Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: verfassungsbeschwerde, öffentlicher verkehr, grundstück, eigentümer, ausnahme, subsidiarität, willkürverbot, zugang, verfügung, begriff

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
75/99
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 7 Verf BE, Art 10 Abs 1 Verf
BE
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I. Die 1951 geborene Beschwerdeführerin besitzt die Staatsangehörigkeit Bosnien-
Herzegowinas. Sie war von 1970 bis 1983 in Berlin als Arbeitnehmerin tätig. Mit ihrem
Ehemann und den beiden gemeinsamen Kindern reiste sie im September 1992 erneut
nach Deutschland ein und wurde zunächst wegen der in ihrer Heimat herrschenden
Verhältnisse in Berlin geduldet. Ihren „als Flüchtling wegen Arbeitsaufnahme“ für sechs
Monate gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lehnte das
Landeseinwohneramt Berlin mit Bescheid vom 25. September 1992 ab. Seit Oktober
1992 ist die Beschwerdeführerin bei dem Evangelischen Gemeindeverband als
Hauspflegerin tätig. Unter dem 24. November 1994 wurde ihr Antrag vom 5. April 1994,
unter Wiederaufgreifen des Verfahrens eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsaufnahme
zu erteilen, vom Landeseinwohneramt abschlägig beschieden und zur Begründung
ausgeführt: Die Beschwerdeführerin sei ohne den für eine Erwerbstätigkeit nötigen
Sichtvermerk eingereist. Da § 5 Nr. 8 Arbeitsaufenthalteverordnung - AAV - keinen
Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung vorsehe, könne von dem
Sichtvermerksverstoß nicht nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG und § 9 DVAuslG abgesehen
werden. Am 19. September 1995 wurde der Beschwerdeführerin eine
Aufenthaltsbefugnis erteilt, die zuletzt bis zum 24. Juli 1997 verlängert wurde. Mit
Bescheid des Landeseinwohneramts vom 11. November 1997, bestätigt durch
Widerspruchsbescheid der Senatsverwaltung für Inneres vom 29. Dezember 1997, wurde
die „Verlängerung“ der Aufenthaltsbefugnis abgelehnt und die Abschiebung nach
Bosnien-Herzegowina angedroht.
Nachdem die Beschwerdeführerin bereits am 29. September 1995 bei dem
Verwaltungsgericht Berlin Klage erhoben hatte, mit der sie die Verpflichtung des Landes
Berlin zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrte, wies die Senatsverwaltung für
Inneres den Widerspruch gegen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis mit
Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1996 zurück und führte aus: Die Erteilung einer
Aufenthaltsbefugnis aus humanitären Gründen habe der Beschwerdeführerin keinen
Anspruch auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis verschaffen können. Einer
Erteilung nach § 5 Nr. 8 AAV stehe der zwingende Versagungsgrund des § 8 Abs. 1 Nr. 1
AuslG entgegen.
Mit dem der Beschwerdeführerin am 19. Juni 1998 zugestellten Urteil vom 20. Mai 1998
wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Es ließ offen, ob der Beschwerdeführerin im
Hinblick auf deren zwischenzeitlich rechtmäßigen Aufenthalt noch der Negativtatbestand
des § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG entgegen gehalten werden könne. Die Versagung der
Aufenthaltserlaubnis sei rechtmäßig, weil deren Erteilung nach den allein in Betracht
kommenden Vorschriften des § 10 AuslG i. V. m. § 5 Nr. 8 AAV im Ermessen stehe und
dieses Ermessen fehlerfrei ausgeübt worden sei. Nach der im Zeitpunkt des
Widerspruchsbescheides vom 19. Januar 1996 maßgeblichen allgemeinen Weisungslage
seien Anträge bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge auf Erteilung einer
Aufenthaltsgenehmigung abzulehnen gewesen. Auch wenn diese Ermessenspraxis in
den angefochtenen Bescheiden nicht erwähnt worden sei, müsse sie bei der Auslegung
dieser Bescheide „ähnlich einem in den Akten befindlichen Vermerk“ herangezogen
werden. Nachdem die Beschwerdeführerin am 17. Juli 1998 die Zulassung der Berufung
gegen das Urteil beantragt hatte, hob das Landeseinwohneramt die angegriffenen
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gegen das Urteil beantragt hatte, hob das Landeseinwohneramt die angegriffenen
Bescheide mit Schriftsatz vom 4. März 1999 auf und kündigte eine neue Entscheidung
über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an. Mit Schriftsatz vom 16.
März 1999 erklärte die Beschwerdeführerin den Rechtsstreit insoweit für erledigt, als die
Aufhebung der Bescheide begehrt worden sei. Das Oberverwaltungsgericht Berlin wies
mit dem am 2. Juli 1999 zugegangenen Beschluss vom 10. Juni 1999 den auf § 124 Abs.
2 Nr. 1 VwGO gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung zurück und führte aus:
Gegen die Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestünden keine ernstlichen Zweifel. Das
Verwaltungsgericht habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wie
auch einen Anspruch auf Neubescheidung zutreffend verneint, weil nach der
maßgeblichen ausländerrechtlichen Praxis seit der Unterzeichnung des Dayton-
Abkommens bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen keine Aufenthaltserlaubnis zur
Arbeitsaufnahme mehr erteilt worden sei.
Mit der am 2. September 1999 erhobenen Verfassungsbeschwerde begehrt die
Beschwerdeführerin die Aufhebung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen. Sie
rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 7, Art. 10 Abs. 1 und 2 sowie aus Art. 15
Abs. 4 VvB.
Das Landeseinwohneramt sowie die Senatsverwaltungen für Inneres und für Justiz haben
gemäß § 53 VerfGH Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil ihr der in § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG
zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität dieses außerordentlichen
Rechtsbehelfs entgegen steht. Danach muss ein Beschwerdeführer vor der Erhebung
einer Verfassungsbeschwerde nicht nur dem Gebot der Rechtswegerschöpfung
nachkommen, sondern auch sonstige Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der
geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung
zu verhindern (Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 16. Dezember 1993 -
VerfGH 104/93 - LVerfGE 1, 199, 201). Eine Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, wenn
der Beschwerdeführer eine nach Lage der Sache bestehende Möglichkeit, die
behauptete Grundrechtsverletzung ohne Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen
Rechtsschutzes zu beseitigen, nicht genutzt hat. Insoweit hat die Beschwerdeführerin,
die nach der Aufhebung der Bescheide vom 24. November 1994 und 29. Januar 1996 nur
noch insoweit durch die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen betroffen sein dürfte,
als festgestellt wird, dass sie keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
hatte, die Möglichkeit, vorab erneut den Rechtsweg zu beschreiten.
Einer unter Hinweis auf die Aufhebung der angeführten Bescheide sowie der damit
verbundenen Ankündigung des Landeseinwohneramts, erneut über den Antrag auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entscheiden zu wollen, erhobenen Untätigkeitsklage
könnte nicht die Rechtskraft des im hiesigen Verfassungsbeschwerdeverfahren
angegriffenen Urteils entgegen gehalten werden. Dieser Einwand könnte allenfalls
erhoben werden (vgl. Rennert, Die maßgebliche Perspektive bei der Zulassung von
Berufung und Beschwerde im Verwaltungsprozess, NVwZ 1998, 665, 672; Bader, in:
Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/v. Albedyll, VwGO, 1999, § 124 Rdnr. 34), wenn das
Oberverwaltungsgericht im Verfahren über die Zulassung der Berufung entsprechend
einer in der Kommentarliteratur vertretenen Auffassung (Seibert, in: Sodan/ Ziekow,
VwGO, Stand: Juli 2000, § 124 Rdnr. 142; Meyer-Ladewig, in: Schoch/ Schmidt-
Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Januar 2000, § 124 Rdnr. 26 l, 26 n) sämtliche bis zur
Entscheidung über einen auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Zulassungsantrag
eintretenden Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu berücksichtigen hätte. In der
maßgeblichen Rechtsprechung der Obergerichte hat diese Auffassung jedoch bisher
keinen Anklang gefunden. Danach ist eine nachträgliche Änderung der Sach- oder
Rechtslage im Zulassungsverfahren entweder gar nicht (OVG Münster, Beschluss vom 9.
Juni 1997 - 15 E 444/97 -, DVBl 1997, 1337, 1338; VGH Mannheim, Beschlüsse vom 15.
Juli 1997 - 1 S 1640/97 -, NVwZ 1998, 199, 200 und vom 16. Februar 1998 - 11 S
3158/97 -, NVwZ 1998, 758; OVG Berlin, Beschluss vom 1. April 1998 - 2 SN 10/98 -,
NVwZ 1998, 1093, 1094) oder nur von Bedeutung, wenn sie bis zum Ablauf der einen
Monat betragenden Frist zur Stellung des Zulassungsantrags (§ 124 a Abs. 1 Satz 1
VwGO) eingetreten ist (OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. November 1998 - 9 L 5136/97-,
DVBl 1999, 476, 477; OVG Hamburg, Beschluss vom 17. Februar 1998 - Bs VI 105/97 -,
NVwZ 1998, 863, 864; OVG Koblenz, Beschlüsse vom 15. September 1997 - 6 A
12008/97 -, DÖV 1998, 126, 127 und vom 16. Februar 1998 - 2 A 11966/97 -, NVwZ
1998, 1094, 1095; vgl. ferner VGH Kassel, Beschluss vom 30. Januar 1998 - 14 TZ
2416/97 - , NVwZ 1998, 755, 756, OVG Münster, Beschluss vom 12. Januar 1998 - 10 A
4078/97 -, NVwZ 1998, 754). Die nach Ablauf der Frist des § 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO
eingetretene Änderung der Sachlage wäre daher in einem neuen
Verwaltungsstreitverfahren zu Gunsten der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen.
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Trotz der von ihr angeführten „zeitlichen Besonderheiten“ des Falles - die vom
Landeseinwohneramt angekündigte erneute Bescheidung ihres vor fast sieben Jahren
gestellten Antrags steht seit nahezu zwei Jahren aus, ohne dass hierfür Gründe
ersichtlich sind - kann der Beschwerdeführerin auch zugemutet werden, zunächst
weiteren fachgerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Die Beschreitung
des Rechtswegs ist nicht deshalb aussichtslos, weil wegen einer gefestigten jüngeren
und einheitlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung oder wegen einer eindeutigen
gesetzlichen Regelung kein anderes Ergebnis zu erwarten wäre. Die in den angegriffenen
verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen offen gelassene Frage nach der Anwendbarkeit
des § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG in Fällen, in denen einem Ausländer nach seiner Einreise eine
- inzwischen abgelaufene - Aufenthaltsbefugnis erteilt wurde, ist bislang höchstrichterlich
nicht entschieden worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 33 und 34 VerfGHG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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