Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: verfassungsbeschwerde, erlass, fluchtgefahr, mittäter, urkundenfälschung, untersuchungshaft, privatsphäre, einfluss, telekommunikation, abrede

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
115 A/10, 115/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 Verf BE, Art 7 Verf BE, §
31 Abs 1 VGHG BE, § 119 Abs 1
S 2 Nr 1 StPO, § 119 Abs 1 S 2
Nr 2 StPO
VerfGH Berlin: Ablehnung eines eA-Antrags eines
Untersuchungsgefangenen, mit dem Ziel,
Überwachungsmaßnahmen nach § 119 Abs 1 S 2 Nr 1 und Nr 2
StPO einzustellen - Folgenabwägung ergibt kein deutliches
Übergewicht zugunsten des Grundrechts auf Schutz der
Privatsphäre (Art 7 Verf BE iVm Art 6 Verf BE)
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der inhaftierte Antragsteller beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung eine auf
der Grundlage von § 119 Abs. 1 StPO angeordnete Überwachung seiner Besuche und
Telekommunikation sowie seines Schrift- und Paketverkehrs auszusetzen.
Der Antragsteller, ein slowenischer Staatsangehöriger, wurde im August 2009
festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Ihm wurde unter
anderem vorgeworfen, zusammen mit anderen Beschuldigten nach Gründung einer
Makleragentur für Versicherungen und Abschluss von Courtagevereinbarungen mit
Versicherungsgesellschaften Kapitalanlagevermittlungsverträge fingiert zu haben, um
betrügerisch Provisionen zu erhalten.
Am 25. März 2010 verurteilte das Landgericht Berlin den Antragsteller wegen Betrugs in
316 Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, wegen
Urkundenfälschung in zwei Fällen und wegen versuchten Betrugs in 71 Fällen, davon in
zwei Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf
Jahren. Gegen das Urteil legte der Antragsteller Revision ein, über die bislang nicht
entschieden ist.
Am 23. Dezember 2009 hatte der Vorsitzende der zuständigen Großen Strafkammer
des Landgerichts mit Wirkung zum 1. Januar 2010 unter anderem angeordnet, dass die
Besuche, die Telekommunikation sowie der Schrift- und Paketverkehr des Antragstellers
zu überwachen seien. Hierzu nahm er auf die ergangenen Haftbefehle Bezug und stellte
fest, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe. Die angeordneten Beschränkungen
seien auch unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung und der schutzwürdigen
Interessen des Antragstellers zur Abwehr des Haftgrundes bzw. der Haftgründe
erforderlich und zumutbar. Sie entsprächen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Insbesondere der Umstand, dass der Antragsteller nach den bisherigen Ermittlungen
konspirativ und arbeitsteilig unter Verwendung von Alias-Personalien vorgegangen sei
und eine hohe Strafe zu erwarten habe, mache die Anordnungen erforderlich. Es
bestehe die konkrete Gefahr, dass der Antragsteller auf Beteiligte und Zeugen Einfluss
nehme und flüchtige Mittäter warne.
Gegen diese Anordnung legte der Antragsteller am 20. April 2010 Beschwerde mit der
Begründung ein, nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens sei es nicht mehr
notwendig, seine Kontakte zu überwachen. Der Vorsitzende der zuständigen Großen
Strafkammer half der Beschwerde nicht ab und führte dazu an: Ein unkontrollierter
Besuchs-, Telekommunikations-, Schrift- und Paketverkehr berge die Gefahr von
Absprachen zur Aufklärungsvereitelung und zur Fluchtvorbereitung. Das Verfahren
gegen weitere Mittäter sei nach wie vor offen, so dass die Gefahr unlauterer Absprachen
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gegen weitere Mittäter sei nach wie vor offen, so dass die Gefahr unlauterer Absprachen
bestehe. Da der Verbleib des erschlichenen Geldes im Wesentlichen ungeklärt sei, sei
zudem zu besorgen, dass dieses bei einem unkontrollierten Verkehr zur Durchführung
unlauterer Machenschaften eingesetzt werde.
Mit Schreiben vom 14. Mai 2010 wandte der Antragsteller ein, die angefochtene
Überwachungsanordnung sei unverhältnismäßig. Es lägen keine tatsächlichen
Anhaltspunkte dafür vor, dass er Telefonate oder den Schrift- und Paketverkehr
missbrauchen könnte, um seine Flucht zu planen. Solche Anhaltspunkte und eine
eingehende Prüfung wären aber erforderlich, um die Überwachung anordnen zu können.
Eine abstrakte Gefahr allein reiche nicht aus.
Mit Beschluss vom 18. Mai 2010, dem Antragsteller am 24. Mai 2010 zugegangen,
verwarf das Kammergericht die Beschwerde. Die angefochtene Überwachung des
Verkehrs mit der Außenwelt sei nicht zu beanstanden. Es bestehe weiterhin
Fluchtgefahr, wie der Senat in seinem Beschluss vom 15. April 2010 zur Fortdauer der
Untersuchungshaft ausgeführt habe und auf dessen Gründe insoweit Bezug genommen
werde. Danach sei zu besorgen, dass der Antragsteller anlässlich von nicht überwachten
fernmündlichen Kontakten oder Besuchen Fluchtvorbereitungen treffe. Auch der
unkontrollierte Schrift- und Paketverkehr berge diese Gefahr. Der Fluchtgefahr könne nur
durch die angeordnete inhaltliche Überwachung der Außenkontakte des Antragstellers
wirkungsvoll begegnet werden. Mildere Maßnahmen seien nicht ersichtlich.
Mit seiner am 23. Juli 2010 erhobenen Verfassungsbeschwerde, über die noch nicht
entschieden ist, wendet sich der Antragsteller gegen die Anordnung des Landgerichts
vom 23. Dezember 2009 und den Beschluss des Kammergerichts vom 18. Mai 2010. Er
rügt eine Verletzung seines persönlichen Lebensbereichs als Untersuchungsgefangener
und näher bezeichneter Rechte aus der Verfassung von Berlin. Die vom Kammergericht
angenommene Fluchtgefahr sei Grund für seine Unterbringung in der
Untersuchungshaft, könne aber nicht Grund für die Überwachungsanordnung sein.
Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass er nicht überwachte Besuche oder Kontakte
missbrauchen könnte, um seine Flucht aus der Haft zu planen, lägen nicht vor.
Zugleich beantragt er, die Überwachung im Wege der einstweiligen Anordnung
auszusetzen. Die Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich begründet. Die
Folgenabwägung falle zu seinen Gunsten aus. Durch die angegriffenen Entscheidungen
werde fortlaufend und in nicht wiedergutzumachender Weise in seinen persönlichsten
Lebensbereich eingegriffen. Er bekomme regelmäßig Besuch von seiner Mutter und
seiner Verlobten. Die Gefahr einer Flucht aus der Justizvollzugsanstalt existiere praktisch
nicht. Die Anordnung sei daher zur Abwendung schwerer Nachteile erforderlich.
Der Beteiligten ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden.
II.
Der Eilantrag ist zurückzuweisen, da die Voraussetzungen für den Erlass einer
einstweiligen Anordnung nicht vorliegen.
1. Nach § 31 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - kann
der Verfassungsgerichtshof einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt
oder aus einem anderen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der
meist weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem
verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des §
31 Abs. 1 VerfGHG ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei müssen die Gründe, welche
für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen,
grundsätzlich außer Betracht bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte
Feststellung erweist sich von vorneherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet.
In anderen Fällen sind die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht
erginge, die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg hätte, gegen diejenigen
abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde,
der Verfassungsbeschwerde später aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. Beschluss
vom 23. Juni 2010 - VerfGH 99 A/10 - wie alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des
Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, Rn.
10, m. w. N.; st. Rspr.). Eine einstweilige Anordnung kann dabei nur ergehen, wenn die
Abwägung der Folgen ein deutliches Übergewicht der Gründe ergibt, die für den Erlass
der Anordnung sprechen (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 30. Juli 2009 - 2
BvR 1422/09 -, juris Rn. 2). So verhält es sich hier nicht.
2. a) Die Verfassungsbeschwerde des Antragstellers ist zwar nicht von vornherein
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2. a) Die Verfassungsbeschwerde des Antragstellers ist zwar nicht von vornherein
unzulässig oder offensichtlich unbegründet, aber auch nicht offensichtlich begründet.
Der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist - jedenfalls soweit die
Verfassungsbeschwerde sich gegen den Beschluss des Kammergerichts vom 18. Mai
2010 richtet - offen. Insbesondere muss einer Prüfung im Hauptsacheverfahren
vorbehalten bleiben, ob die Annahme des Kammergerichts, die Voraussetzungen des §
119 Abs. 1 der Strafprozessordnung in der seit dem 1. Januar 2010 geltenden Fassung
(s. Art. 1 Nr. 5 und Art. 8 des Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom
29. Juli 2009, BGBl. S. 2274 ff., <2275 f.> und <2279>) lägen im Fall des Antragstellers
vor, diesen in seinen durch die Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechten verletzt.
b) Die wegen des offenen Ausgangs des Verfassungsbeschwerdeverfahrens notwendige
Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung. Die Gründe, die für deren Erlass sprechen, haben gegenüber den
Nachteilen, die eintreten, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, kein deutliches
Übergewicht.
aa) Erginge die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später
jedoch als unbegründet, würde die Überwachung des Antragstellers eingestellt, obwohl -
die bei Verfassungsmäßigkeit der Überwachung zu unterstellende - Gefahr bestünde,
dass der Antragsteller nicht überwachte Außenkontakte zu Fluchtvorbereitungen nutzt.
Auch könnte sich die vom Landgericht festgestellte und vom Kammergericht nicht
ausdrücklich in Abrede gestellte Gefahr realisieren, dass er nicht überwachte
Außenkontakte missbraucht, um Einfluss auf Beteiligte und Zeugen zu nehmen und
flüchtige Mittäter zu warnen. Dies wäre ein schwerer und weitgehend nicht rückgängig zu
machender Nachteil für das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung und an der
Realisierung des staatlichen Strafanspruchs.
bb) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde
später jedoch als begründet, wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht auf Schutz der
Privatsphäre (Art. 7 i. V. m. Art. 6 der Verfassung von Berlin - VvB -) verletzt. Auch dieser
Nachteil wäre nicht rückgängig zu machen. Er wiegt aber jedenfalls nicht schwerer als
der für das öffentliche Interesse entstehende erhebliche Nachteil.
III.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
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