Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: schutzwürdiges interesse, daten, recht auf akteneinsicht, hinreichender tatverdacht, auskunft, verfassungsbeschwerde, grundrecht, verfassungsrecht, ermittlungsverfahren, geheimhaltung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
132/08, 132 A/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 Verf BE, Art 7 Verf BE, Art
10 Abs 1 Verf BE, Art 33 Verf
BE, Art 33 Abs 2 Verf BE
Akteneinsicht Dritter in strafprozessuale Ermittlungsakten
Leitsatz
Die Erteilung von Auskünften aus Ermittlungsakten und die Gewährung von Akteneinsicht
nach § 475 StPO greifen in das Recht auf Schutz persönlicher Daten nach Art. 33 VvB
derjenigen ein, deren personenbezogene Daten auf diese Weise Dritten zugänglich gemacht
werden. Die Auskunft erteilende oder Akteneinsicht gewährende Stelle hat daher die
schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten (und weiterer Personen, deren Daten offenbart
werden) gegen das Informationsinteresse des Antragstellenden abzuwägen und den Zugang
zu den Daten gegebenenfalls angemessen zu beschränken.
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 14. August 2008 - 535 AR 3/08 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 33 der Verfassung von Berlin. Er wird
aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Berlin zurückverwiesen.
Damit ist der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 15. Oktober 2008 gegenstandslos.
Nach Zurücknahme des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird das
Verfahren VerfGH 132 A/08 eingestellt.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Land Berlin hat den Beschwerdeführern im Verfahren VerfGH 132/08 die
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die Gewährung von Akteneinsicht nach § 475
StPO an den Beteiligten zu 2 in einem gegen sie gerichteten strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren.
Die Beschwerdeführer sind Vorstandsmitglieder, der Beteiligte zu 2 ist Mitglied der
Vertreterversammlung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV) Berlin. Nachdem
der Rechnungsprüfungsausschuss der KZV für das Jahr 2003 Beanstandungen erhoben,
die Vertreterversammlung Anfang November 2005 aber gleichwohl mehrheitlich die
Entlastung des Vorstands beschlossen hatte, erstattete der Beteiligte zu 2 im
November 2005 Strafanzeige gegen die Beschwerdeführer als Vorstandsmitglieder der
KZV. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen Verdachts der Untreue ist
noch nicht abgeschlossen.
Der Beteiligte zu 2 beantragte im Mai 2008 bei der Staatsanwaltschaft Berlin
Akteneinsicht, weil er als Mitglied der Vertreterversammlung der KZV Teil dieses
Selbstverwaltungsorgans und durch seinen gesetzlichen Auftrag zur Kontrolle des
Vorstands legitimiert sei. Die Staatsanwaltschaft Berlin gab dem Antrag gemäß § 475
StPO statt und teilte dies den Beschwerdeführern mit Schreiben vom 10. Juli 2008 mit.
Der Beteiligte zu 2 habe sein berechtigtes Interesse dargelegt, schützenswerte
Interessen der Beschwerdeführer stünden nicht entgegen.
Hiergegen beantragten die Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 30. Juli 2008
gerichtliche Entscheidung gemäß § 478 Abs. 3 Satz 1 StPO. Sie machten geltend, die
Akteneinsicht sei zu versagen, weil ein berechtigtes Interesse im Sinne von § 475 StPO
nicht dargelegt worden sei und sie ihrerseits schutzwürdige Interessen bezeichnet
hätten, die einer Akteneinsicht durch den Beteiligten zu 2 entgegenstünden. Es sei zu
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hätten, die einer Akteneinsicht durch den Beteiligten zu 2 entgegenstünden. Es sei zu
befürchten, dass dieser durch die Akteneinsicht erlangte Informationen weiterverbreite.
Ferner bestehe derzeit kein für die Anklageerhebung hinreichender Tatverdacht. Auch
sei zu berücksichtigen, dass der Beteiligte zu 2 Akteneinsicht nicht als „Verletzter“ nach
§ 406e StPO erhalten solle; dann aber komme es nach dem Wortlaut von § 475 Abs. 1
Satz 2 StPO nicht darauf an, ob ihre Interessen überwögen, sondern die Akteneinsicht
sei allein schon deshalb zu versagen, weil sie entgegenstehende schutzwürdige
Interessen hätten. Schließlich müsse die Akteneinsicht versagt werden, weil der
Beteiligte zu 2 nicht dargelegt habe, dass die über einen Auskunftsanspruch nach § 475
Abs. 1 StPO hinausgehenden Voraussetzungen für das Recht auf Akteneinsicht nach §
475 Abs. 2 StPO vorlägen.
Das Landgericht wies den Antrag mit dem angegriffenen Beschluss zurück und führte
zur Begründung aus:
„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zurückzuweisen.
Auskünfte aus Akten eines laufenden oder abgeschlossenen Verfahrens können
nach Maßgabe des § 475 Abs. 1 StPO nur über einen Rechtsanwalt und nur dann
erhalten werden, wenn ein berechtigtes Interesse an der Informationserteilung dargelegt
werden kann. Der Ausschluss des persönlichen Akteneinsichtsrechts verstößt nicht
gegen Grundrechte. Darlegung eines berechtigten Interesses bedeutet, entsprechende
Tatsachen schlüssig vorzutragen. Dies ist weniger als eine Glaubhaftmachung. Aus der
Verwendung des Wortes „soweit“ ergibt sich, dass Auskünfte auch lediglich teilweise
erteilt werden können. Nach Abs. 1 Satz 2 ist die Auskunft zu versagen, wenn der
Betroffene ein schutzwürdiges Interesse hat und dieses das berechtigte Interesse des
Antragstellers überwiegt. Die Auffassung, schon das Bestehen eines Interessenkonflikts
führe für sich genommen zwingend zur Versagung, findet im Gesetz keine Stütze. Eine
Versagung der Auskunft kommt insbesondere zum Schutz der Intimsphäre oder von
Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen sowie des Steuergeheimnisses in Betracht.
Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft Berlin dem Verfahrensbevollmächtigten des
Anzeigenden zu Recht Akteneinsicht gewährt. Dieser hat zutreffend darauf hingewiesen,
dass der Anzeigende als Mitglied der Vertreterversammlung Teil des gesetzlichen
Selbstverwaltungsorgans der verletzten Körperschaft und durch seinen gesetzlichen
Auftrag zur Kontrolle des Vorstands in diesem Bereich als Vertreter der verletzten
Körperschaft legitimiert ist.
Die Entscheidung ist unanfechtbar.“
Die Beschwerdeführer stellten daraufhin einen Antrag auf nachträgliche Anhörung
gemäß § 33a StPO, weil das Landgericht ihr Vorbringen nicht ausreichend zur Kenntnis
genommen habe. Das Landgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 15. Oktober
2008 zurück. Es führte aus, die Kammer sei auf den wesentlichen Kern des
Tatsachenvortrages der Beschwerdeführer in den Entscheidungsgründen eingegangen
und habe sich nicht mit jedem Gesichtspunkt des umfangreichen Vorbringens
auseinandersetzen müssen.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer zum einen die Verletzung
des Willkürverbots, Art. 10 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB - . Das Landgericht
habe nicht geprüft, ob sie ein schutzwürdiges Interesse an der Versagung der
Akteneinsicht gemäß § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO hätten. Allenfalls im zweiten Absatz der
Entscheidungsgründe, der aber lediglich abstrakte Rechtsausführungen enthalte und
eine Kommentarstelle wörtlich wiedergebe, werde in gewisser Hinsicht darauf
eingegangen. Auf diese Ausführungen komme es zu großen Teilen inhaltlich nicht an.
Dies zeige, dass sich das Gericht überhaupt nicht mit dem Fall auseinandergesetzt
habe. Außerdem habe das Landgericht nicht geprüft, ob über die Voraussetzungen einer
Auskunft nach § 475 Abs. 1 StPO hinaus die Voraussetzungen für eine Akteneinsicht
nach Absatz 2 dieser Vorschrift vorlägen. Zum anderen rügen die Beschwerdeführer die
Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 6 und 7 VvB) sowie ihres Rechts
auf Schutz persönlicher Daten nach Art. 33 VvB. In diese Grundrechte werde bei der
Gewährung von Akteneinsicht durch Dritte gem. § 475 StPO eingegriffen. Die
Akteneinsicht gewährende Stelle habe zur Wahrung der Grundrechte der betroffenen
Personen deren schutzwürdige Interessen zu ermitteln und dann zu entscheiden, ob und
in welchem Umfang Akteneinsicht bewilligt werde. Stattdessen habe das Landgericht die
Interessen der Beschwerdeführer überhaupt nicht in den Blick genommen.
Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Äußerung. Der Beteiligte zu 2 tritt der
Verfassungsbeschwerde entgegen und verteidigt den angefochtenen Beschluss.
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II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet, denn der angegriffene Beschluss
des Landgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art. 33 VvB.
1. Das Grundrecht auf Schutz persönlicher Daten nach Art. 33 VvB gewährleistet die aus
dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich
selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche
Lebenssachverhalte offenbart werden. Es entspricht dem im Grundgesetz
gewährleisteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2
Abs. 1 GG (vgl. Beschlüsse vom 17. Dezember 1997 - VerfGH 2/96 - LVerfGE 7, 26 <31>
und 21. März 2003 - VerfGH 112/02 - LVerfGE 14, 74 <81>; Nachweise der
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ohne Fundstelle hier und im Folgenden
jeweils im Internet unter www.gerichtsentscheidun-gen.berlin-brandenburg.de). Dieses
Grundrecht gewährt seinen Trägern Schutz gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung,
Verwendung oder Weitergabe der auf sie bezogenen, individualisierten oder
individualisierbaren Daten (vgl. Beschlüsse vom 21. März 2003, a. a. O. und 14. Februar
2006 - VerfGH 34/03 – juris, Rn. 27; für das Bundesrecht: BVerfGE 65, 1 <42 f.>). Es
kann durch Gesetz im überwiegenden Allgemeininteresse (Art. 33 Satz 2 und 3 VvB) und
unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden (vgl. Beschlüsse vom
6. Juli 2005 - VerfGH 32/05 – juris, Rn. 42, 13. Dezember 2005 - VerfGH 113/05 – NJW
2006, 1416 <1417> und 14. Februar 2006 - VerfGH 34/03 – juris, Rn. 28, 36; für das
Bundesrecht: BVerfG a. a. O. S. 43 f.).
Die Erteilung von Auskünften aus Verfahrensakten und die Gewährung von Akteneinsicht
nach § 475 StPO greifen in das Recht auf Schutz persönlicher Daten nach Art. 33 VvB
derjenigen ein, deren personenbezogene Daten auf diese Weise Dritten zugänglich
gemacht werden. Zu den schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten zählt dabei
gerade auch sein Interesse an der Geheimhaltung persönlicher Daten (vgl. zum
Bundesrecht: BVerfG NJW 2007, 1052 zu § 406e StPO unter Hinweis auf BT-Drs 10/5305,
S. 18). Die Auskunft erteilende oder Akteneinsicht gewährende Stelle hat daher die
schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten (und weiterer Personen, deren Daten
offenbart werden) gegen das Informationsinteresse des Antragstellenden abzuwägen
und den Zugang zu den Daten gegebenenfalls angemessen zu beschränken (vgl.
BVerfG NJW 2003, 501 <502> zu § 475 StPO m. w. N.). Wird durch die Gewährung der
Akteneinsicht in Grundrechte Betroffener eingegriffen, sind diese in der Regel anzuhören
(vgl. BVerfG NJW 2003, 501 <502> m. w. N.).
Soweit Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gerichtliche Entscheidungen sind,
prüft der Verfassungsgerichtshof in der Regel nur, ob die Fachgerichte spezifisches
Verfassungsrecht verletzt haben. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und
Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung
auf den Einzelfall sind Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der
Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof grundsätzlich entzogen (st. Rspr., vgl.
etwa Beschlüsse vom 30. Juni 1992 - VerfGH 9/92 - LVerfGE 1, 7 <8> und 26. Oktober
2000 - VerfGH 54/00 – nicht veröffentlicht). Der Verfassungsgerichtshof greift nur ein,
wenn der angefochtenen Entscheidung eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von
der Bedeutung und Reichweite der Grundrechte zugrunde liegt oder wenn die
Entscheidung aus anderen Gründen objektiv willkürlich erscheint. Verfassungsrecht ist
danach etwa dann verletzt, wenn es an der für Eingriffe in das Recht auf Schutz
persönlicher Daten nach Art. 33 VvB notwendigen Sachaufklärung oder an einer
tragfähigen Entscheidungsbegründung fehlt (vgl. Beschlüsse vom 21. März 2003, a. a.
O., S. 81 und 14. Februar 2006 - VerfGH 34/03 juris -, Rn. 31; für das Bundesrecht:
BVerfGE 103, 21 <35>).
2. Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Entscheidung mit Verfassungsrecht nicht
vereinbar, sie verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführer auf Schutz ihrer
persönlichen Daten nach Art. 33 VvB.
Das ergibt sich schon daraus, dass das Landgericht - ebenso wie zuvor die
Staatsanwaltschaft - schutzwürdige Interessen der Beschwerdeführer nicht festgestellt
und gewürdigt hat. Dem angegriffenen Beschluss lässt sich hierzu nichts entnehmen.
Die abstrakten Ausführungen des Landgerichts zu § 475 StPO beziehen sich zwar zum
Teil auf die Frage, welche Interessen eines Betroffenen als schutzwürdig in Betracht
kommen. Solche - hier wörtlich aus einem Kommentar übernommene - Ausführungen
können aber fallbezogene, auch das Vorbringen der Beteiligten erkennbar in Erwägung
ziehende Entscheidungsgründe nicht ersetzen. Außerdem lässt die Begründung des
angegriffenen Beschlusses nicht erkennen, dass das Landgericht die schutzwürdigen
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angegriffenen Beschlusses nicht erkennen, dass das Landgericht die schutzwürdigen
Interessen der Beschwerdeführer an der Geheimhaltung personenbezogener Daten
gegen das Informationsinteresse des Beteiligten zu 2 abgewogen hat. Auch hierzu
enthält der Beschluss keine auf den Fall bezogenen Ausführungen. Schließlich ist der
Begründung des Landgerichts nicht zu entnehmen, dass es den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der Wahl des Informationsmittels beachtet und geprüft
hat, ob das gegenüber der Gewährung von Akteneinsicht mildere Mittel der
Auskunfterteilung aus den Akten ausreicht, um dem Interesse des Beteiligten zu
genügen.
3. Auf die von den Beschwerdeführern geltend gemachten weiteren
Grundrechtsverstöße kommt es danach nicht mehr an.
4. Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist der Beschluss des Landgerichts aufzuheben und die
Sache in entsprechender Anwendung von § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - BVerfGG - an das Landgericht zurückzuverweisen.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
abgeschlossen.
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