Urteil des VerfGH Berlin vom 10.05.2004

VerfGH Berlin: anspruch auf rechtliches gehör, aufrechnung, verwirkung, verfassungsbeschwerde, erheblichkeit, rückzahlung, prozessbeteiligter, grundrecht, irrtum, link

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
155/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 103 Abs 1 GG, Art 15 Abs 1
Verf BE, § 139 Abs 1 ZPO, §
321a ZPO, § 556 Abs 3 S 3
BGB
VerfGH Berlin: Verletzung des rechtlichen Gehörs durch
ablehnende zivilgerichtliche Entscheidung über Bestehen eines
mietrechtlichen Heizkostennachforderungsanspruchs ohne
richterlichen Hinweis auf das mögliche Vorliegen eines
Ausschlussgrundes – Heilung eines Anhörungsfehlers nur durch
Wiedereintritt in den Prozess
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts Tempelhof-Kreuzberg vom 10. Mai 2004 sowie der
Beschluss vom 9. Juli 2004 – 13 C 23/04 – verletzen, soweit der Beschwerdeführer zur
Zahlung verurteilt worden ist, das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 15 Abs. 1
VvB. Die Entscheidungen werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird an das
Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg zurückverwiesen.
2. ...
3. ...
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen ein in einer
Mietrechtssache ergangenes Urteil sowie einen Beschluss des Amtsgerichts Tempelhof-
Kreuzberg.
Die Beteiligte zu 2. mietete von dem Beschwerdeführer in der Zeit vom 1. Januar 2000
bis zum 31. Juli 2003 eine Wohnung in Berlin-Mariendorf. Mit ihrer Anfang 2004
erhobenen Klage begehrte die Beteiligte zu 2. vom Beschwerdeführer die Rückzahlung
der von ihr geleisteten Mietkaution in Höhe von 1.302,26 € nebst Zinsen. Der
Beschwerdeführer zahlte daraufhin anteilig 755 € und erklärte hinsichtlich des
Restbetrages die Aufrechnung mit Heizkostennachforderungen für die Heizperioden vom
1. Januar bis 31. Mai 2000 (149,36 €), 1. Juni 2000 bis 31. Mai 2001 (278,27 €) sowie 1.
Juni 2001 bis 31. Mai 2002 (227,97 €). Die Beteiligte zu 2. wendete hiergegen ein,
mietvertraglich sei eine Heizkostenpauschale und kein Heizkostenvorschuss vereinbart
gewesen.
Nachdem die Parteien den Rechtsstreit hinsichtlich des von dem Beschwerdeführer
gezahlten Teilbetrages in der mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2004 für erledigt
erklärt hatten, verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer mit Urteil vom selben
Tag zur Zahlung weiterer 418,69 € nebst Zinsen und wies die Klage im Übrigen, soweit
nicht Hauptsachenerledigung eingetreten war, ab. Zur Begründung führte das Gericht
aus, der Beteiligten zu 2. stehe in dem zuerkannten Umfang ein Anspruch auf
Rückerstattung der in Höhe von 645,66 € noch einbehaltenen Mietsicherheit zu. Insoweit
sei der Anspruch nicht durch Aufrechnung des Beschwerdeführers erloschen, da dessen
Nachforderungen aus den Heizkostenabrechnungen vom 8. Mai 2003 für die
Heizperioden vom 1. Januar 2000 bis zum 31. Mai 2000 sowie vom 1. Juni 2000 bis zum
31. Mai 2001 gemäß § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB wegen Zeitablaufs ausgeschlossen
gewesen seien. Die Ausschlussfrist betrage ein Jahr und beginne jeweils mit Ende des
Abrechnungszeitraums. Im Übrigen sei die Klage der Beteiligten zu 2. auf Rückzahlung
der Mietsicherheit unbegründet, weil der Anspruch durch die von dem Beschwerdeführer
erklärte Aufrechnung erloschen sei. Gegen die Nachforderung aus der
Heizkostenabrechnung vom 8. Mai 2003 für die Abrechnungsperiode vom 1. Juni 2001
bis zum 31. Mai 2002 sei sachlich und rechnerisch nichts zu erinnern; die vertraglichen
Regelungen seien, was die Vereinbarung einer Bruttokaltmiete und die Zahlung eines
Heizkostenvorschusses anbelange, eindeutig.
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Mit Schriftsatz vom 8. Juni 2004 rügte der Beschwerdeführer im Verfahren nach § 321 a
ZPO die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Amtsgericht. Das Gericht habe im
Urteil die Aufrechnung des Beschwerdeführers mit Heizkostennachforderungen für die
Heizperioden bis zum 31. Mai 2001 gemäß § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB wegen Zeitablaufs
als ausgeschlossen angesehen, ohne zuvor gemäß § 139 Abs. 1 und 2 ZPO einen
entsprechenden Hinweis auf das mögliche Vorliegen dieses Ausschlussgrundes gegeben
zu haben. Der Beschwerdeführer hätte, wenn ihm vor der Entscheidung Gelegenheit zur
Äußerung hierzu, gegebenenfalls auch nach Einräumung einer Erklärungsfrist, gewährt
worden wäre, vorgetragen, dass § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB wegen Art. 229 § 3 Abs. 9
EGBGB auf Heizkostenabrechnungszeiträume vor dem 1. September 2001 nicht
anzuwenden sei. Die Aufrechnung mit den betroffenen Nachzahlungsbeträgen wäre
dann wirksam gewesen.
Mit Beschluss vom 9. Juli 2004 wies das Amtsgericht die Anhörungsrüge des
Beschwerdeführers zurück. Sie sei nach § 321 a ZPO zulässig, in der Sache jedoch
mangels Entscheidungserheblichkeit nicht begründet. Denn soweit die
Abrechnungszeiträume bis zum 31. Mai 2001 von der Vorschrift des § 556 Abs. 3 Satz 3
BGB ausgenommen seien, greife der von Amts wegen zu beachtende Grundsatz der
Verwirkung (§ 242 BGB) durch. Die Beteiligte zu 2. habe nach dem Ablauf von mehr als
zwei Jahren nicht damit rechnen müssen, dass der Beschwerdeführer insoweit noch
Heizkosten abrechnen und nachfordern werde, zumal sie der Auffassung gewesen sei,
eine Bruttowarmmiete zu schulden. Demgemäß habe sie sich nach ihrem
unwidersprochenen Vorbringen eingerichtet.
Die von dem Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss erneut erhobene Rüge der
Verletzung des rechtlichen Gehörs verwarf das Amtsgericht durch Beschluss vom 7.
Oktober 2004 unter Hinweis auf § 321 a Abs. 4 Satz 4 ZPO als unzulässig.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines
Grundrechts aus Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB - durch das Amtsgericht.
Zur Begründung wiederholt und vertieft er seinen Vortrag aus der Anhörungsrüge und
führt ergänzend an, das Amtsgericht habe durch seinen Beschluss vom 9. Juli 2004
erneut das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt, indem es nunmehr auf eine
Verwirkung des Nachforderungsanspruchs abstelle, ohne dass auch dieser
Gesichtspunkt zuvor im Verfahren thematisiert worden sei. Ihm sei deshalb
entsprechender Vortrag verwehrt worden, etwa der Hinweis auf ein Schreiben vom April
2003, mit dem er die Beteiligte zu 2. auf die Heizkostenabrechnung hingewiesen habe.
Die Beteiligten haben gemäß § 53 VerfGHG Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
Das Urteil des Amtsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf
rechtliches Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet jedem an einem gerichtlichen
Verfahren Beteiligten grundsätzlich das Recht, sich vor einer gerichtlichen Entscheidung
nicht nur zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu
äußern (vgl. BVerfGE 86, 133 (144) zum inhaltsgleichen Art. 103 Abs.1 GG). Daraus
ergibt sich zwar noch keine generelle Pflicht des Gerichts, schon vor der Entscheidung
seine Rechtsauffassung mitzuteilen, und auch keine allgemeine Frage- und
Aufklärungspflicht des Richters, wie sie das einfache Recht etwa in § 139 ZPO normiert.
Gleichwohl kann es in besonderen Fällen auch verfassungsrechtlich geboten sein, einen
Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der
Entscheidung zugrunde legen will. Es kommt nämlich im Ergebnis der Verhinderung
eines Vortrags zur Sach- oder Rechtslage gleich, wenn ein Gericht ohne vorherigen
Hinweis auf rechtliche Gesichtspunkte abstellt, mit denen auch ein gewissenhafter und
kundiger Prozessbeteiligter - selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer
Rechtsauffassungen - nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte
(vgl. Beschluss vom 24. Juni 1999 - VerfGH 48/98 - LVerfGE 10, 72 (78) m. w. N.; BVerfGE
84, 188 (190)).
Bei Anlegung dieses Maßstabs war das Amtsgericht durch Art. 15 Abs. 1 VvB
verpflichtet, dem Beschwerdeführer vor seiner Entscheidung zu erkennen zu geben,
dass es die von diesem erklärte Aufrechnung wegen Vorliegens des Ausschlussgrundes
des § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB teilweise für wirkungslos hielt, und ihm damit Gelegenheit
zu geben, sich auch insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen. Dieser vom Amtsgericht
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zu geben, sich auch insoweit rechtliches Gehör zu verschaffen. Dieser vom Amtsgericht
für erheblich erachtete rechtliche Gesichtspunkt hatte bis dahin im Verfahren keine Rolle
gespielt, insbesondere hatte sich die Beteiligte zu 2. nicht darauf berufen. Auch ein
gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter in der Situation des Beschwerdeführers
musste unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen ohne
entsprechenden Hinweis nicht damit rechnen, dass das Amtsgericht den
Ausschlussgrund des § 556 Abs. 3 Satz 3 BGB für einschlägig erachten könnte, denn
nach der insoweit eindeutigen Rechtslage war diese Ausschlussnorm wegen Art. 229 § 3
Abs. 9 EGBGB auf Heizkostenabrechnungszeiträume vor dem 1. September 2001 nicht
anzuwenden. Darauf durfte sich der Beschwerdeführer verlassen. Auch das Amtsgericht
hielt in seinem Beschluss vom 9. Juli 2004 nicht mehr an seiner im Urteil geäußerten
Rechtsauffassung, die offenbar auf einem Irrtum beruhte, fest.
Die Verletzung des rechtlichen Gehörs war auch erheblich, denn wie der
Beschwerdeführer dargelegt hat, hätte er, wenn ihm entsprechende Gelegenheit zur
Äußerung gegeben worden wäre, das Gericht auf die Unanwendbarkeit der
Ausschlussnorm hingewiesen, so dass es die Aufrechnung insoweit nicht aus diesem
Grund für unwirksam gehalten hätte. Die Erheblichkeit der Gehörsverletzung für die
Entscheidung ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil das Amtsgericht im Beschluss
vom 9. Juli 2004 auf die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers ausgeführt hat, die
betroffenen Nachforderungsansprüche seien verwirkt gewesen, so dass sich an der
Entscheidung nichts ändere. Auf den Gesichtspunkt der Verwirkung ist das Urteil nicht,
auch nicht hilfsweise, gestützt. Das Verfahren nach § 321 a ZPO dient jedoch nicht dazu,
dem Gericht einen Austausch der als falsch erkannten Begründung seiner Entscheidung
zu ermöglichen. Die Heilung eines Anhörungsfehlers kann nur durch Wiedereintritt in den
Prozess und dessen Fortführung geschehen (vgl. Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 25. Aufl.
2005, § 321 a Rn. 12). Für die Erheblichkeit der Gehörsverletzung reicht es deswegen
aus, dass eine andere Entscheidung möglich war. Dies ist hier der Fall, denn die vom
Amtsgericht im Beschluss vom 9. Juli 2004 angenommene Verwirkung liegt jedenfalls
nicht so offensichtlich und eindeutig vor, dass jede andere Entscheidung von vornherein
auszuscheiden hat. Ob die Nachforderungsansprüche des Beschwerdeführers für die
Heizperioden bis 31. Mai 2001 tatsächlich verwirkt waren, verlangt eine wertende
Gesamtbetrachtung des Verhaltens der Vertragsparteien und der sonstigen Umstände;
reiner Zeitablauf genügt für die Annahme einer Verwirkung in der Regel nicht (vgl.
Heinrichs, in: Palandt, BGB, 65. Aufl. 2006, § 242 Rn. 90). Zu den
berücksichtigungsfähigen Umständen könnte der Beschwerdeführer, wie er in der
Verfassungsbeschwerde dargelegt hat, bei Fortführung des Prozesses möglicherweise
noch weiteren Sachvortrag erbringen, wozu ihm im Rahmen der Gewährung rechtlichen
Gehörs Gelegenheit zu geben ist.
Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG sind das Urteil des Amtsgerichts, soweit es mit der
Verfassungsbeschwerde angegriffen ist, sowie der Beschluss vom 9. Juli 2004
aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbs. 2
BVerfGG an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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