebe. Entlastende Umstände seien hier nicht
ersichtlich. Sie bestünden insbesondere nicht in dem bloßen Umstand, daß der Wohnsitz
des Beschwerdeführers sich im Ausland befinde. Der Beschwerdeführer habe zwar eine
feste Arbeitsstelle, lebe jedoch von seiner von ihm geschiedenen Ehefrau und den
gemeinsamen Kindern getrennt. Auch seien ihm nach dem Ergebnis der Ermittlungen
erhebliche finanzielle Mittel aus der Tat zugeflossen, die ihm ein Untertauchen
erleichtern könnten. Weder sei ersichtlich, daß mit weniger einschneidenden
Maßnahmen der Fluchtgefahr begegnet werden könne noch daß die Untersuchungshaft
zu der Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehe.
Mit der am 17. September 2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der
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Mit der am 17. September 2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 7, Art. 8 Abs. 1 Satz 2, Art. 10 Abs. 1, Art. 15
Abs. 1 und Art. 15 Abs. 5 Satz 2 der Verfassung von Berlin (VvB).
Die Verfassungsbeschwerde sei bezüglich der Entscheidungen, welche die Eröffnung des
Hauptverfahrens unter Zulassung der Anklage beträfen, nicht verfristet. Nach einer
Meinung in der Literatur sei die Anfechtung des Eröffnungsbeschlusses durch
Beschwerde an das Kammergericht statthaft, wenn ein die Wirksamkeit des
Eröffnungsbeschlusses berührender Mangel vorliege. Das sei hier der Fall. Deswegen
habe der Beschwerdeführer zur Ausschöpfung des Rechtsweges zunächst Beschwerde
gegen den Eröffnungsbeschluß an das Kammergericht einlegen müssen.
Auch sei eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Eröffnungsbeschluß nach
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bayerischen
Verfassungsgerichtshofs statthaft, da ein Eröffnungsbeschluß einen Angeklagten
dadurch erheblich belaste, daß das Gericht ihn als verdächtig erscheinende Person in
das Hauptverfahren einführe und daher sein Ansehen selbst dann gefährde, wenn er
später freigesprochen werde. Dies sei namentlich dann der Fall, wenn ein schneller
Abschluß des Strafverfahrens nicht zu erwarten stehe.
Die Entscheidungen des Landgerichts und des Kammergerichts hinsichtlich der
Ablehnung des Vorsitzenden Richters H. verletzten den Beschwerdeführer in seinem
verfassungsmäßigen Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 Satz 2
VvB. Die Befangenheit und mangelnde Neutralität des Richters ergebe sich daraus, daß
dieser mit seiner Verfahrensführung judizielle Verfassungsrechte des Beschwerdeführers
bewußt verletzt habe, um den Verjährungseintritt hinsichtlich des Anklagevorwurfs des
Betruges zu verhindern. Der Richter habe angesichts einer 215 Seiten starken
Anklageschrift die nach § 201 Abs. 1 StPO zu gewährende Frist zur Stellungnahme des
Beschwerdeführers mit zunächst nur vier Wochen viel zu kurz bestimmt und sie sodann
nur unzulänglich und verspätet verlängert. Der Beschwerdeführer habe zudem bei
derart großen Aktenbeständen einen Anspruch auf systematisch geordnete Akten.
Indem der Richter seine Anträge auf Gewährung einer in diesem Sinne „organisierten
Akteneinsicht“ sowie auf Beschaffung sämtlicher Geschäftsunterlagen der W. GmbH, der
C. AG, der P. Holding AG und der Treuhandanstalt/BVS aus der Zeit zwischen 1990 und
1991 nicht beschieden habe und auch die erbetene Zusicherung, daß alle
prozeßrelevanten Unterlagen vorlägen, nicht abgegeben habe, habe er den Anspruch
des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör und auf ein waffengleiches, faires und
rechtsstaatliches Verfahren, welches sich aus Art. 7 und Art. 10 Abs. 1 VvB herleite,
verletzt. Die nachgefragten Geschäftsakten fehlten oder seien „nahezu ungeordnet“.
Neben den Sachakten, Haftbänden, Rechtshilfebänden, Bänden mit Ablichtungen aus
Zivilverfahren gebe es Beiakten, Sonderbände und Beistücke. Letztere enthielten die
Original-Beweismittel und umfaßten ca. 3.000 Stehordner, die in den Aktenräumen 333
und 334 der 19. Großen Strafkammer des Landgerichts lagerten. Die Beistücke
bestünden aus an verschiedenen Orten, u. a. auch im Ausland sichergestellten
Firmenunterlagen insbesondere der W. GmbH, der C.- AG, der P. Holding AG und der
Treuhandanstalt. Die Akten seien weder inhaltlich noch chronologisch geordnet, sondern
so aufgestellt, wie sie bei Sicherstellung registriert wurden. Als Katalog dienten lediglich
die Durchsuchungsprotokolle, in denen die Beweisstücke ohne Systematik aufgelistet
worden seien. Dem Beschwerdeführer sei unter diesen Umständen ein gezielter Zugriff
auf einzelne Beweismittel nicht möglich gewesen. Die Ordnung der Akten hätte allein
mehr Zeit erfordert, als für die Stellungnahme zur Anklage überhaupt zur Verfügung
gestanden habe. Die Verspätung der Fristverlängerung habe eine angemessene
Planbarkeit der Stellungnahme unmöglich gemacht.
Die von der Staatsanwaltschaft beigezogenen Urkunden seien nicht vollständig. Es
fehlten solche Urkunden, die den Beschwerdeführer entlasten könnten. Dazu gehörten
insbesondere Unterlagen, aus denen hervorgehe, daß der Beschwerdeführer
beabsichtigt habe, die W. GmbH fortzuführen, und daß er Aufträge für sie eingeworben
habe. Wenn eine ausreichende Stellungnahmefrist gewährt worden wäre, hätten
Urkunden aus den beschlagnahmten Geschäftsakten benannt werden können, die die
Einlassung des Beschwerdeführers bestätigt hätten. Eine Eröffnung des Hauptverfahrens
wäre dann nicht erfolgt und hätte wegen des Eintritts der absoluten
Verfolgungsverjährung im Hinblick auf einen Teil der Anklage schon wegen Fehlens einer
Verfahrensvoraussetzung dann auch nicht mehr erfolgen dürfen.
Ein Vorsitzender Richter, der sich in seiner Verfahrensführung verhalte wie dargelegt und
das gesetzlich vorgesehene Zwischenverfahren praktisch zu einer Farce mache, sei
nicht neutral und unvoreingenommen und dürfe deshalb von dem Beschwerdeführer zu
Recht wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die
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Recht wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die
Gerichtsentscheidungen, die die Ablehnung verwarfen, hätten die grundrechtliche
Relevanz des Vorgehens des abgelehnten Richters nicht erkannt. Die Zurückweisung der
Ablehnung sei als willkürlich anzusehen.
Der Beschluß bezüglich der Eröffnung des Hauptverfahrens leide darunter, daß an ihm
ein zu Recht abgelehnter Richter mitgewirkt habe. Er verstoße daher gegen Art. 15 Abs.
5 Satz 2 VvB. Im übrigen realisiere sich in ihm, wie dargelegt, die Verletzung des
Anspruchs des Beschwerdeführers auf umfassendes rechtliches Gehör und auf ein
faires, rechtsstaatliches Verfahren. Der Beschluß des Kammergerichts, der den
Eröffnungsbeschluß im Ergebnis unverändert bestehen lasse, offenbare ein grundlegend
falsches Verständnis der Grundrechte.
Der Haftbefehl schließlich leide gleichfalls unter der Mitwirkung eines zu Recht wegen
Befangenheit abgelehnten Richters. Im übrigen verletze er den Anspruch des
Beschwerdeführers auf die Freiheit der Person nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 VvB; denn ein
Haftbefehl habe bereits seit dem 27. Dezember 1996 bestanden, also mehr als fünf
Jahre, und schränke die geschäftliche und private Lebensführung des Beschwerdeführers
gravierend ein. Mit Rücksicht darauf, daß der Beschwerdeführer in Berlin zur
Vernehmung erschienen sei und daher bewiesen habe, daß er sich dem Verfahren nicht
durch Flucht entziehen wolle, und im Hinblick darauf, daß den Beschwerdeführer einen
Freispruch erwarte, verletze der Haftbefehl auch das Verhältnismäßigkeitsgebot.
Den Beteiligten ist gemäß § 53 Abs. 1 VerfGHG Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben
worden.
Der Beteiligte zu 2) hat mitgeteilt, daß die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich
der in den Aktenräumen der 19. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin, Zimmer
333 und 334 im Kriminalgericht Moabit gelagerten umfangreichen Aktenbestände, die
als Originalbeweismittel gleichzeitig für mehrere parallel laufende Strafverfahren dienten,
zutreffend sein könnten.
II.
Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Hinsichtlich eines Teils der Rügen ist sie unzulässig, im übrigen unbegründet.
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde soweit sie eine Verletzung des in Art. 7 VvB
enthaltenen Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit rügt, weil sich aus dem mit ihr
vorgetragenen Sachverhalt nicht hinreichend deutlich die Möglichkeit eines Verstoßes
der angegriffenen Entscheidungen gegen dieses Recht ergibt (Art. 50 VerfGHG). Da Art.
7 VvB ebenso wie Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht ausgestaltet ist (vgl. Beschluß
vom 13. August 1996 – VerfGH 29/96 – LVerfGE 5, 10 <12>), kommt ein Verstoß gegen
dieses Freiheitsrecht nur in Betracht, wenn der beanstandete Akt der öffentlichen Gewalt
nicht in den Schutzbereich eines anderen Grundrechts eingreift. Der Beschwerdeführer
trägt insoweit vor, die Verfahrensführung des Vorsitzenden Richters habe durch zu spät
eingeräumte und zu kurz bemessene Fristen sein Äußerungsrecht unangemessen
verkürzt und durch Nichtzurverfügungstellung systematisch geordneter Sach- und
Beweisakten seine Kenntnis der Tatsachen auf die es für die Entscheidung ankommt,
unverhältnismäßig beschnitten. Das Äußerungsrecht des Beteiligten und sein Anspruch
auf Kenntnis des Prozeßstoffs ist jedoch in dem Grundrecht auf Gehör vor Gericht (Art.
15 Abs. 1 VvB) angesiedelt. Deshalb ist das Grundrecht aus Art. 7 VvB daneben nicht
einschlägig.
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde ebenfalls insoweit, als sie sich gegen den
Eröffnungsbeschluß des Landgerichts Berlin sowie gegen die diese im Ergebnis
bestätigende Entscheidung des Kammergerichts mit der Rüge richtet, die genannten
Beschlüsse verletzten den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
Denn auch insoweit ist die Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht in einer den
Anforderungen des § 50 VerfGHG entsprechenden Weise ausreichend substantiiert.
Eine Verletzung des Art. 15 Abs. 1 VvB ist nur dann gegeben, wenn nicht
ausgeschlossen werden kann, daß eine weitere Anhörung des Beschwerdeführers das
Gericht zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte veranlassen
können (vgl. zum Bundesrecht BVerfGE 28, 17 <20> m. w. N.; st. Rspr.). Daher verlangt
das Begründungserfordernis des § 50 VerfGHG, daß der Beschwerdeführer innerhalb der
Beschwerdefrist des § 51 VerfGHG präzise darlegt, was er bei ausreichender
Gehörsgewährung über sein bisheriges Vorbringen hinaus noch vorgetragen hätte und
warum die angegriffene Entscheidung für ihn bei zusätzlichem Vortrag vorteilhafter hätte
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warum die angegriffene Entscheidung für ihn bei zusätzlichem Vortrag vorteilhafter hätte
ausfallen können (vgl. Beschluß vom 11. Januar 1995 – VerfGH 81/94 – LVerfGE 3, 3 <6>
und vom 17. Dezember 1997 – VerfGH 112/96 – LVerfGE 7, 49 <53>). Nur wenn der
Begründung der Verfassungsbeschwerde zu entnehmen ist, was der Beschwerdeführer
bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs weiter vorgetragen hätte, kann geprüft
werden, ob die angegriffene Entscheidung auf einer Verletzung von Art. 15 Abs. 1 VvB
beruht.
Diesen Substantiierungsanforderungen genügte der Beschwerdeführer nicht, wenn er
nur allgemein angibt, er hätte bei ausreichender Frist zur Stellungnahme und beim
Vorhandensein eines systematisch geordneten Aktenbestands ihn entlastende
Urkunden aus den beschlagnahmten Geschäftsunterlagen vorlegen können, ohne daß
diese Urkunden nach Inhalt, Urheberschaft und Datum überprüfbar konkretisiert werden.
Auch wenn man vorliegend die ungewöhnlich große Menge an Beweisakten in Betracht
zieht, kann der Beschwerdeführer nicht nur generell einwenden, die fehlende
Aktenordnung bzw. die Unvollständigkeit der Akten mache die nähere Bezeichnung der
gesuchten Unterlagen und ihre Inhaltsangabe unmöglich. Angesichts eines Zeitraums
von über zehn Monaten allein zwischen Anklageerhebung und Einreichen der
Verfassungsbeschwerde und angesichts der Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft bzw.
die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität den
Verteidigern des Beschwerdeführers wiederholt die Aufbewahrungsorte der Akten
mitgeteilt hatte, die Staatsanwaltschaft u. a. mit Schreiben vom 11. September 2000
namentlich angegeben hatte, in welchen Räumen und in welchen Regalen sich die von
dem Beschwerdeführer gesuchten Geschäftsakten der Treuhandanstalt, der W. GmbH,
der C.-AG und der P. Holding AG befanden, ist der bloße Hinweis des Beschwerdeführers
auf die mangelnde Ordnung der Akten bzw. deren Unvollständigkeit zu allgemein, um
der Darlegungsanforderung für eine Verfassungsbeschwerde zu genügen.
Soweit der Beschwerdeführer einwendet, eine großzügiger bemessene Frist für eine
Stellungnahme auf eine Anklage hätte ihn auch ohne jeden weiteren Vortrag schon
deswegen in eine rechtlich günstigere Lage versetzt, weil dann mindestens bezüglich
eines Teils der Anklagepunkte die Verfolgungsverjährung eingetreten wäre, kann das die
Begründungsmängel ebenfalls nicht ausgleichen. Denn der Anspruch auf Gehör vor
Gericht besteht nur in dem Umfang, wie das Gehör nachvollziehbar für die Darlegung der
eigenen Entlastung gegenüber dem Richter benötigt wird. Er kann nicht von Verfassungs
wegen zur Erreichung des Verjährungsablaufs instrumentalisiert werden.
Da die Verfassungsbeschwerde bezüglich des Eröffnungsbeschlusses mangels
ausreichender Substantiierung bereits als unzulässig zu verwerfen ist, bedarf es
vorliegend keines Eingehens mehr auf die Frage, ob der Eröffnungsbeschluß hier mit der
Verfassungsbeschwerde selbständig angegriffen werden konnte und ob die
Verfassungsbeschwerde bezüglich des Eröffnungsbeschlusses, der eine nach §§ 210,
304 StPO grundsätzlich nicht anfechtbare Zwischenentscheidung darstellt, hier bereits
verfristet war.
Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig, jedoch unbegründet.
Der Beschwerdeführer ist durch die Zurückweisung sowohl seines Ablehnungsgesuchs
als auch der nachfolgenden sofortigen Beschwerde nicht in seinem Recht auf den
gesetzlichen Richter – Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB – verletzt. Auch wenn der
verfassungsmäßige Anspruch auf den gesetzlichen Richter das Recht auf einen
neutralen, unabhängigen Richter umfaßt (vgl. BVerfGE 21, 139 <146 f.>; BVerfG in
NVwZ 1996, 885 zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), ist die Frage, ob ein Angeklagter zu
Recht die Befangenheit eines Richters befürchten und diesen deshalb ablehnen kann,
grundsätzlich eine Frage der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts, hier der
§§ 24 ff. StPO. Verfassungsgerichtlicher Überprüfung unterliegt daher nicht die richtige
Anwendung der einschlägigen Verfahrensvorschriften im Einzelfall, sondern lediglich die
Einhaltung der durch das Willkürverbot gezogenen Grenzen (BVerfGE 31, 145 <164 f.>;
Beschluß vom 20. Dezember 1999 – VerfGH 38/99 – NZM 2000, 231). Willkürlich können
Entscheidungen im Ablehnungsverfahren nur sein, wenn sie sich bei Anwendung und
Auslegung der hier maßgeblichen Bestimmungen der Strafprozeßordnung derart weit
von dem verfassungsrechtlichen Bild des gesetzlichen Richters entfernen, daß sie nicht
mehr verständlich erscheinen, offensichtlich unhaltbar oder schlechthin abwegig sind
und sich der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen (BVerfGE
19, 38 <43>; BVerfG, NJW 1984, 1874; BVerfGE 29, 45 <49>). Wegen eines Verstoßes
gegen das Willkürverbot kommt daher ein verfassungsgerichtliches Eingreifen nur in
seltenen Ausnahmefällen und jedenfalls nicht schon immer dann in Betracht, wenn die
Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren bei der Zurückweisung des
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Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren bei der Zurückweisung des
Ablehnungsgesuchs Fehler aufweisen sollte (BVerfG, NJW 1984, 1874; Beschluß vom 21.
Februar 2002 – VerfGH 74/98 –).
Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und insbesondere nicht willkürlich. Die
Beschränkung der Frist zur Stellungnahme auf die Anklage auf einen Zeitraum von
insgesamt etwas über zwei Monaten und die Gewährung von Einsichtnahme in den
Aktenbestand in dem Grad von Geordnetheit, in dem er sich Ende 2000 befand sowie
das Übergehen des Antrags des Beschwerdeführers, ihm die Vollständigkeit der
beschlagnahmten Beweisakten ausdrücklich zuzusichern, war jedenfalls nicht in der
Weise unsachlich, gesetzwidrig oder willkürlich, daß sich daraus ernstzunehmende
Zweifel an der Neutralität des verfahrensführenden Richters ergeben müßten.
Dem Beschwerdeführer waren die Tatvorwürfe der Staatsanwaltschaft und die
Beweismittel, auf die sie sich bezog, im Kern bereits seit Anfang des Jahres 1999
bekannt. Die im Haftbefehl vom 27. Dezember 1998 aufgeführten Beschuldigungen
unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den in der Anklage genannten. Die
Verteidigung des Beschwerdeführers hatte spätestens seit 1999 volle Akteneinsicht in
die allerdings äußerst umfangreichen Ermittlungs- und Beweisakten. Die
Staatsanwaltschaft bzw. die ZERV haben wiederholt, zum Teil mit konkreten
Terminvorschlägen, Unterstützung bei der Akteneinsicht angeboten, ohne daß von
seiten der Verteidigung hierauf immer eingegangen worden wäre. Der Beschwerdeführer
mußte wegen der ihm bekannten drohenden Verfolgungsverjährung und auch aufgrund
eines vorangegangenen ausdrücklichen Hinweises der Staatsanwaltschaft mit einer
Anklageerhebung in der zweiten Jahreshälfte 2000 rechnen und konnte sich daher darauf
einstellen. Zwischen dem Schweizer Anwalt des Beschwerdeführers und der
Staatsanwaltschaft kam es zu ausführlichem Schriftwechsel, in dem u. a. die
Staatsanwaltschaft auch auf die prozeßrechtlichen und die materiellrechtlichen Einwände
des Beschwerdeführers einging. Insgesamt waren bis zum Erlaß des
Eröffnungsbeschlusses Stellungnahmen, Schutzschriften und sogenannte
Beweiseingaben von seiten des Beschwerdeführers im Umfang von über 550 Seiten zu
den Ermittlungsakten gelangt. Bezüglich der Beweisakten stand ein umfangreicher
aktueller „Aktenaufbauplan“ der Staatsanwaltschaft zur Verfügung und waren wiederholt
Hinweise auf die örtliche Asservierung der Aktenbestände ergangen. Das Landgericht
war auch ersichtlich weder in der Lage noch verpflichtet, dem Beschwerdeführer auf
Antrag schriftlich zu garantieren, daß „alle prozeßrelevanten Unterlagen“ vorlägen.
Angesichts dieser Sachlage können weder die für die Stellungnahme auf die
Anklageschrift gesetzte Frist noch die Gewährung der Einsicht in den Aktenbestand, wie
er sich durch die Beschlagnahme an unterschiedlichen Orten gebildet hat, noch das
Übergehen des Antrags des Beschwerdeführers auf Abgabe einer Zusicherung
hinsichtlich der Lückenlosigkeit des Aktenbestandes die Parteilichkeit oder
Voreingenommenheit des Vorsitzenden Richters indizieren. Die Zurückweisung des
Ablehnungsgesuchs durch das Landgericht und die anschließende Verwerfung der
dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde durch das Kammergericht sind jedenfalls
unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden.
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer auch insoweit nicht in
seinen Grundrechten, als mit ihnen der Haftbefehl vom 23. Februar 2001 erlassen bzw.
durch die Beschwerdeentscheidung bestätigt wird.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers verstößt der Haftbefehl zunächst nicht
gegen das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB, denn
– wie ausgeführt – bestehen gegen die Zurückweisung seines Richterablehnungsgesuchs
keine verfassungsrechtlichen Bedenken. An dem Erlaß des Haftbefehls hat demnach
kein zu Recht abgelehnter Richter mitgewirkt.
Der Haftbefehl genügt auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 8 Abs. 1
Satz 2 VvB. Diese Bestimmung garantiert die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person. In
sie darf nach ihrem Absatz 1 Satz 3 nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Im Hinblick auf den besonderen Rang, den die Freiheit der Person als Basis der
Entfaltungsmöglichkeiten des Bürgers unter den Grundrechten einnimmt, darf darüber
hinaus eine Freiheitsentziehung nur dann angeordnet und aufrechterhalten werden,
wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies gebieten.
Das Recht auf Freiheit besteht aber nicht schrankenlos. Zu den Belangen, gegenüber
denen der Freiheitsanspruch eines Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muß,
gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung. Ein
vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser beiden für den Rechtsstaat wichtigen
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vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser beiden für den Rechtsstaat wichtigen
Grundsätze läßt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur durch Abwägung
erreichen. Der vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafverfolgung aus
notwendigen Freiheitsbeschränkung ist der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten
Beschuldigten ständig als Korrektiv gegenüber zu stellen. Dabei kommt der Beachtung
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu (vgl. Beschluß vom
23. Dezember 1992 – VerfGH 38/92 – LVerfGE 1, 44 <53>). Diese Grundsätze gelten
nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl, sondern im Prinzip auch für einen Haftbefehl,
der gegen einen in seinem Heimatstaat aufhältigen ausländischen Tatverdächtigen
gerichtet ist, aber dort nicht vollstreckt werden kann (vgl. Beschluß vom 13. Dezember
2001 – VerfGH 138/01 –; BVerfGE 53, 152 <158 ff.> zum außer Vollzug gesetzten
Haftbefehl).
Zwar stellen strafprozessuale Maßnahmen wie der Erlaß eines Haftbefehls ihrer Natur
nach regelmäßig einen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte
Lebenssphäre des Betroffenen dar. Das gilt prinzipiell auch für den in der Schweiz auf
freiem Fuß befindlichen Beschwerdeführer, der als international tätiger Geschäftsmann
die Schweiz nicht ohne Furcht vor einer Festnahme verlassen kann, also in seiner
örtlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist und auch mit der Gefahr rechnen muß,
daß diese Einschränkung seiner Freiheit eine seinem Ruf abträgliche Publizität erhält.
Auch ist zu berücksichtigen, daß der neu erlassene Haftbefehl vom Februar 2001
angesichts des langen Zeitraums des Bestehens eines vorangegangenen Haftbefehls,
nämlich seit Ende Dezember 1996, sich für den Beschwerdeführer besonders belastend
auswirkt.
Bei Abwägung aller Gesichtspunkte läßt sich vorliegend ein Verfassungsverstoß
gleichwohl nicht feststellen. Der Erlaß des Haftbefehls ist durch den legitimen Anspruch
des Staates auf effektive Aufklärung der Tat und Bestrafung des Täters gedeckt und
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das öffentliche Interesse an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen
Strafrechtspflege hat im Rechtsstaat besonderes Gewicht. Haftbefehle bezwecken die
Sicherung des Strafverfahrens und die Sicherstellung der Vollstreckung einer etwaigen
Freiheitsstrafe. Die Annahme, daß dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr vorliegt,
haben die Strafgerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeit ohne Verfassungsverstoß bejaht.
Ihre beide Tatbestandsvoraussetzungen bejahende Prognose kann vom
Verfassungsgerichtshof, der keine zusätzliche Rechtsmittelinstanz ist, in der Sache
nicht im einzelnen überprüft werden. Auf einer Verkennung der Bedeutung und
Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit könnte sie nur dann beruhen, wenn
ihre Unrichtigkeit von vornherein und für den unbefangenen Betrachter offensichtlich
wäre. Davon kann angesichts der Komplexität des den Gegenstand des Strafverfahrens
bildenden Sachverhalts, der erstinstanzlich bereits erfolgten Verurteilung mehrerer
Mitbeschuldigter zu Freiheitsstrafen und dem nach dem Ergebnis des
Ermittlungsverfahrens angerichteten außerordentlich hohen Schaden hier keine Rede
sein. Mit Rücksicht auf die dem Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung drohende
erhebliche Freiheitsstrafe, sowie im Hinblick auf seine berufliche und persönliche
Ungebundenheit und die ihm nach dem Ergebnis der Ermittlungen zugeflossenen
beträchtlichen Finanzmittel ist der Verdacht, er könne sich dem Verfahren durch
Untertauchen entziehen, nicht von der Hand zu weisen und jedenfalls aus
verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu beanstanden, auch wenn er die infolge
seines Wohnsitzes im Ausland bestehende Gelegenheit zur Flucht bisher nicht genutzt
hat. Dies gilt um so mehr, als sich durch Anklageerhebung und Eröffnung des
Hauptverfahrens die Gefahr der tatsächlichen Verhängung einer hohen Freiheitsstrafe
fluchtanreizbietend erhöht hat.
Zieht man weiter in Betracht, daß die konkreten Einschränkungen der persönlichen
Freiheit des Beschwerdeführers durch den nicht vollstreckten Haftbefehl deutlich weniger
belastend sind als im Falle einer bereits länger andauernden tatsächlichen Inhaftnahme
eines Beschuldigten, und berücksichtigt man die Schwere der Tat, die ihm zur Last
gelegt wird, so ist gegen den gerügten Haftbefehl trotz des langen Vorliegens des
vorangegangenen Haftbefehls auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit
verfassungsrechtlich nichts einzuwenden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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