Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: freiheit der person, untersuchungshaft, recht auf ehe, verfassungsbeschwerde, vorzeitige entlassung, rechtskräftiges urteil, hehlerei, brandstiftung, vollzug, haftbefehl

1
2
3
4
Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
23/03, 23 A/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 7 Verf BE, Art 8 Abs 1 Verf
BE, Art 12 Abs 1 Verf BE, Art 12
Abs 3 Verf BE, § 112 StPO
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Das Verfahren über den Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird eingestellt.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer war als Justitiar beim Wirtschaftsrat der DDR
tätig und wurde nach der Wiedervereinigung als Anwalt in Berlin zugelassen. Er hat ein
minderjähriges Kind aus einer bestehenden Ehe sowie sechs weitere Kinder – darunter
ein weiteres minderjähriges – aus einer geschiedenen Ehe und mehreren anderen
Verbindungen.
Seit dem 20. September 2000 befindet er sich in Untersuchungshaft in der
Justizvollzugsanstalt Moabit, zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Doberan
vom 19. September 2000 – 12 Gs 83/00 –, danach aufgrund Haftbefehls des
Amtsgerichts Tiergarten vom 5. Oktober 2000 – 352 Gs 5093/00 –, welcher durch den
Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. November 2000 – 352 Gs 5663/00 –
ersetzt wurde. Die Haftbefehle ergingen wegen des Vorwurfs, gewerbsmäßig gestohlene
Sachen angekauft oder sich sonst verschafft und sie in Bereicherungsabsicht abgesetzt
oder absetzen geholfen zu haben, zugleich zur Täuschung im Rechtsverkehr eine
unechte Urkunde hergestellt und gebraucht zu haben sowie ein der Wohnung von
Menschen dienendes Gebäude in Brand gesetzt und zugleich eine Explosion
herbeigeführt und dadurch fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet zu haben,
sowie durch Vortäuschen eines Versicherungsfalls einen Betrugsversuch unternommen
und schließlich ohne erforderliche Erlaubnis die tatsächliche Gewalt über eine
halbautomatische Selbstladewaffe von nicht mehr als 60 cm ausgeübt zu haben. Es
bestehe wegen der zu erwartenden erheblichen Freiheitsstrafe Fluchtgefahr und wegen
der Begleitumstände der Tathandlungen, Verschleierungsversuchen und
Drittbeteiligungen auch Verdunkelungsgefahr.
Nachdem das Verfahren wegen des Vorwurfs des unerlaubten Waffenbesitzes durch
Beschluß vom 14. Januar 2002 abgetrennt worden war, verurteilte das Landgericht Berlin
den Beschwerdeführer am 8. Februar 2002 nach 43 Verhandlungstagen wegen
besonders schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit der Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion sowie wegen versuchten Betruges und Hehlerei zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sieben Monaten gemäß § 306 b Abs. 1 Nr. 2,
§ 306 a Abs. 1 Nr. 3, § 308 Abs. 1, § 263 Abs. 1 und 3 Satz 2 Nr. 5, § 259 Abs. 1, § 25
Abs. 2, § 52, § 53 StGB. Bei der Strafzumessung sah das Gericht u. a. als erschwerend
an, daß der Beschwerdeführer gegen den Vertreter der Staatsanwaltschaft und das Land
Berlin Schadensersatzklage mit der wahrheitswidrigen Behauptung erhoben habe,
infolge seiner unberechtigten Inhaftierung einen Schaden von mehreren hunderttausend
Mark erlitten zu haben. Gegen das Urteil des Landgerichts legte der Beschwerdeführer
Revision ein.
Am 15. Februar 2002 wurde gegen den Beschwerdeführer in anderer Sache Anklage
wegen Urkundenfälschung und Untreue erhoben, diese am 11. Oktober 2002 unter
Eröffnung des Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen und mit dem bereits
anhängigen Verfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes verbunden. Am 20. Dezember
2002 wurde ein Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. April 2001 in dieser
5
6
7
8
9
10
11
12
13
2002 wurde ein Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. April 2001 in dieser
Sache aufgehoben, da er dem Gericht nach Zeitablauf als unverhältnismäßig erschien.
Mit Beschluß vom 31. Oktober 2002 hat der Verfassungsgerichtshof eine frühere
Verfassungsbeschwerde vom 19. September 2002 gegen einen Haftfortdauerbeschluß
des Landgerichts Berlin vom 10. Juli 2002 und gegen den diesen bestätigenden Beschluß
des Kammergerichts vom 6. September 2002 zurückgewiesen. Die Annahme eines
dringenden Tatverdachts und die Annahme des Vorliegens eines Haftgrundes in den
vorgenannten Entscheidungen sei weder als willkürlich noch als unvertretbar anzusehen
und verletze auch nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Recht eines
Beschuldigten auf Freiheit der Person, auf Leben in ehelicher und familiärer
Gemeinschaft und auf elterliche Erziehung müsse im Einzelfall zurückstehen gegenüber
den Bedürfnissen einer wirksamen Strafrechtspflege, die als Teil des
Rechtsstaatsprinzips ihrerseits Verfassungsrang einnehme.
Mit Schreiben vom 18. November 2002 beantragte der Generalbundesanwalt beim
Bundesgerichtshof auf die Revision des Beschwerdeführers, das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 8. Februar 2002 im Schuldspruch dahingehend abzuändern, daß der
Beschwerdeführer (nur noch) der Brandstiftung in Tateinheit mit Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion und wegen versuchten Betruges und Hehlerei schuldig sei, im
Strafausspruch die wegen der Brandstiftungstat verhängte Einzelstrafe sowie die
Gesamtfreiheitsstrafe aufzuheben und die weitergehende Revision des
Beschwerdeführers als unbegründet zu verwerfen. Die Verurteilung wegen besonders
schwerer Brandstiftung (§§ 306 b Abs. 2 Nr. 2, 306 a Abs. 1 Nr. 3 StGB) könne keinen
Bestand haben. Das im Zeitpunkt der Brandlegung nicht bewohnte und auch nicht als
Pension genutzte Haus sei nicht als Räumlichkeit anzusehen, die dem zeitweisen
Aufenthalt von Menschen diene. Die durch das Landgericht festgestellten Tatsachen und
Umstände rechtfertigten jedoch eine Verurteilung wegen Brandstiftung gemäß § 306
Abs. 1 Nr. 1 StGB.
Am 23. Dezember 2002 beschloß das Landgericht Berlin nach einer mündlichen
Verhandlung über den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 9. November 2000,
den Angeklagten vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft unter nachstehenden
Auflagen zu verschonen:
1. der Angeklagte hat sich dreimal wöchentlich bei der für seinen Wohnsitz zuständigen
Polizeidienststelle zu melden,
2. er hat auf eigenen Namen eine Kaution von 10.000 € zu leisten,
3. er hat jeglichen Kontakt – auch über Dritte – zu den Zeugen K. und P. zu unterlassen,
4. er hat seinen Personalausweis und seinen Paß bei Gericht zu hinterlegen.
Der Beschwerdeführer befinde sich bereits über zwei Jahre in Untersuchungshaft. Zwar
habe er über seine Ehefrau Beziehungen ins Ausland, diese sei jedoch nunmehr in der
Bundesrepublik berufstätig und plane offenbar nicht, in ihre Heimat zurückzukehren. Der
Beschwerdeführer erwarte für sich angesichts des Antrages der
Generalbundesanwaltschaft eine deutliche geringere Freiheitsstrafe, wodurch sich der
Fluchtanreiz für ihn stark vermindert habe. Bei dieser Sachlage erschienen die
genannten Auflagen ausreichend, um die Durchführung des Strafverfahrens gegen den
Beschwerdeführer sicherzustellen.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft, die gegen den Haftverschonungsbeschluß
Beschwerde einlegte, wurde dessen Vollziehung vom Landgericht ausgesetzt. Das
Kammergericht hob den Haftverschonungsbeschluß des Landgerichts durch Beschluß
vom 27. Januar 2003 auf und setzte den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 9.
November 2000 mit der Maßgabe wieder in Vollzug, daß der Angeklagte unter dem
dringenden Tatverdacht der Brandstiftung in Tateinheit mit Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion sowie des versuchten Betruges und der Hehlerei stehe, der
Haftgrund der Verdunkelungsgefahr aber entfalle. Der grundsätzliche Sicherungszweck
der Untersuchungshaft gebiete hier den weiteren Vollzug des Haftbefehls. Der dringende
Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer ergebe sich aus dem gegen ihn ergangenen
Urteil des Landgerichts, wenn auch nach dem Revisionsantrag des
Generalbundesanwalts das festgestellte Geschehen nicht die besonders schwere
Ausformung der Tat erfülle. Der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe weiter. Zwar werde
es, falls der Bundesgerichtshof dem Antrag des Generalbundesanwalts folge, zu deutlich
milderen Strafaussprüchen kommen als zuvor. Die Straferwartung werde aber immer
noch so hoch sein, daß sie dem Beschwerdeführer einen erheblichen Anreiz biete, sich
dem Verfahren zu entziehen. Es erscheine dem Senat nicht unrealistisch, mit einer
14
15
16
17
18
19
dem Verfahren zu entziehen. Es erscheine dem Senat nicht unrealistisch, mit einer
Gesamtfreiheitsstrafe in der Größenordnung von fünf Jahren auch im Falle einer
Neufestsetzung zu rechnen. Bei den Einzelfreiheitsstrafen für den versuchten Betrug
und die Hehlerei solle es auch nach dem Antrag der Bundesanwaltschaft bleiben. Es
bleibe auch bei dem tateinheitlichen Zusammentreffen der Brandstiftungstat mit der
Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion, wobei die beträchtliche Höhe des
angerichteten Schadens besonders ins Gewicht falle. Der Beschwerdeführer könne nicht
mit einer Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB rechnen. Selbst eine
vorzeitige Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe (§ 57 Abs. 1 StGB)
stehe bei dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Lebensverhältnisse und seines
Persönlichkeitsbildes in Frage. Mit Rücksicht auf die danach noch hohe Straferwartung
und im Hinblick auf seine Verbindungen nach Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg,
bleibe der Fluchtanreiz immer noch groß. Die ihm gemachten Auflagen würden daher
nicht unbedingt ein wirksames Fluchthindernis bilden.
Durch Beschluß vom 12. Februar 2003 änderte der Bundesgerichtshof auf die Revision
des Beschwerdeführers das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. Februar 2002 im
Schuldspruch dahin, daß der Beschwerdeführer des Herbeiführens einer
Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit Brandstiftung, des versuchten Betruges und der
Hehlerei schuldig sei und hob es im Ausspruch über die Einzelfreiheitsstrafe von sieben
Jahren und sechs Monaten (Tat vom 4. September 2000) und im
Gesamtstrafenausspruch auf. Die weitergehende Revision wurde als unbegründet
verworfen. Im Umfang der Aufhebung wurde die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurückverwiesen.
Der Bundesgerichtshof folgte in seiner Begründung den Ausführungen in den
Antragsgründen des Generalbundesanwalts. Daran, daß das in Brand gesetzte Gebäude
für den Beschwerdeführer fremd war, bestehe kein Zweifel. Den Urteilsgründen sei zu
entnehmen, daß die Erbengemeinschaft, die das Grundstück an den Beschwerdeführer
und seine Lebensgefährtin verkauft hatte, noch Eigentümer gewesen sei. Das neue
Tatgericht habe die Einzelstrafzumessungen für den geänderten Schuldspruch und die
Gesamtstrafbestimmung allein auf der Grundlage der bisherigen Urteilsfeststellungen
vorzunehmen und könne hierfür allenfalls ergänzende, diesen nicht widersprechende
Feststellungen treffen.
Am 14. April 2003 ordnete die nunmehr befaßte Strafkammer des Landgerichts
Haftfortdauer an und berief sich zur Begründung auf den Kammergerichtsbeschluß vom
27. Januar 2003.
Schon vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat der Beschwerdeführer mit
Schriftsatz vom 3. Februar 2003 gegen den Beschluß des Kammergerichts vom 27.
Januar 2003 Verfassungsbeschwerde erhoben und beantragt, im Wege der einstweiligen
Anordnung den Haftverschonungsbeschluß des Landgerichts vom 23. Dezember 2002
„zu bestätigen“. Den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung hat er mit
Schriftsatz vom 24. Februar 2003 zurückgenommen. Zur Begründung seiner
Verfassungsbeschwerde führt er im wesentlichen aus:
Die Untersuchungshaft und der ihre Fortdauer anordnende Beschluß des
Kammergerichts verletzten ihn in seinen Grundrechten aus Art. 7, Art. 8 und Art. 12 der
Verfassung von Berlin. Die Ausführungen des Kammergerichts stützten sich auf
Tatsachen, die in den Urteilsfeststellungen des Landgerichts keine Grundlage hätten,
und seien daher in ihrer Würdigung willkürlich. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei
unverhältnismäßig und die damit einhergehende Behinderung der humanitären und der
Vereinstätigkeit des Beschwerdeführers seien dazu angetan, das friedliche
Zusammenleben der Völker und das soziale Verständnis der Verfassung zu
beeinträchtigen, was eine Verletzung von Art. 30 und von Art. 78 VvB darstelle.
Schließlich habe das Kammergericht sein Ermessen über die fehlerfreie Entscheidung
des Landgerichts gestellt und damit die richterliche Unabhängigkeit des Landgerichts
verletzt.
Daß der Beschluß des Kammergerichts willkürlich sei, ergebe sich daraus, daß er von
einem Sachschaden durch den Brand in Höhe von 330.000 DM ausgehe. Dem Urteil des
Landgerichts sei demgegenüber zu entnehmen, daß das Objekt ursprünglich einen
Sachwert von 381.000 DM darstellte und der Beschwerdeführer im Jahre 1997 durch
umfangreiche Anbauten, Umbauten und Sanierungsmaßnahmen einen Betrag von
450.000 DM investiert habe. Diese erheblichen Investitionen seien durch seine Tat
vernichtet worden. Der eigentliche Brandschaden habe nur etwa 100.000 DM betragen,
während der Brandfolgeschaden durch Löschwasser, ein zerstörtes Dach und
Vandalismus ein Vielfaches davon ausgemacht habe. Diese Folgeschäden seien nur
20
21
22
23
24
25
26
27
28
Vandalismus ein Vielfaches davon ausgemacht habe. Diese Folgeschäden seien nur
eingetreten weil dem Beschwerdeführer infolge seiner Inhaftierung die Sicherung des
Gebäudes unmöglich gemacht worden sei. Es sei willkürlich und zynisch, ihm jetzt diese
Schädigung seines eigenen Vermögens strafschärfend anzulasten.
Willkürlich falsch sei weiter die Annahme des Kammergerichts, er habe jemals Verdienst
aus einer Hehlerei gezogen, während das Urteil des Landgerichts festgestellt habe, daß
er den Betrag in Höhe von 3.500 DM als Teil seiner Gebührenansprüche aus einem
Strafverfahren, bei dem ein Honorar von 5.000 DM vereinbart worden war, angesehen
habe.
Willkürlich und beleidigend sei die Würdigung seiner Persönlichkeit durch das
Kammergericht angesichts der Vielseitigkeit seiner Berufsausbildung als Diplomjurist,
Außenhandelsökonom, Musiker, Maschinenbauer und Versicherungskaufmann bzw.
Wirtschaftsberater. Er sei Inhaber einer Aktiengesellschaft und Vorsitzender und
Geschäftsführer des Vereins zur Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen
Entwicklung in Kaliningrad, engagiere sich für die humanistischen Ideale des deutschen
Volkes, habe einem Waisenheim in Kaliningrad materielle Unterstützung gewährt und
sich in der Kinderhilfe für Gambia eingesetzt. Das Landgericht habe es als erwiesen
angesehen, daß er bei seiner anwaltlichen Tätigkeit nicht Gebührenfragen in den
Vordergrund gestellt habe. Deswegen komme für ihn sehr wohl eine
Halbstrafenaussetzung nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB in Betracht.
Willkürlich sei schließlich überhaupt die Annahme einer Fluchtgefahr. Es sei widersinnig
zu unterstellen, daß er sich ohne Geld, ohne Paß, ohne Visa, auf Krücken nach Russland
in ein ungewisses Elend flüchten und in Deutschland seine pflegebedürftigen Eltern,
seine sieben Kinder, seine Freunde und Musiker, eine gesicherte Versorgung, sein
Grundstück und die Zukunftschancen seiner Familie zurücklassen könnte, um sich einer
vielleicht noch einjährigen Freiheitsstrafe im offenen Vollzug zu entziehen.
Hieraus ergebe sich auch die Unverhältnismäßigkeit der Anordnung der Haftfortdauer. Er
habe inzwischen bald drei Jahre in Untersuchungshaft zugebracht. Die
Verdunkelungsgefahr sei entfallen. Er habe eine deutlich geringere Strafe zu erwarten,
als in dem Urteil des Landgerichts ausgesprochen worden sei. Mehr als die überhaupt
nur mögliche Halbstrafe habe er jetzt unter den belastenden Bedingungen der
Untersuchungshaft in einer 7 qm großen Zelle abgesessen. Er sei krank, leide täglich
unter Schmerzen, genieße nur beschränkt fachärztliche Betreuung und erwarte täglich
den psychischen Zusammenbruch. Gegen ihn werde ohne rechtskräftiges Urteil eine
brutale Strafe exekutiert, obgleich außer ihm selbst niemand durch seine Tat geschädigt
oder gefährdet worden sei. Die Entscheidung des Kammergerichts lasse jede Abwägung
zwischen seinen persönlichen Grundrechten und dem staatlichen Anspruch auf
Strafverfolgung vermissen.
Dies gelte insbesondere auch für sein Recht auf Ehe und Familie. Er habe den Wunsch
mit seinem 13-jährigen Sohn einige Ferientage zu verbringen. Sein 6-jähriger Sohn
bedürfe seiner Hilfe in der deutschen Sprache, sonst sei dessen Einschulung gefährdet.
Auch wolle er seine betagten und unter den Umständen seelisch besonders leidenden
Eltern – der Vater sei über 80 Jahre alt und erkrankt – wenigstens noch lebend wieder
sehen.
Insgesamt rechtfertige „der gegenüber einem unbescholtenen Bürger erhobene
Tatvorwurf der eigenen Sachbeschädigung“ keine Aussetzung der Grundrechte über
einen so langen Zeitraum.
II.
Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist teilweise unzulässig, im übrigen
unbegründet.
1. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde, soweit sie eine Verletzung von Art. 30 Abs.
1 und Art. 78 VvB rügt. Diese Vorschriften begründen keine subjektiven Rechte, sondern
enthalten nur ein objektiv-rechtliches Verbot friedenstörender Handlungen bzw.
Auslegungs- und Verhaltensregeln für die richterliche Tätigkeit. Auf sie kann eine
Verfassungsbeschwerde daher nicht gestützt werden (vgl. zu Art. 78 VvB bzw. zum
gleichlautenden Art. 62 VvB a. F. – VerfGH 68/94 – LVerfGE 2, 67 <70> sowie Driehaus
[Hrsg.], VvB, Taschenkommentar, 2002, Rdnr. 2 zu Art. 78 VvB).
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch, soweit sie die Verletzung des Rechts
der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 7 VvB) rügt. Art. 7 VvB enthält zwar ein
Individualrecht, ist jedoch wie Art. 2 Abs. 2 GG als Auffanggrundrecht ausgestaltet, so
29
30
31
32
33
34
35
Individualrecht, ist jedoch wie Art. 2 Abs. 2 GG als Auffanggrundrecht ausgestaltet, so
daß ein Verstoß gegen Art. 7 nur in Betracht kommt, wenn der beanstandete Akt der
öffentlichen Gewalt nicht in den Schutzbereich eines anderen, spezielleren Grundrechts
eingreift (Beschluß vom 13. August 1996 – VerfGH 29/96 – LVerfGE 5, 10 <12>). Was
der Beschwerdeführer rügt, betrifft die Grundrechte aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1
und Abs. 3 VvB. Bezüglich des Sachverhalts und des Vortrags verbleibt nichts, was in
den Bereich des Auffanggrundrechts fallen könnte.
Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. Der Zulässigkeit steht nicht
entgegen, daß nach der Zurückverweisung der Sache durch den Bundesgerichtshof an
eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin diese am 14. April 2003 eine
zeitnähere abschlägige Haftentscheidung erlassen hat, gegen welche dem
Beschwerdeführer die Beschwerde zum Kammergericht zugestanden hätte, ohne daß er
davon jedoch Gebrauch gemacht hat. Die Nichtausschöpfung des Rechtswegs gegen die
Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts vom 14. April 2003 berührt die Zulässigkeit
der Verfassungsbeschwerde gegen den vorausgegangenen Beschluß des
Kammergerichts zum gleichen Gegenstand nicht. Die Entscheidung des Landgerichts ist
nicht ein Rechtsmittel gegen den vorausgegangenen Kammergerichtsbeschluß.
2. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, erweist sie sich allerdings als
unbegründet. Der angegriffene Beschluß des Kammergerichts hält einer
verfassungsrechtlichen Überprüfung stand.
Der Beschwerdeführer verkennt in weiten Teilen seiner Beschwerdebegründung, daß es
nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs ist, Entscheidungen der Gerichte in jeder
Hinsicht auf die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen, der Auslegung
der Gesetze und ihre Anwendung auf den konkreten Fall zu kontrollieren. Die Gestaltung
des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die Auslegung des
einfachen Rechts und seine Anwendung auf den Einzelfall sind Sache der dafür allgemein
zuständigen Gerichte und insoweit der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof
entzogen (vgl. Beschluß vom 30. Juni 1992 – VerfGH 9/92 – LVerfGE 1, 7 <8>; st. Rspr.).
Das gilt auch für das Recht der Untersuchungshaft, hinsichtlich der Prüfung und
Feststellung der Voraussetzungen für den Erlaß oder die Fortdauer eines Haftbefehls.
Der Verfassungsgerichtshof, der kein Instanzgericht ist, hat nicht das Ermessen der
Fachgerichte durch eigenes Ermessen zu ersetzen. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren
ist nur zu prüfen, ob das Gericht in der Verfassung von Berlin enthaltene Rechte des
Beschwerdeführers verletzt hat. Ein solcher Verstoß ist nur gegeben, wenn das Gericht
durch verfahrensrechtliche Maßnahmen Verfassungsrechte eines Beteiligten
beeinträchtigt oder bei seiner Entscheidung willkürlich gehandelt oder bei der Auslegung
der Gesetze gegen Grundrechtssätze verstoßen oder grundrechtswidrige Gesetze
angewandt hat und die Entscheidung darauf beruht. Das ist hier nicht der Fall.
Das Kammergericht hat, ausgehend von dem grundsätzlichen Sicherungszweck der
Untersuchungshaft, den dringenden Tatverdacht aus der erstinstanzlichen Verurteilung
gefolgert und dabei den bei seiner Entscheidung bereits vorliegenden Antrag des
Generalbundesanwalts berücksichtigt. Es hat den Haftgrund der Fluchtgefahr als
fortdauernd angesehen.
Gegen diese Subsumtion bestehen verfassungsrechtlich keine durchgreifenden
Bedenken. Auch nach der inzwischen ergangenen Entscheidung des
Bundesgerichtshofs, die den Anträgen des Generalbundesanwalts folgt, bleibt es bei
einer erheblichen Straferwartung. Die Unschuldsvermutung des Beschwerdeführers ist
entfallen. In einem weiteren anhängigen Strafverfahren wegen mehrerer Tatvorwürfe
droht dem Beschwerdeführer eine zusätzliche Strafe. Die bestehenden familiären
Bindungen weisen jedenfalls teilweise ins Ausland. Das Kammergericht durfte schließlich
auch das Persönlichkeitsbild und das Nachtatverhalten des Beschwerdeführers nachteilig
berücksichtigen, der bezüglich der Schwere und des Unrechts seiner Tat wenig Einsicht
erkennen läßt und sich auch nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in seinen
Schriftsätzen als „unbescholtenen Bürger“, der niemanden verletzt oder gefährdet
habe, bezeichnet. Im Hinblick auf die angeführten Gesichtspunkte ist die Annahme eines
Fortbestandes des Haftgrundes in der angegriffenen Entscheidung des Kammergerichts
jedenfalls weder als willkürlich noch als unvertretbar anzusehen.
Es ist im Zusammenhang mit den gerügten Grundrechten der Art. 8 Abs. 1, Art. 12 Abs.
1 und 3 VvB auch keine Verletzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit gegeben. Zwar
stellen die Freiheit der Person, der Schutz von Ehe und Familie und das elterliche
Erziehungsrecht wertentscheidende Grundsatznormen dar, denen auch im Haftvollzug
Bedeutung zukommt (BVerfGE 42, 95 <101> zum gleichlautenden Art. 6 Abs. 1 GG; st.
Rspr.) und in die nur eingegriffen werden darf, wenn überwiegende Belange des
36
37
38
39
40
Rspr.) und in die nur eingegriffen werden darf, wenn überwiegende Belange des
Gemeinwohls dies zwingend gebieten (Bundesverfassungsgericht NJW 1980, 1149). Zu
den Belangen, gegenüber denen das Recht eines Beschuldigten auf Freiheit der Person,
auf Leben in ehelicher und familiärer Gemeinschaft und auf elterliche Erziehung unter
Umständen zurückstehen muß, gehören aber gerade die Bedürfnisse einer wirksamen
Strafrechtspflege (Beschluß vom 23. Dezember 1992 – VerfGH 38/92 – LVerfGE 1, 45
<53>), die als Teil des Rechtsstaatsprinzips ihrerseits Verfassungsrang einnehmen.
Vorliegend ist nichts dafür ersichtlich, daß das Kammergericht in seinem angegriffenen
Beschluß den dargestellten Abwägungsrahmen verkannt oder unsachgemäß ausgefüllt
hat.
Allerdings ist nicht zu übersehen, daß der Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers im
Vergleich zum letzten Beschluß des Verfassungsgerichtshofs vom 31. Oktober 2002 –
VerfGH 84/02, 84 A/02, 127/02, 127 A/02 – an Gewicht gewonnen hat. Denn nach der
Entscheidung des Bundesgerichtshofs steht fest, daß der Beschwerdeführer eine
deutlich geringere Freiheitsstrafe erwarten darf als vom Landgericht verhängt, so daß
sich der Fluchtanreiz für ihn vermindert. Auch hat er inzwischen bereits fast 2 ¾ Jahre in
Untersuchungshaft verbracht. Da sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber
dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender
Haftdauer verstärkt (st. Rspr.; Bundesverfassungsgericht NJW 1980, 1448 m. w. N.),
dürfte der Zeitpunkt, in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer weiteren
Fortsetzung der Untersuchungshaft und den damit zwangsläufig verbundenen Eingriffen
in die Grundrechte des Beschwerdeführers auf Freiheit, familiäres Zusammenleben und
elterliche Erziehung eine Grenze setzt, inzwischen nahe sein.
Nachdem der Beschwerdeführer den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung mit
Schreiben vom 24. Februar 2003 zurückgenommen hat, war das Verfahren insoweit
einzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Datenschutzerklärung Kontakt Impressum