Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: behinderung, zumutbare tätigkeit, öffentliche gewalt, versorgung, anerkennung, verfassungsbeschwerde, grundrecht, erwerbsfähigkeit, kreis, unzumutbarkeit

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
148/01
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 10 Abs 1 Verf BE, Art 11
Verf BE, § 12 PrVG BE
Leitsatz
Daß § 12 Abs. 1 PrVG keine Regelung enthält, wonach anerkannte Verfolgte des
Nationalsozialismus, die schwerbehindert sind, schon vor Erreichen der allgemeinen
Altersgrenze Anspruch auf Altersrentenversorgung nach dieser Vorschrift haben, verstößt
weder gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung noch gegen das Verbot der
Benachteiligung Behinderter.
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der im August 1940 geborene Beschwerdeführer, von Beruf Vorsitzender Richter, ist
gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über die Anerkennung und Versorgung der
politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) i. d. F. vom 21.
Januar 1991 (GVBl. S. 38) als Verfolgter anerkannt. Durch Bescheid des
Versorgungsamts Berlin vom 6. September 1996 wurde bei ihm das Vorliegen mehrerer
Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt. Im Januar 2000
teilte er dem Landesverwaltungsamt Berlin mit, er beabsichtige, von der in § 4 Abs. 3
des Berliner Richtergesetzes für Schwerbehinderte im Sinne des § 1 des
Schwerbehindertengesetzes vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich mit
Vollendung des 60. Lebensjahres in den Ruhestand versetzen zu lassen, und beantragte
sinngemäß, ihm ab seiner Pensionierung Rentenversorgung gemäß § 12 Abs. 2 PrVG zu
gewähren. Nach Einholung zweier fachärztlicher Gutachten über den
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers lehnte das Landesverwaltungsamt diesen
Antrag ab, weil die darin festgestellten Gesundheitsstörungen den Beschwerdeführer
nicht soweit behinderten, daß er seinen Beruf als Vorsitzender Richter nicht mehr
ausüben könnte.
Die dagegen gerichtete Klage wurde vom Landgericht Berlin durch Urteil vom 7.
Dezember 2000 als unbegründet abgewiesen, da der Beschwerdeführer nicht
erwerbsunfähig im Sinne von § 12 Abs. 2 PrVG sei. Daß er mit einem Grad der
Behinderung von 50 schwerbehindert im Sinne von § 1 des Schwerbehindertengesetzes
sei, reiche dafür nicht aus. In Anbetracht seines Gesundheitszustandes und seines
konkret ausgeübten Berufs sei er in zumutbarer Weise in der Lage, die Hälfte des
Einkommens einer gesunden Person zu erzielen.
Die dagegen eingelegte Berufung wurde vom Kammergericht durch Urteil vom 2. August
2001 als unbegründet zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 PrVG lägen
nicht schon deshalb vor, weil der Beschwerdeführer aufgrund seiner anerkannten
Schwerbehinderung berechtigt sei, vor Vollendung des 65. Lebensjahres in den
Ruhestand zu treten. Dem stehe der eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen, der
die Gewährung einer Versorgungsrente von engeren Voraussetzungen abhängig mache
als das Rentenrecht oder das Beamtenversorgungsrecht. Nichts anderes ergebe sich
aus dem Zweck des Verfolgtengesetzes, der durch das Bundesentschädigungsgesetz
eingeschränkten Kompetenz des Landesgesetzgebers und der fehlenden Anpassung
des § 12 Abs. 2 PrVG an die in den 1970er Jahren vorgenommenen Änderungen des
Rentenrechts. Auch aus der Anerkennung als Schwerbehinderter mit einem Grad der
Behinderung von 50 folge nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 12 Abs. 2
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Behinderung von 50 folge nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 12 Abs. 2
PrVG. Gegen die Auslegung dieser Vorschrift im Sinne des Beschwerdeführers spreche
schließlich, daß § 12 PrVG nicht einmal für den von Gesundheitsschäden im Sinne des §
4 Abs. 3 PrVG betroffenen Kreis von Verfolgten eine Sonderregelung enthalte. Es
komme somit entscheidend darauf an, ob unabhängig vom Vorliegen der
Voraussetzungen des Eintritts des Klägers in den Ruhestand und unabhängig vom Grad
der anerkannten Behinderung die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 PrVG vorlägen. Das
sei nicht der Fall. Aus der Berechtigung, in den Ruhestand zu treten, könne keine
Unzumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit im Sinne dieser Vorschrift gefolgert werden. Der
Begriff der Unzumutbarkeit knüpfe zudem nicht an die gesundheitlichen Möglichkeiten
des Betroffenen, sondern an seine Kenntnisse und Fähigkeiten an. Abzustellen sei
darauf, ob sein gegenwärtiger Gesundheitszustand dem Beschwerdeführer erlaube, aus
einer angemessenen Berufstätigkeit 50 % des Einkommens einer vergleichbaren
gesunden Person zu erzielen. Dies sei nach den im Verwaltungsverfahren eingeholten
Gutachten der Fall. Als weiteres Indiz komme der festgestellte Grad der Behinderung von
50 hinzu. Entscheidend komme weiter hinzu, daß der Beschwerdeführer seine
Vollzeittätigkeit über den Zeitpunkt des möglichen Eintritts in den Ruhestand hinaus
fortgeführt habe, obwohl er nach eigenem Vortrag auf die Versorgungsrente zu seiner
Absicherung nicht angewiesen sei.
Mit der Verfassungsbeschwerde gegen die genannten gerichtlichen Urteile und den
ablehnenden Bescheid des Landesverwaltungsamts rügt der Beschwerdeführer einen
Verstoß gegen Art. 10 und 11 der Verfassung von Berlin – VvB –.
§ 12 PrVG sei verfassungskonform dahin auszulegen, daß anerkannten Verfolgten, die
schwerbehindert sind, ab Vollendung des 60. Lebensjahres auf Antrag ohne
medizinische und sonstige Prüfung auch die Zusatzversorgung nach dem PrVG zu
gewähren sei. Zwar enthalte § 12 PrVG keine ausdrückliche Regelung für Behinderte. In
Verbindung mit der Auslegung der Norm in den angefochtenen Entscheidungen liege
darin jedoch ein Verstoß gegen die genannten Grundrechte, weil § 12 PrVG anders als
alle anderen bundes- und landesrechtlichen Regelungen für Behinderte im Renten- und
Beamtenversorgungsrecht die Altersversorgung auf Antrag ab dem 60. Lebensjahr nur
eröffnen solle, wenn die Betroffenen nicht mehr in der Lage seien, durch eine zumutbare
Tätigkeit die Hälfte eines Aktiveinkommens zu verdienen. Dadurch würden anerkannt
verfolgte Behinderte über 60 anders, nämlich schlechter als über 60jährige Behinderte
aufgrund der Wertungen in allen anderen Gesetzen behandelt. Dies sei eine nach Art. 11
VvB untersagte Benachteiligung.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet. Der Beschwerdeführer ist
durch die von ihm angegriffenen Entscheidungen nicht in den von ihm geltend
gemachten, in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechten verletzt.
Der Beschwerdeführer macht der Sache nach zunächst geltend, es verstoße gegen den
in Art. 10 Abs. 1 VvB enthaltenen Gleichbehandlungsgrundsatz, daß § 12 PrVG
Behinderten die Altersversorgung auf Antrag ab dem 60. Lebensjahr nur unter der
Voraussetzung überwiegender Erwerbsminderung eröffne, während das Renten- und
Beamtenversorgungsrecht diese zusätzliche Voraussetzung nicht verlange. Dieser
Einwand ist unbegründet. Der Beschwerdeführer verkennt insoweit, daß § 12 PrVG in
seinen beiden Absätzen zwei unterschiedliche Arten der Rentenversorgung regelt,
nämlich in Abs. 1 eine von der Erwerbsfähigkeit unabhängige Rente wegen Alters und in
Abs. 2 eine vom Alter unabhängige Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Insoweit
unterscheidet sich § 12 nicht von den entsprechenden Regelungen des Rechts der
gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. §§ 35, 43 SGB VI), so daß die gerügte
Ungleichbehandlung bei der Auslegung des § 12 Abs. 2 PrVG nicht vorliegt. Was der
Beschwerdeführer in Wahrheit beanstandet, ist das Fehlen einer dem § 37 SGB VI bzw. §
77 Abs. 4 Nr. 1 LBG entsprechenden Regelung, wonach schwerbehinderte Menschen
schon vor Erreichen der allgemeinen Altersgrenze Anspruch auf Altersrente bzw.
Ruhegehalt haben, in § 12 Abs. 1 PrVG.
Darin liegt jedoch kein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung. Aus diesem
Grundrecht folgt nämlich kein verfassungsrechtliches Gebot, ähnliche Sachverhalte in
verschiedenen Ordnungsbereichen mit anderen systematischen und
sozialgeschichtlichen Zusammenhängen gleich zu regeln (vgl. BVerfGE 40, 121 <139
f.>; 43, 13 <21>; 75, 78 <107> zum inhaltsgleichen Art. 3 Abs. 1 GG). Die
verschiedene Behandlung der Behinderten im Sozialversicherungs- und
Beamtenversorgungsrecht einerseits und im Gesetz über die Anerkennung und
Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus
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Versorgung der politisch, rassisch oder religiös Verfolgten des Nationalsozialismus
andererseits ist verfassungsrechtlich schon deshalb nicht zu beanstanden, weil dieses
Gesetz wegen seiner besonderen Zweckbestimmung mit den Regelungen des
Sozialversicherungs- und Beamtenversorgungsrechts nicht zu vergleichen ist. Es handelt
sich um ein soziales Betreuungsgesetz mit Ehrungscharakter, das für eine relativ kleine
Gruppe Verfolgter, die sich nach Art und Schwere der erlittenen Verfolgung aus dem
Kreis der NS-Verfolgten heraushebt, eine besondere Anerkennung und eine zusätzliche
Betreuung und Versorgung vorsieht (vgl. Beschluß vom 3. September 1998 – VerfGH
14/98 – S. 5 m. w. N.). Demgegenüber knüpfen die Leistungen der Sozialversicherung in
erster Linie an Beitragszahlungen an, während die Versorgung des Ruhestandsbeamten
eine Gegenleistung aus dem Beamtenverhältnis ist. Wenn der Gesetzgeber in diesen
Ordnungsbereichen, die nahezu alle in Deutschland lebenden Menschen betreffen,
behinderten Menschen aus sozialen Gesichtspunkten besondere Vergünstigungen
zugesteht, folgt daraus kein verfassungsrechtliches Gebot, in einem anderen
Ordnungsbereich, der nur einen eng umrissenen Personenkreis betrifft, Behinderten
genau dieselben Vorteile zu gewähren.
Art. 10 Abs. 1 VvB wäre auch dann nicht verletzt, wenn § 12 PrVG die Altersversorgung
anders regeln sollte als vergleichbare Rechtsvorschriften in anderen Bundesländern. Der
Landesgesetzgeber ist mit Rücksicht auf die föderale Struktur der Bundesrepublik
Deutschland nur gehalten, den Gleichheitssatz innerhalb des Geltungsbereichs der
Landesverfassung zu wahren. Die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes kann
daher unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes nicht in Zweifel gezogen werden, weil
dieses von vergleichbaren Regelungen in anderen Bundesländern abweicht (siehe
BVerfGE 10, 354 <371>; 12, 319 <324>; 17, 319 <331>; 27, 175 <179>; 51, 43 <58
f.>; 93, 319 <351>; st. Rspr.).
Nichts anderes folgt im Ergebnis aus Art. 11 VvB. Das mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
inhaltsgleiche Benachteiligungsverbot in Satz 1 dieser Vorschrift will den Schutz des
allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 10 Abs. 1 VvB für Behinderte verstärken und
der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgeben, als die Behinderung nicht als
Anknüpfungspunkt für eine – benachteiligende – Ungleichbehandlung dienen darf (vgl.
Beschluß vom 18. Juni 1998 – VerfGH 104, 104 A/97 – LVerfGE 8, 62 <65> m. w. N.).
Darum geht es im vorliegenden Fall jedoch nicht. Die Verfassungsbeschwerde rügt nicht,
daß Behinderte durch § 12 PrVG wegen ihrer Behinderung rechtlich schlechter gestellt
werden als Nichtbehinderte. Vielmehr hält sie es für verfassungswidrig, daß § 12 PrVG für
den Anspruch auf Altersrentenversorgung – anders als andere Gesetze – keine
Bevorzugung von Behinderten normiert. Solche Bevorzugungen sind jedoch – mögen sie
auch erlaubt und sozialpolitisch wünschenswert sein – nicht ohne weiteres auch
verfassungsrechtlich geboten.
Zwar wird durch die in Art. 11 Abs. 2 VvB niedergelegte Verpflichtung des Landes zur
Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne
Behinderungen nicht nur die Bedeutung des Benachteiligungsverbots unterstrichen,
sondern dieses gleichzeitig um einen staatlichen Förderungs- und Integrationsauftrag
ergänzt. Vor diesem Hintergrund ist eine Benachteiligung im Sinne des Art. 11 Abs. 1
VvB nicht nur bei Regelungen gegeben, die die Situation des Behinderten wegen seiner
Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa Leistungen, die grundsätzlich jedermann
zustehen, verweigert werden. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem
Ausschluß von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt
gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene
Förderungsmaßnahme kompensiert wird (vgl. Beschluß vom 18. Juni 1998, a.a.0.). Auch
darum geht es vorliegend jedoch nicht. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, daß
Behinderte durch die Rechtslage typischerweise gezwungen sind, schon mit Vollendung
des 60. Lebensjahres ihre Berufstätigkeit aufzugeben. Außerdem ist nichts dafür
vorgetragen, daß die Inanspruchnahme des Rechts auf vorzeitigen Bezug von
Altersrente nach § 37 SGB VI bzw. auf vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand nach § 77
Abs. 4 Nr. 1 LBG für als politisch Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannte
Behinderte typischerweise mit solchen finanziellen Nachteilen verbunden ist, daß sie –
neben dem nur für Fälle überwiegend verminderter Erwerbsfähigkeit geltenden § 12 Abs.
2 PrVG – durch einen Anspruch auf von weiteren Voraussetzungen unabhängige
vorzeitige Altersrentenversorgung in Ergänzung des § 12 Abs. 1 PrVG kompensiert
werden müßten.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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