Urteil des VerfGH Berlin vom 29.01.1989

VerfGH Berlin: chancengleichheit, fraktion, auflösung, öffentliche gewalt, ungeschriebenes verfassungsrecht, mehrheit, parteifähigkeit, einzelne grundrechte, vorschlagsrecht, nominierung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
24/92
Dokumenttyp:
Entscheidung
Quelle:
Normen:
Art 6 Abs 1 Verf BE, Art 26 Abs
1 Verf BE, Art 53 Verf BE, Art
54 Verf BE, Art 87a Abs 2 Verf
BE
VerfGH Berlin: Parteifähigkeit juristischer Personen und nicht
rechtsfähiger Gebilde - Gewährleistung der Chancengleichheit
für politische Parteien durch Verf BE - Zulässigkeit des
Losverfahrens zur Auflösung einer durch Wahlergebnisse
herbeigeführten Patt-Situation
Gründe
I.
Die ... Union ... in der Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf, die aus der Wahl
vom 29. Januar 1989 hervorgegangen ist, begehrte von dieser
Bezirksverordnetenversammlung ohne Erfolg, das Nominierungsrecht für das 7. Mitglied
des Bezirksamts Wilmersdorf von Berlin zur Auflösung einer durch die Anwendung des
d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens bei der Wahl der Mitglieder des Bezirksamtes nach
§ 35 Abs. 2 des Bezirksverwaltungsgesetzes eingetretenen Pattsituation durch
Losentscheid zu ermitteln. § 35 des Bezirksverwaltungsgesetzes in der (insoweit
unverändert gebliebenen) Fassung vom 5. Juli 1971 (GVBl. S. 1170) - BezVerwG - lautet:
"§ 35
(1) Die Bezirksverordnetenversammlung wählt die Mitglieder des Bezirksamts für die
Dauer der Wahlperiode (§ 5).
(2) Das Bezirksamt soll aufgrund der Wahlvorschläge der Fraktionen entsprechend ihrem
Stärkeverhältnis in der Bezirksverordnetenversammlung gebildet werden.
(3) "
Gegen das die Ablehnung ihres Begehrens bestätigende Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 17. März 1992 richtet sich die
Verfassungsbeschwerde.
1a) Aufgrund der am 29. Januar 1989 durchgeführten Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin entfielen in der
Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf 20 Sitze auf die ..., 15 Sitze auf die ..., 8
Sitze auf die ... und 2 Sitze auf die R.... Unter Anwendung des d'Hondtschen
Höchstzahlverfahrens bei der Wahl der Mitglieder des Bezirksamtes nach § 35 Abs. 2
BezVerwG standen nach der übereinstimmenden Ansicht aller Fraktionen der ... das
Vorschlagsrecht für drei Bezirksamtsmitglieder, der ... das Vorschlagsrecht für zwei
Bezirksamtsmitglieder und der AL das Vorschlagsrecht für ein Bezirksratsmitglied zu. Mit
Blick auf das 7. Bezirksamtsmitglied ergab sich bei Anwendung des d'Hondtschen
Höchstzahlverfahrens für die Fraktionen der ... und der ... dieselbe Höchstzahl, nämlich
jeweils die Höchstzahl 5. Die Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf beschloß
daraufhin in ihrer Sitzung vom 20. April 1989 mit den Stimmen der ... und der AL-
Fraktion und gegen die Stimmen der Beschwerdeführerin, das Vorschlagsrecht für das 7.
Bezirksamtsmitglied nach dem Verfahren der mathematischen Proportion (Hare-
Niemeyer) - im folgenden: Hare-Niemeyer-Verfahren zu ermitteln. Nach diesem
Verfahren fiel das Vorschlagsrecht der ...-Fraktion zu. Die Wahl der von dieser Fraktion
daraufhin vorgeschlagenen drei Bezirksamtsmitglieder wurde anschließend
durchgeführt.
b) Das gegen die Nominierung und die Wahl des 7. Mitglieds des Bezirksamts
Wilmersdorf von Berlin von der Beschwerdeführerin eingeleitete vorläufige
Rechtsschutzverfahren blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht
Berlin hat durch Beschluß vom 11. April 1989 (VG 1 A 79/89) den Antrag der
Beschwerdeführerin auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, das Oberverwaltungsgericht
Berlin hat durch Beschluß vom 18. April 1989 (OVG 8 S 98/89) die dagegen erhobene
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Berlin hat durch Beschluß vom 18. April 1989 (OVG 8 S 98/89) die dagegen erhobene
Beschwerde der Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Auch im verwaltungsgerichtlichen
Hauptsacheverfahren hatte die Beschwerdeführerin keinen Erfolg. Das
Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 27. Januar 1991 (VG 1 A 80/89) das Begehren
der Beschwerdeführerin abgewiesen, die Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf
zu verurteilen, das Nominierungsrecht für die Wahl des 7. Mitglieds des Bezirksamts
Wilmersdorf von Berlin für die aufgrund der Wahl vom 29. Januar 1989 laufende
Wahlperiode durch Losentscheid erneut zu ermitteln und für den Fall, daß danach das
Nominierungsrecht der Beschwerdeführerin zusteht, die Wahl aufgrund eines
entsprechenden Vorschlags erneut durchzuführen. Durch Urteil vom 17. März 1992
(OVG 8 B 31/91) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin die Berufung der
Beschwerdeführerin mit im wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen: Es
entspreche gefestigter Rechtsprechung der Berliner Verwaltungsgerichte, daß die
Ermittlung des Vorschlagsrechts der Fraktionen gemäß § 35 Abs. 2 BezVerwG nach dem
d'Hondtschen Höchstzahlverfahren zu erfolgen habe. Ferner stehe nach dieser
Rechtsprechung fest, daß sich die Bezirksverordnetenversammlung zur Auflösung einer
bei Anwendung des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens ergebenden Pattsituation eines
anderen anerkannten Wahlsystems wie z.B. des Hare-Niemeyer- Verfahrens bedienen
könne, dies jedoch nicht tun müsse. Der Versuch der Beschwerdeführerin, das
Losverfahren zum allein gesetzmäßigen Verfahrensmodus zur Auflösung einer sich nach
dem d'Hondtschen Höchstzahlverfahren ergebenden Pattsituation aufzuwerten,
überzeuge nicht. Es könne keine Rede davon sein, daß nur die Anwendung des
Losverfahrens dem verfassungsrechtlich garantierten Prinzip der formalen
Gleichbehandlung der Parteien entspräche.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des ihrer
Ansicht nach verfassungsrechtlich durch Art. 6 Abs. 1 der Verfassung von Berlin (VvB)
verbürgten Rechts der Chancengleichheit. Zur Begründung macht sie im wesentlichen
geltend:
a) Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig.
Sie - die Beschwerdeführerin - sei aktivlegitimiert. Ihr könnten als Fraktion einer
Bezirksverordnetenversammlung gemäß §§ 5 Abs. 3, 9 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 35
Abs. 2 BezVerwG eigene Rechte zustehen; insoweit könne sie auch Träger von in der
Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechten sein. Das begründe ihre
Aktivlegitimation für die vorliegende Verfassungsbeschwerde gemäß § 49 Abs. 1 des
Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof vom 8. November 1990 (GVBl. S. 2246), in
der Fassung des Änderungsgesetzes vom 11. Dezember 1991 (GVBl. S. 280) VerfGHG -.
Mit Blick auf ihre Parteifähigkeit sei im übrigen ohne Belang, daß die Wahlperiode 1989,
um die es hier geht, mit dem Zusammentritt der aus der Wahl vom 24. Mai 1992
hervorgegangenen Bezirksverordnetenversammlung beendet sei. Zwar sei es richtig,
daß sie - die Beschwerdeführerin - nunmehr nicht mehr in der gleichen personellen
Zusammensetzung wie vor dem Zusammentritt der bezeichneten
Bezirksverordnetenversammlung existiere. Doch komme dem schon deshalb keine zur
Unzulässigkeit ihrer Beschwerde führende Bedeutung zu, weil ihr anderenfalls mit
Rücksicht auf das Erfordernis der Erschöpfung des verwaltungsgerichtlichen Rechtswegs
und die Dauer der verwaltungsgerichtlichen Verfahren faktisch die verfassungsrechtlich
garantierte Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde verschlossen bliebe. Vorsorglich
habe die aufgrund der Wahlen vom 24. Mai 1992 neu gewählte Fraktion der ... in der
Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf beschlossen, das
Verfassungsbeschwerdeverfahren fortzusetzen.
Die Verfassungsbeschwerde sei fristgemäß (§ 51 Abs. 1 VerfGHG) eingelegt worden.
Ihrer Zulässigkeit stehe nicht entgegen, daß sie - die Beschwerdeführerin - keine
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Berlin erhoben habe. Da im vorliegenden Fall eine
Nichtzulassungsbeschwerde offensichtlich unbegründet gewesen wäre, sei es ihr nicht
zumutbar gewesen, sie überhaupt einzulegen.
Schließlich bestehe auch ein Rechtsschutzinteresse für die Durchführung des
vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Das von ihr im
verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren verfolgte Klagebegehren, die Korrektur
der nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Nominierung und Wahl des 7. Mitglieds des
Bezirksamts Wilmersdorf durch die Bezirksverordnetenversammlung, habe sich
zwischenzeitlich erledigt. Es gehe hier deshalb nicht mehr um die Korrektur einer
Rechtsverletzung zu ihren Lasten, sondern nur noch darum, verfassungsgerichtlich
festzustellen, daß entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin
Nominierung und Wahl des 7. Mitglieds des Bezirksamts Wilmersdorf durch die
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Nominierung und Wahl des 7. Mitglieds des Bezirksamts Wilmersdorf durch die
Bezirksverordnetenversammlung in der vergangenen Wahlperiode rechtswidrig gewesen
seien und sie dadurch in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 VvB verletzt worden sei.
Das Bundesverfassungsgericht habe ein entscheidendes Kriterium für das Fortbestehen
eines Rechtsschutzbedürfnisses trotz Erledigung des mit einer Verfassungsbeschwerde
verfolgten Begehrens darin gesehen, daß anderenfalls die Klärung einer
verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbleiben würde und
der gerügte Eingriff ein besonders bedeutsames Grundrecht betreffe. Bei Anlegung
dieses teils spezifisch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren geltenden, teils an das
Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO angelehnten
Maßstabs könne das Rechtsschutzinteresse im vorliegenden Fall nicht zweifelhaft sein.
b) Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts Berlin verletze sie - die Beschwerdeführerin - in ihrem
Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 VvB. Das Gericht habe bei Auslegung und Anwendung der
entscheidungserheblichen Vorschrift des § 35 Abs. 2 BezVerwG Inhalt, Bedeutung und
Tragweite des Verfassungsprinzips der Chancengleichheit der politischen Parteien
verkannt.
Art. 6 Abs. 1 VvB enthalte - landesverfassungsrechtlich - den allgemeinen
Gleichheitssatz. Der Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien sei eine
spezielle Ausprägung dieses allgemeinen Gleichheitssatzes; er gelte nicht nur für das
Vorfeld der Wahlen (Wahlrecht im engeren Sinne, Wahlvorbereitungen, Wahlsendungen
in Rundfunk und Fernsehen usw.), sondern auch für den Bereich der Wahlauswirkungen.
Das aus der demokratisch-egalitären Grundlage der Verfassung von Berlin folgende
Gebot einer formalen Gleichbehandlung aller Parteien gestatte eine unterschiedliche
Behandlung nur ausnahmsweise dort, wo dies aus zwingenden verfassungsrechtlichen
Gründen gerechtfertigt sei.
Der Gesetzgeber des § 35 Abs. 2 BezVerwG habe den Grundsatz der Chancengleichheit
der politischen Parteien im Bereich der Wahlausübung verwirklicht. Alleiniger und
demokratisch-egalitären Grundsätzen entsprechender Maßstab für die Bildung des
Bezirksamts sei das Stärkeverhältnis der Fraktionen in der
Bezirksverordnetenversammlung. Zwar beantworte § 35 Abs. 2 BezVerwG nicht
ausdrücklich die Frage, auf welche Weise eine Pattsituation zwischen zwei Fraktionen
hinsichtlich des Nominierungsrechts für das 7. Bezirksamtsmitglied aufzulösen ist. Doch
komme dafür aus verfassungsrechtlichen Gründen nur ein Verfahren in Betracht, das
dem Grundsatz der Chancengleichheit Rechnung trägt. Ausgehend von der Tatsache,
daß zwei Parteien bei einer Pattsituation die gleiche Ausgangsposition haben, sei mithin
jeder Beschluß einer Bezirksverordnetenversammlung zur Pattauflösung und jede
gerichtliche Billigung eines solchen Beschlusses verfassungswidrig, die die formale
Gleichheit der beiden in Pattsituation stehenden Parteien ignorierten. Eine gleich
Ausgangsposition müsse zwingend die gleiche Chance beim Nominierungsrecht zur
Folge haben. Dies sei allein beim Losentscheid der Fall, nicht jedoch bei dem von der
Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf beschlossenen und vom
Oberverwaltungsgericht Berlin gebilligten Verfahren, das die 50 v.H.
Nominierungschance der ... auf 100 v.H. erhöhe und damit zugleich ihre - der
Beschwerdeführerin - Nominierungschance auf Null reduziere.
3. Dem Senat von Berlin, der Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf und der
Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der
Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf ist Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben worden.
a) Die Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf äußert Bedenken gegen die
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Sie meint, der Gesichtspunkt, daß nach dem
Ende der Parteifähigkeit einer Fraktion mit Zusammentritt der neuen
Vertretungskörperschaft die Nachfolgerin dieser Fraktion den Rechtsstreit fortsetzen
kann, gelte nur für eine verfassungsrechtliche Organklage, nicht aber auch für eine
Verfassungsbeschwerde. Im übrigen sei sie vor dem Berufungsgericht nicht
ordnungsgemäß vertreten gewesen. Dies habe die Beschwerdeführerin durch eine
Nichtzulassungsbeschwerde rügen können. Da sie das unterlassen habe, sei der
Rechtsweg noch nicht im Sinne des § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG ausgeschöpft. In der
Sache teile sie die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin in dem angegriffenen
Urteil.
b) Die Fraktion der ... Partei Deutschlands in der Bezirksverordnetenversammlung
Wilmersdorf hat davon abgesehen, eine Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde
abzugeben.
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II.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
a) Die Beschwerde genügt den Anforderungen des § 21 Abs. 1 VerfGHG sowie dem
Bezeichnungsgebot des § 50 VerfGHG. Mit ihr wird geltend gemacht, das angegriffene
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 17. März 1992 verletze die
Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf Chancengleichheit bei der Nominierung des
7. Bezirksamtsmitglieds für die Bildung des Bezirksamts, die die aus der Wahl vom 29.
Januar 1989 hervorgegangene Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf - im
folgenden: BVV 1989 - vorzunehmen hatte. Der Ausschlußgrund des § 49 Abs. 1 letzter
Halbsatz VerfGHG greift nicht ein. Die Frist des § 51 Abs. 1 Satz 1 VerfGHG ist
eingehalten.
b) Die Beschwerdeführerin, die Fraktion der CDU in der BVV 1989, war im Zeitpunkt des
Eingangs ihrer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof am 9. Juni 1992 parteifähig; sie
war im Sinne des § 49 Abs. 1 VerfGHG beschwerdebefugt.
Gemäß § 49 Abs. 1 VerfGHG kann "jedermann" mit der Verfassungsbeschwerde geltend
machen, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der
Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein; zu diesen Rechten zählt das
nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin von der Verfassung von Berlin verbürgte
Grundrecht der politischen Parteien auf Chancengleichheit als Anwendungsfall des
allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 6 Abs. 1 VvB). "Jedermann" im Sinne des § 49 Abs. 1
VerfGHG ist jedenfalls derjenige, der Träger von in der Verfassung von Berlin verbürgten
Grundrechten sein kann, also grundrechtsfähig ist; im Rahmen einer - wie hier - auf die
Verletzung von Grundrechten gerichteten Verfassungsbeschwerde hängt die
Parteifähigkeit von der Grundrechtsfähigkeit ab. Die Beschwerdeführerin ist
grundrechtsfähig, sie erfüllt die Anforderungen des Merkmals "jedermann" in § 49 Abs. 1
VerfGHG.
Grundrechtsfähig sind zweifelsfrei natürliche Personen. Dazu, wer im übrigen
grundrechtsfähig sein kann, äußert sich die Verfassung von Berlin nicht ausdrücklich.
Das mag jedoch im einzelnen auf sich beruhen. Denn als grundrechtsfähig sind
jedenfalls solche juristischen Personen und nicht rechtsfähigen Gebilde anzusehen, die
sich nach dem in der Verfassung von Berlin zum Ausdruck kommenden Willen des
Landesverfassungsgebers auf die Einhaltung von Individualrechten, wie etwa das
Grundrecht auf Gleichbehandlung im Rahmen der Ausübung eines ihnen vom
Landesrecht eingeräumten Rechts, sollen berufen können. Das trifft unter anderem zu
auf die Beschwerdeführerin, eine Zusammenfassung der Vertreter der Partei der ..., die
kraft der Anordnung in § 5 Abs. 3 BezVerfG in der Bezirksverordnetenversammlung
unter der Bezeichnung "Fraktion" der ... firmiert. Gemäß Art. 53 Abs. 2 und 3 VvB wählt
die Bezirksverordnetenversammlung die Mitglieder des Bezirksamts nach Maßgabe der
Regelungen eines einfachen Gesetzes. § 35 Abs. 2 BezVerwG räumt den Fraktionen in
der Bezirksverordnetenversammlung das Recht ein, "entsprechend ihrem
Stärkeverhältnis" Vorschläge für die Wahl der Mitglieder des Bezirksamts zu
unterbreiten. Der Zusammenhang dieser sowie der sonstigen die
Bezirksverordnetenversammlung betreffenden Vorschriften in der Verfassung von Berlin
(vgl. Art. 54 ff. VvB) und im Bezirksverwaltungsgesetz (§ 35 BezVerwG) drängt die
Annahme auf, es entspreche dem Willen des Berliner Verfassungsgebers, daß die
Fraktionen in der Bezirksverordnetenversammlung als Erscheinungsform politischer
Parteien im Rahmen der Ausübung von ihnen eingeräumten Rechten zumindest mit
Blick auf ein etwaiges Grundrecht auf Chancengleichheit grundrechtsfähig sein sollen.
Dieser Annahme steht nicht entgegen, daß die unter anderem der Beschwerdeführerin
vom Bezirksverwaltungsgesetz und namentlich der Geschäftsordnung der
Bezirksverordnetenversammlung eingeräumten Rechte und übertragenen Aufgaben auf
dem öffentlichen Recht angehörenden Vorschriften beruhen und die etwa von der
Beschwerdeführerin ausgeübten Tätigkeiten ganz überwiegend dem öffentlich-
rechtlichen Bereich zuzuordnen sind. Zwar ist es richtig, daß die Grundrechte im
Grundsatz Abwehr-, Leistungs- und Teilhaberrechte der Bürger und ihrer
Zusammenschlüsse gegen den Staat darstellen und deshalb grundsätzlich dem Staat
und seinen Untereinheiten eine Grundrechtsfähigkeit dort zu versagen ist, wo sie
öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen (vgl. zum Bundesrecht unter anderem BVerfGE
21, 362 <369 ff.>; 35, 263 <271 f.>; 38, 175 <184>). Richtig ist auch, daß politischen
Parteien und ihren Untergliederungen mangels Grundrechtsfähigkeit der Weg in eine
Verfassungsbeschwerde versperrt ist, wenn sie um ihre Teilhabe am Verfassungsleben,
d.h. um die Mitwirkung bei der Staatswillensbildung, streiten (vgl. zum Bundesrecht etwa
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d.h. um die Mitwirkung bei der Staatswillensbildung, streiten (vgl. zum Bundesrecht etwa
BVerfGE 6, 371 ff. <372>). Darum aber geht es hier offensichtlich nicht. Zum einen ist
die Beschwerdeführerin nicht dem Staat oder einer seiner Untereinheiten zuzuordnen,
sondern besteht unabhängig von ihm als von Bürgern eines bestimmten Bezirks
gewählte Gruppierung, der vom einfachen Gesetz für die Bildung des Bezirksamts ein
Nominierungsrecht verliehen worden ist. Und zum anderen macht die
Beschwerdeführerin nicht die Verletzung eines verfassungsrechtlichen Status geltend,
sie rügt nicht die Verletzung eines Mitwirkungsrechts an der Staatswillensbildung,
sondern eine Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit auf einer gleichsam
niedrigeren Stufe, nämlich der Bildung eines Verwaltungsorgans.
Das Berufungsgericht hat den vorstehenden Überlegungen entsprechend erkannt, es
habe sich bei dem dem vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren
vorangegangenen, seinerzeit von ihm zu beurteilenden Verfahren zwischen der
Beschwerdeführerin und der BVV 1989 um ein verwaltungsrechtliches
Organstreitverfahren, um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht
verfassungsrechtlicher Art im Sinne des § 40 VwGO gehandelt. Dem ist beizupflichten.
Das schließt zugleich die Annahme aus, die Verfassungsbeschwerde könnte hier deshalb
unzulässig sein, weil das Begehren der Beschwerdeführerin im Wege eines
verfassungsrechtlichen Organstreitverfahrens nach §§ 14 Nr. 1, 36 ff. VerfGHG hätte
verfolgt werden können (vgl. in diesem Zusammenhang im einzelnen Urteil vom 19.
Oktober 1992 - VerfGH 39/92 -).
c) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht dadurch unzulässig geworden, daß die
Beschwerdeführerin, die ... der ... in der BVV 1989, mit Ablauf der Wahlperiode der BVV
1989, d.h. nach Maßgabe des Art. 87a Abs. 2 VvB spätestens am 30. Juni 1989, rechtlich
weggefallen ist und damit zugleich ihre Parteifähigkeit eingebüßt hat. Denn die ... der ...
in der aus den Wahlen vom 24. Mai 1992 hervorgegangenen
Bezirksverordnetenversammlung hat ausdrücklich die Fortsetzung des Verfahrens
erklärt. Das reicht unter den hier obwaltenden Umständen aus, um annehmen zu
können, das unter dem Blickwinkel der Parteifähigkeit ursprünglich zulässige
Beschwerdeverfahren dürfe zulässigerweise weitergeführt werden.
Fachgerichtliche und verfassungsgerichtliche Verfahren nehmen typischerweise einige
Zeit in Anspruch, so daß insbesondere die Verfahrensbeteiligten, deren "Lebensdauer"
von der Dauer einer Wahlperiode abhängig ist, faktisch deshalb weitgehend gehindert
wären, die Klärung einer klärungsbedürftigen verfassungsrechtlichen Rechtsfrage zu
betreiben, weil sie Gefahr laufen, vor Beendigung dieser Auseinandersetzung ihre
Parteifähigkeit einzubüßen. Aus diesem Grunde ist z.B. für eine von einer
Bundestagsfraktion angestrengte bundesverfassungsrechtliche Organstreitigkeit
anerkannt, daß dieses Verfahren dann, wenn es bis zum Ende der Legislaturperiode des
betreffenden Bundestages nicht abgeschlossen worden ist, von der entsprechenden
Fraktion des neuen Bundestages fortgesetzt werden kann (vgl. Maunz/Schmidt-
Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Kommentar zum BVerfGG, § 63 Rdn. 11). Nichts anderes gilt für
verfassungsrechtliche Organstreitigkeiten nach §§ 36 ff. VerfGHG und darüber hinaus für
sich - wie hier - als Verfassungsbeschwerdeverfahren fortsetzende verwaltungsrechtliche
Organstreitigkeiten. Insbesondere in letzteren Fällen, in denen ein in seiner
Parteifähigkeit von der Dauer seiner Wahlperiode abhängiger Träger von Grundrechten
eine verfassungsrechtliche Überprüfung erst nach Erschöpfung des
Verwaltungsrechtswegs betreiben kann (vgl. § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG), bestünde
anderenfalls stets die Gefahr, daß das Verfassungsbeschwerdeverfahren wegen eines
Verlustes der Parteifähigkeit vorzeitig endet. Vor diesem Hintergrund ist bei Verfahren
der in Rede stehenden Art unter der Voraussetzung, daß eine Klärung
verfassungsrechtlich bedeutsamer Fragen zu erwarten ist, ein dringendes Bedürfnis
daran anzuerkennen, daß (weitläufig angelehnt an den Gedanken des § 239 ZPO) der
"Rechtsnachfolger" des jeweiligen Verfahrensbeteiligten den durch den Verlust von
dessen Parteifähigkeit gleichsam "unterbrochenen" Rechtsstreit fortführen kann. Diese
Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Klärung der Frage, ob die Auslegung, die § 35 Abs. 2
BezVerwG mit Blick auf die Auflösung einer Pattsituation bei der Nominierung und Wahl
eines 7. Bezirksamtsmitglieds durch das Oberverwaltungsgericht Berlin erfahren hat, mit
der Verfassung von Berlin vereinbar ist, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Das bedarf
im Hinblick auf die Vielzahl der in der Vergangenheit geführten verwaltungsgerichtlichen
Verfahren und die Unsicherheiten, die sich insoweit in der Folge der
Bezirksverordnetenwahlen vom 24. Mai 1992 ergeben haben, keiner Vertiefung.
d) Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert auch nicht daran, daß die
Beschwerdeführerin davon abgesehen hat, Beschwerde gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 17. März 1992
einzulegen. Der Rechtsweg ist nämlich im vorliegenden Fall gleichwohl erschöpft im
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einzulegen. Der Rechtsweg ist nämlich im vorliegenden Fall gleichwohl erschöpft im
Sinne des § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG.
Zwar trifft es zu, daß der Rechtsweg grundsätzlich solange nicht erschöpft ist, als der
Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, im Verfahren vor den Gerichten des zuständigen
Gerichtszweigs die Beseitigung des Hoheitsaktes zu erreichen, dessen
Grundrechtswidrigkeit er geltend macht (ebenso zu § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG unter
anderem BVerfGE 8, 222). Zutreffend ist ferner, daß die Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision eine Möglichkeit ist, eine angeblich durch ein Berufungsurteil
bewirkte Grundrechtsverletzung zu beseitigen. Allerdings wird das Gebot der vorrangigen
Erschöpfung des Rechtswegs durch den Gesichtspunkt der Zumutbarkeit eingeschränkt
und ist die Erhebung einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in einem
verwaltungsgerichtlichen Berufungsurteil dem Beschwerdeführer unzumutbar, wenn die
Aussicht, dadurch die Eröffnung einer weiteren Instanz zu erreichen, offenbar
unbegründet ist (vgl. ebenso zum Bundesrecht unter anderem BVerfGE 16, 1 <3>). So
liegen die Dinge hier.
Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Revisionsverfahrens ist gemäß § 137 Abs. 1
VwGO revisibles Recht. Deshalb ist eine Nichtzulassungsbeschwerde in der Regel
offenbar unbegründet, wenn die Entscheidung des Berufungsgerichts ausschließlich auf
die Auslegung und Anwendung irrevisiblen Landesrechts gestützt ist. Eine Ausnahme
davon gilt dann, wenn Anlaß für die Annahme Besteht, daß Berufungsurteil könne auf
einem Verfahrensmangel beruhen und deshalb könne eine Zulassung der Revision nach
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO in Betracht kommen. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Berlin verhält sich im vorliegenden Fall ausschließlich zu irrevisiblem Landesrecht, so daß
eine insoweit erhobene Nichtzulassungsbeschwerde offensichtlich aussichtslos gewesen
wäre. Entgegen der Auffassung der Bezirksverordnetenversammlung Wilmersdorf
besteht hier auch kein Anlaß zu der Annahme, eine Nichtzulassungsbeschwerde der
Beschwerdeführerin könnte gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deshalb erfolgreich
gewesen sein, weil sie - die Bezirksverordnetenversammlung - nach ihrem Vorbringen
vor dem Berufungsgericht nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen ist. Denn der
Mangel einer gesetzeswidrigen Vertretung kann nur von der nicht vorschriftsmäßig
vertretenen Partei, nicht aber auch vom Gegner mit Erfolg geltend gemacht werden, weil
das Erfordernis der ordnungsgemäßen Vertretung nur dem Schutz der zu vertretenden
Partei dient (vgl. unter anderem BFHE 96, 385 <387>, RGHZ 63, 78 <79> und BVerwG,
Beschluß vom 21. August 1992 - BVerwG 8 B 118.92 -).
e) Schließlich besteht weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis an der von der
Beschwerdeführerin erstrebten verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Zwar hat sich
das ursprünglich mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Begehren, unter Aufhebung
des angegriffenen Berufungsurteils (vgl. § 54 Abs. 3 VerfGHG) eine Verurteilung der BVV
1989 zu erreichen, das Nominierungsrecht für die Wahl des 7. Mitglieds des Bezirksamts
Wilmersdorf für die durch die Wahl vom 29. Januar 1989 begründete Wahlperiode durch
Losentscheidung neu zu ermitteln und für den Fall, daß danach ihr - der
Beschwerdeführerin - das Nominierungsrecht zusteht, die Wahl aufgrund eines
entsprechenden Vorschlags erneut durchzuführen, durch Zeitablauf in der Hauptsache
erledigt. Denn nach Ablauf der Wahlperiode der BVV 1989 nach Maßgabe des Art. 87a
Abs. 2 Satz 1 VvB hat diese Bezirksverordnetenversammlung ihre Existenz mit der Folge
eingebüßt, daß kein Raum mehr für die erstrebte Verurteilung ist. Das Interesse der
Beschwerdeführerin hat sich nunmehr auf das Begehren beschränkt festzustellen, daß
das angegriffene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin sie in dem von ihr
reklamierten Grundrecht auf Chancengleichheit verletzt, weil es zu Unrecht das von der
BVV 1989 bestimmte Verfahren zur Nominierung und Wahl des 7. Bezirksamtsmitglieds
gebilligt hat. Dafür ist ein Rechtsschutzbedürfnis anzuerkennen.
Ebenso wie bei der Verfassungsbeschwerde des Bundes (vgl. dazu Maunz/Schmidt-
Bleibtreu/Klein/Ulsamer, a.a.O., § 9 Rdn. 184 mit weiteren Nachweisen) ist auch bei der
Verfassungsbeschwerde nach §§ 49 ff. VerfGHG das Fortbestehen eines
Rechtsschutzbedürfnisses anzunehmen, wenn trotz Erledigung der Hauptsache ein
besonderes Bedürfnis für eine Entscheidung des Verfassungsgerichts besteht. Das trifft
unter anderem zu, wenn anderenfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von
grundsätzlicher Bedeutung unterbleiben würde und der gerügte Eingriff ein besonders
bedeutsames Grundrecht betrifft (vgl. ebenso zum Bundesrecht BVerfGE 33, 247 <257
f.> mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Denn bei der in
diesem Verfahren zu beantwortenden Frage geht es - wie bereits gesagt - um eine
klärungsbedürftige verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung.
Überdies handelt es sich bei dem von der Beschwerdeführerin als verletzt gerügten
Grundrecht auf Chancengleichheit - sofern ein solches Recht in der Verfassung von
Berlin verbürgt ist - um ein im demokratischen Rechtsstaat besonders bedeutsames
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Berlin verbürgt ist - um ein im demokratischen Rechtsstaat besonders bedeutsames
Grundrecht.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet; die angegriffene Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 17. März 1992 verletzt die Beschwerdeführerin in
ihrem Grundrecht auf Chancengleichheit.
a) Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. unter
anderem Beschlüsse vom 2. Juli 1985 - 8 S 208/85 - und vom 22. Juni 1988 - 8 B 27/87 -)
entschieden, die Ermittlung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen in der
Bezirksverordnetenversammlung zur Ausübung des Vorschlagsrechts bei der Bildung
des Bezirksamts habe nach dem d'Hondtschen Höchstzahlverfahren zu erfolgen. Dieses
in Auslegung und Anwendung des § 35 Abs. 2 BezVerwG vom Oberverwaltungsgericht
Berlin gefundene Ergebnis ist aus der Sicht des Berliner Landesverfassungsrechts nicht
zu beanstanden (vgl. dazu im einzelnen Urteil vom 19. Oktober 1992 - VerfGH 39/92 -).
b) Das Oberverwaltungsgericht Berlin ist - in Übereinstimmung unter anderem mit der
BVV 1989 - davon ausgegangen, § 35 Abs. 2 BezVerwG räume einer
Bezirksverordnetenversammlung für den Fall, daß die Anwendung des d'Hondtschen
Höchstzahlverfahrens bei der Ermittlung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen mit
Blick auf z.B. das 7. Bezirksamtsmitglied zu einer Pattsituation führt, d.h. auf
(mindestens) zwei Fraktionen die gleiche Höchstzahl entfällt, die Befugnis ein, ad hoc ein
Verfahren zur Auflösung dieser Pattsituation zu bestimmen. Diese Auffassung ist
verfassungsrechtlich nicht haltbar, sie verletzt das von der Verfassung von Berlin
verbürgte, bei der Bildung des Bezirksamts auch zugunsten der Fraktionen in der
Bezirksverordnetenversammlung wirkende Grundrecht auf Chancengleichheit der
politischen Parteien. Der Verfassung von Berlin wird nur eine Auslegung des § 35 Abs. 2
BezVerwG dahin gerecht, daß diese einfachgesetzliche Vorschrift selbst das Verfahren
zur Auflösung einer etwaigen Pattsituation abschließend festlegt, und zwar ein
Verfahren, das seinerseits die Anforderungen des Grundrechts auf Chancengleichheit
genügt.
Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit ist zwar in der Verfassung von
Berlin nicht ausdrücklich statuiert. Es ergibt sich aber aus dem Grundsatz der
Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl (Art. 26 Abs. 1 VvB), ist wie dieser ein
Anwendungsfall des in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VvB enthaltenen allgemeinen
Gleichheitssatzes und hat seinerseits Grundrechtscharakter (vgl. ebenso zum
Bundesrecht unter anderem BVerfGE 24, 300 <340> und zum bayerischen
Landesrecht BayVerfGH in BayVBl. 1977, 271 <273>). Der in Art. 26 Abs. 1 VvB
verankerte Grundsatz der formalen Wahlgleichheit gebietet, daß alle Wahlberechtigten
das aktive und passive Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben und die
Stimmen grundsätzlich den gleichen Erfolgswert haben. Er beansprucht ebenso wie der
mit ihm auf das engste zusammenhängende Grundsatz der Chancengleichheit nach der
Verfassung von Berlin nicht nur Geltung bei der Wahl des Abgeordnetenhauses, sondern
gemäß Art. 54 Abs. 1 VvB auch bei der Wahl der Bezirksverordnetenversammlung. Über
diese Wahlen hinaus gelten diese Grundsätze als ungeschriebenes Verfassungsrecht
auch für politische Abstimmungen in den von Wahlberechtigten gewählten Parlamenten,
z.B. für Abstimmungen über die Zuteilung von Sitzen in Ausschüssen und sonstigen
Gremien (vgl. in diesem Zusammenhang zum Bundesrecht unter anderem BVerfGE 51,
222 <234> mit weiteren Nachweisen und zum bayerischen Landesrecht BayVerfGH in
BayVBl. 1977, 271 <273>). Als eine solche Abstimmung ist kraft Berliner
Verfassungsrecht (vgl Art 53 Satz 2 VvB) die Wahl des Bezirksamts zu verstehen. Da
diese Abstimmung von den Fraktionen in der Bezirksverordnetenversammlung
vorzunehmen ist, wirkt namentlich der Grundsatz der Chancengleichheit in diesem
Rahmen auch zu ihren Gunsten.
Der verfassungsrechtlich verbürgte Grundsatz der Chancengleichheit gebietet im
Zusammenhang mit der Bildung des Bezirksamts, daß ein Verfahren zur Auflösung einer
sich bei Anwendung des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens (oder auch des Hare-
Niemeyer-Verfahrens) ergebenden Pattsituation schon vor der Wahl der betreffenden
Bezirksverordnetenversammlung festgelegt sein muß. Denn nur auf diese Weise ist
sichergestellt, daß die Bestimmung eines solchen Verfahrens einer Entscheidung nach
Maßgabe der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in der Bezirksverordnetenversammlung
entzogen ist. Es entspricht nämlich der Lebenserfahrung, daß sich die Mehrheit
typischerweise für ein Verfahren zur Auflösung einer Pattsituation entscheidet, durch das
gewährleistet ist, daß das umstrittene Vorschlagsrecht für die Wahl eines
Bezirksamtsmitglieds unabhängig von dem Stärkeverhältnis der einzelnen Fraktionen
untereinander auf eine der Mehrheit angehörende Fraktion entfällt. Das aber ist mangels
eines dies rechtfertigenden Grundes nicht mit dem Grundsatz der Chancengleichheit
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eines dies rechtfertigenden Grundes nicht mit dem Grundsatz der Chancengleichheit
vereinbar.
Im übrigen hat der Berliner Verfassungsgeber in Art. 53 Satz 3 VvB angeordnet, daß das
"Nähere" der Wahl der Mitglieder des Bezirksamts durch Gesetz zu regeln ist. Damit hat
er zum Ausdruck gebracht, daß für diese Wahl in allen Bezirken Berlins einheitliche
Regeln maßgeblich sein sollen. Von dem Begriff "Nähere" ist umfaßt nicht nur sozusagen
das Grundverfahren der Wahl, sondern auch die im Einzelfall erforderliche Methode zur
Auflösung einer etwaigen Pattsituation. Der eine wie der andere Gesichtspunkt schließt
die Annahme aus, eine Bezirksverordnetenversammlung sei befugt, selbst über ein
Verfahren zur Auflösung einer etwaigen Pattsituation zu befinden. Vielmehr ist ein
solches Verfahren durch Auslegung des § 35 Abs. 2 BezVerwG unter Berücksichtigung
namentlich der Anforderungen des Rechts der Fraktionen auf Chancengleichheit zu
ermitteln.
c) Die Verfassungsbeschwerde wäre im Ergebnis gleichwohl unbegründet, wenn die
Beschwerdeführerin durch das angegriffene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin
deshalb nicht in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt sein sollte, weil das von der
BVV 1989 zur Auflösung der in Rede stehenden Pattsituation gewählte Hare-Niemeyer-
Verfahren den Anforderungen des als ungeschriebenes Verfassungsrecht geltenden
Grundsatzes der Chancengleichheit der Fraktionen genügte. Das ist indes nicht der Fall.
Vielmehr wird diesen Anforderungen einzig das Losverfahren gerecht.
Der Landesgesetzgeber hat nach der - wie bereits gesagt - verfassungsrechtlich
unbedenklichen Auslegung des § 35 Abs. 2 BezVerwG durch das Oberverwaltungsgericht
Berlin in dieser Vorschrift angeordnet, die Ermittlung des Stärkeverhältnisses zur
Bestimmung des Vorschlagsrechts der Fraktionen für die Bildung des Bezirksamts habe
durch das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren zu erfolgen. Ergibt die Anwendung dieses
Maßstabs mit Blick auf - wie hier - das 7. Bezirksamtsmitglied für zwei Fraktionen die
gleiche Höchstzahl (Pattsituation), sind die beiden betreffenden Parteien insoweit kraft
der bindenden Bewertung durch das Gesetz ungeachtet des Umstands gleich stark, daß
die eine oder andere von ihnen tatsächlich mehr Wähler oder gar mehr Mitglieder in der
Bezirksverordnetenversammlung hat. Von dieser und nur von dieser Basis ist für die
Beantwortung der Frage auszugehen, welches Verfahren zur Auflösung der Pattsituation
den Anforderungen des Grundrechts auf Chancengleichheit der beiden "betroffenen"
Fraktionen entspricht. Das kann ausschließlich ein Verfahren sein, daß den beiden kraft
der gesetzlichen Bewertung gleich starken Fraktionen rechnerisch gleich hohe
Erfolgschancen vermittelt, das streitige Nominierungsrecht für das 7.
Bezirksamtsmitglied zu erhalten. Dazu ist lediglich das Losverfahren geeignet. Denn bei
jedem anderen Verfahren sei es das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren, sei es das Hare-
Niemeyer-Verfahren - steht mit der Entscheidung für dieses Verfahren im Einzelfall das
bei dessen Anwendung sich ergebende Ergebnis fest. Die Entscheidung für ein solches
Verfahren beinhaltet zugleich die Entscheidung für ein bestimmtes Ergebnis im Einzelfall,
sie eröffnet einem Beteiligten eine Erfolgschance von 100 v.H., also eine Gewißheit, und
beläßt dem anderen folglich nicht die geringste Chance. Es fehlt an einem Grund, der
eine derartige Ungleichbehandlung zweier nach der Bewertung des Gesetzes gleich
starker Fraktionen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen vermag.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin räumt zwar ebenfalls ein, daß das von der BVV 1989
für die Auflösung der Pattsituation gewählte Hare-Niemeyer-Verfahren zu einer
unverhältnismäßigen Begünstigung der ...-Fraktion und folglich zu einer
unverhältnismäßigen Benachteiligung der Beschwerdeführerin geführt hat. Es meint
allerdings, diese Ungleichbehandlung sei gerechtfertigt, weil das Hare- Niemeyer-
Verfahren ein rationales Prinzip zur Auflösung der Pattsituation sei, d.h., weil sachlich
einleuchtende Gründe für die Entscheidung zugunsten dieses Verfahrens sprächen.
Diese am allgemeinen Gleichheitssatz und dem Willkürverbot orientierte
Betrachtungsweise hält einer Überprüfung am Maßstab des Grundrechts der politischen
Parteien auf Chancengleichheit nicht stand.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VvB verbietet dem Gesetzgeber
lediglich eine willkürliche Gleichbehandlung (im wesentlichen) ungleicher und eine
willkürliche Ungleichbehandlung (im wesentlichen) gleicher Sachverhalte; er verlangt -
verkürzt ausgedrückt - nicht mehr und nicht weniger als die Abwesenheit von Willkür. Die
sich daraus ergebende Grenze wird deshalb erst dort überschritten, wo ein sachlich
einleuchtender, rechtfertigender Grund für eine Differenzierung bzw. Gleichbehandlung
fehlt (ebenso zum Bundesrecht unter anderem BVerfGE 17, 319 <330>). Nur die
Einhaltung dieser äußersten Grenze ist unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen
Gleichheitssatzes zu prüfen, nicht aber auch, ob im einzelnen die zweckmäßigste,
vernünftigste oder gerechteste Lösung gewählt worden ist. Etwas anderes gilt indes für
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vernünftigste oder gerechteste Lösung gewählt worden ist. Etwas anderes gilt indes für
den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (vgl Art 26 Abs 1 u. 54 Abs. 1 VvB und den damit
auf das engste im Zusammenhang stehenden Grundsatz der Chancengleichheit der
Parteien. Zwar handelt es sich bei diesen beiden Grundsätzen - wie dargelegt - um
Anwendungsfälle des allgemeinen Gleichheitssatzes. Doch unterscheiden sie sich von
dem allgemeinen Gleichheitssatz durch ihren formalen Charakter. Dieser Unterschied
zwingt mit Blick auf alle mit Wahlen zusammenhängenden Fragen grundsätzlich zu einer
schematischen Gleichheit. Deshalb bedürfen in diesem Bereich zu
Ungleichbehandlungen führende Bestimmungen stets eines besonderen,
rechtfertigenden, zwingenden Grundes (vgl. zum Bundesrecht unter anderem BVerfGE
51, 222 (235> mit weiteren Nachweisen). Der Gesetzgeber muß - mit anderen Worten -
bei einschlägigen Regelungen beachten, daß ihm insoweit enge Grenzen gezogen sind
und ihm jede unterschiedliche Behandlung von Parteien verfassungskräftig versagt ist,
die sich nicht durch einen zwingenden Grund rechtfertigen läßt (ebenso zum bayerischen
Landesrecht BayVerfGH in BayVBl. 1977, 271 <273>). An einem derartigen,
ausnahmsweise eine Durchbrechung des Grundsatzes der Chancengleichheit
erlaubenden Grund fehlt es hier. Mit dem Losverfahren steht ein verfassungsrechtlich
zulässiges, geeignetes und einfach handhabbares Verfahren zur Verfügung, das den -
im vorliegenden Fall - zwei betroffenen Fraktionen bei der Auflösung der Pattsituation
rechnerisch gleich hohe Erfolgschancen zur Erlangung des Nominierungsrechts für das
7. Bezirksamtsmitglied vermittelt. Zwingende Gründe, die die Anwendung des
Losverfahrens ausschließen und deshalb die Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens
zulassen könnten, sind nicht ersichtlich.
Daß das Losverfahren ein verfassungsrechtlich unbedenkliches und überdies geeignetes
Verfahren zur Auflösung einer Pattsituation ist, wird auch vom Oberverwaltungsgericht
Berlin anerkannt. Dies Verfahren stellt wie namentlich § 73 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 5 Satz
2 LWahlO deutlich macht - ein im Berliner Wahlrecht übliches Verfahren zur Auflösung
einer weder bei Anwendung des d'Hondtschen Höchstzahlverfahrens noch bei
Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens auszuschließenden Pattsituation für die
Verteilung von Mandaten auf verschiedene Bewerber dar; entsprechendes gilt für das
Bundeswahlrecht (vgl. § 5 Satz 3 BWG). Auch nach § 32 Abs. 4 HRG kann für die
Entscheidung zwischen ranggleichen Studienbewerbern "die Auswahl durch das Los
vorgesehen werden". Überdies hat es etwa das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE
84, 9 (24)) erst jüngst beim Streit um den Namen von Kindern aus Ehen, in denen sich
die Eheleute nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen konnten, für
"sachgerecht" gehalten, den Kindern vorläufig einen Doppelnamen zu geben und den
Standesbeamten hierfür die Reihenfolge der Namen durch Los ermitteln lassen. Mit
diesem Verfahren werde kein Elternteil benachteiligt, wie es etwa bei einer
alphabetischen Reihenfolge der Fall wäre.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 33 VerfGHG, die über die Auslagen der
Beschwerdeführerin auf § 34 Abs 1 VerfGHG.
Dieses Urteil ist unanfechtbar.
Abweichende Meinung
Sondervotum 1
1. Die Verfassungsbeschwerde ist nach meiner Auffassung unzulässig, weil die
Beschwerdeführerin im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nicht beteiligtenfähig ist.
Dem Verfassungsgerichtshof war daher die von ihm getroffene stattgebende
Sachentscheidung verwehrt.
Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof des Landes
Berlin richtet sich nach den §§ 49 bis 51 VerfGHG. § 49 Abs. 1 VerfGHG bestimmt, daß
jeder mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner
in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die
Verfassungsbeschwerde erheben kann. Diese Vorschrift regelt die Beteiligtenfähigkeit für
das Verfahren der Verfassungsbeschwerde, bezeichnet den Beschwerdegegenstand
sowie die Prüfungsmaßstäbe und bestimmt darüber hinaus die Anforderungen an die
Beschwerdebefugnis. Der Beschwerdeführerin des vorliegenden Verfahrens fehlt die
Beteiligtenfähigkeit.
2. Die Fähigkeit, im Verfahren der Verfassungsbeschwerde Rechte geltend zu machen,
hat nur, wer selbst Träger dieser Rechte ist (vgl. für das Bundesrecht Benda/Klein,
Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, Rdn. 361 f. m.w.Nachw.). Insofern prägt
der Prüfungsmaßstab die Anforderungen an die Beteiligtenfähigkeit (vgl. für das
Bundesrecht Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., 1991, § 12, Rdn. 18).
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a) Die Wendung "seine Rechte" in § 49 Abs. 1 VerfGHG meint die Grundrechte, die in der
Verfassung von Berlin enthalten sind dies unzweifelhaft in einem weiten, also auch
sogenannte grundrechtsgleiche Rechte umfassenden Sinne. Einbezogen sind also nicht
nur Rechte, die im II. Abschnitt ("Die Grundrechte") der Verfassung von Berlin
angesiedelt sind, sondern - beispielsweise - auch die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 26
Abs. 1 VvB oder das Recht auf einen Strafverteidiger aus Art. 65 Abs. 1 VvB. Die
Rechtslage ist damit derjenigen nach dem Bundesrecht vergleichbar. Zwar verzichten
Art. 72 Abs. 2 Nr. 4 VvB, und § 49 Abs. 1 VerfGHG auf die enumerative
Regelungstechnik, die in Art 93 Abs. 1 Nr. 4 GG bzw. § 90 Abs. 1 BVerfGG gewählt
worden ist. Die Berliner Vorschriften zählen die rügefähigen Rechte nicht im einzelnen
auf, sondern lassen es bei der Formulierung (seine) "Rechte" bewenden. Dies geschieht
allerdings unter Verwendung der Verfahrensbezeichnung "Verfassungsbeschwerde" und
in übrigen offenkundiger Anlehnung an den Wortlaut des Bundesrechts. Damit reiht sich
der Berliner Gesetzgeber erkennbar in die deutsche Prozeßrechtstradition ein.
"Jedermann" im Sinne von § 49 Abs 1 VerfGHG ist dementsprechend - der
Verfassungsgerichtshof hat dies bisher der Sache nach offengelassen (vgl. das Urteil
vom gleichen Tage - VerfGH 36/92 -) - nach meiner Auffassung (nur) jeder
Grundrechtsträger und jeder Träger als grundrechtsgleich zu qualifizierender Rechte.
Diese Sichtweise wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt. Anhaltspunkte dafür,
daß der Berliner Gesetzgeber andere Wege hätte beschreiten wollen, sind mir nicht
ersichtlich. So hätte ein von der Fraktion der CDU dem Abgeordnetenhaus vorgelegter
Entwurf eines VerfGHG (AH- Drs. 11/1066) ausdrücklich von "Grundrechten" gesprochen
und "jedermann" für berechtigt erklärt, insoweit Verfassungsbeschwerde zu erheben (§
18 des Entwurfs). Dem war die Mehrheit des Abgeordnetenhauses zwar nicht gefolgt.
Der derzeit geltende § 49 Abs. 1 VerfGHG geht vielmehr auf einen Entwurf zurück, den
die Fraktionen der SPD und der Grünen/AL gemeinsam eingebracht hatten (AH-Drs.
11/1113, § 50 Abs. 1 des Entwurfs). Es ist aber nirgends zu erkennen, daß die
Entscheidung der Ausschüsse und des Plenums des Abgeordnetenhauses für den
letztgenannten Entwurf auf irgendwelche im vorliegenden Zusammenhang bedeutsame
Differenzen zurückgingen. Vielmehr wurde die Übereinstimmung in der Sache betont
und von der Mehrheit darauf verwiesen, der ... Entwurf sei "umständlich", wohingegen der
Entwurf der den seinerzeit amtierenden Senat stützenden Fraktionen die Qualität
aufweise für den Bürger leichter verständlich zu sein (so etwa die Äußerung der
Abgeordneten Künast auf der 31. Sitzung des Rechtsausschusses vom 18.10.1990).
Auch in den Beratungen zu Art 72 VvB in der derzeit geltenden Fassung ist, soweit
ersichtlich, nicht erwogen worden, mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbare Rechte
sollten andere Rechte sein als Grundrechte. Laut dem Wortprotokoll des Ausschusses für
die Vorbereitung der Einheit Berlins (West), 6. Sitzung vom 13. Juli 1990 benannte etwa
der Abgeordnete Dr. K. einzelne Meinungsunterschiede, wobei es aber darum ging, ob
überhaupt eine Individualverfassungsbeschwerde eingeführt und in welches Verhältnis
sie zur bundesrechtlich eröffneten Verfassungsbeschwerde gebracht werden solle. Auf
das Bestehen eines Konsenses zu der Frage, welche Rechte mit der
Verfassungsbeschwerde gerügt werden können und wer demzufolge in diesem
Verfahren beteiligtenfähig ist, deutet schließlich wohl auch die Bemerkung des
Abgeordneten Dr. ... in der Plenardebatte des Abgeordnetenhauses vom 30.8.1990 aus
(Prot. S. 1972), wonach in Berlin die Verfassungsbeschwerde "der Bürger" ermöglicht
werden solle. Die Entstehungsgeschichte bestätigt also, worauf bereits der Wortlaut der
Vorschriften in seiner Gesamtheit deutet: Rügefähig im Verfahren nach Art. 72 Abs. 2 Nr.
4 VvB und gemäß § 49 Abs. 1 VerfGHG sind ausschließlich Grundrechte und ihnen
vergleichbare Rechte.
b) Die Beschwerdeführerin rügt allerdings durchaus die Verletzung eines Grundrechts,
nämlich des in Art. 6 Abs. 1 VvB enthaltenen Gleichheitssatzes, und beruft sich in
diesem Zusammenhang auch auf den Grundsatz der "Chancengleichheit der politischen
Parteien". Sie hält sich für grundrechtsfähig, wobei sie sich zu Begründung auf
Vorschriften des einfachen Rechts beruft. Die Mehrheit des Verfassungsgerichtshofes
leitet die Grundrechtsfähigkeit der beschwerdeführenden Fraktion vor allem daraus ab,
daß diese sich als "Zusammenfassung der Vertreter" der ... in der
Bezirksverordnetenversammlung darstelle; die ... "firmiere" dort als Fraktion. Diese
Sichtweisen sind nicht tragfähig.
Träger von Grundrechten sind natürliche Personen und, soweit das Wesen einzelner
Grundrechte dies zuläßt (vgl für das Bundesrecht Art. 19 Abs. 3 GG), auch jedenfalls
inländische juristische Personen des Privatrechts sowie auch nicht oder nur teilweise
rechtsfähige Gebilde. Juristischen Personen des öffentlichen Rechts kann nur höchst
ausnahmsweise die Grundrechtsfähigkeit zustehen, ihren Teilen jedenfalls nur dann,
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ausnahmsweise die Grundrechtsfähigkeit zustehen, ihren Teilen jedenfalls nur dann,
wenn das Gesamtgebilde selbst über eine - dann immer partielle - Grundrechtsfähigkeit
verfügt (vgl. etwa BVerfGE 15, 256, 261 f.), Das mag hier in den Einzelheiten auf sich
beruhen. Von der Bezirksverordnetenversammlung oder dem Bezirk selbst kann die
Beschwerdeführerin jedenfalls eine zur Grundrechtswahrnehmung befähigende
Rechtsstellung schon nach dem oben Gesagten nicht herleiten, denn diese verfügen
nicht über Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte.
Eine Fraktion ist ein Zusammenschluß von Mandatsträgern innerhalb eines gewählten
(hier: Verwaltungs-)Organs, wobei diese Mandatsträger grundsätzlich derselben
politischen Partei angehören. Fraktionen haben innerhalb von Parlamenten oder hier -
der Bezirksverordnetenversammlung eigene organschaftliche Rechte inne. Die
Fraktionen innerhalb von Verfassungsorganen sind deshalb parteifähig im
verfassungsgerichtlichen Organstreitverfahren. Die Fraktionen innerhalb anderer
öffentlich-rechtlich geordneter gewählter Organe können ihre organschaftlichen Rechte
gegebenenfalls im verwaltungsrechtlichen Organstreit zur Geltung bringen. Dabei wird
um Kompetenzen und um solche subjektiven Positionen gestritten, die sich zwar
verwaltungsprozessual als zur Klage befugende Rechte vgl. § 42 Abs 2 VwGO) darstellen
können, aber weder Grundrechte noch auch subjektive Rechte im Sinne des Art. 19 Abs.
4 GG sind (vgl. Schmidt Aßmann, in; Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 1991, Art. 19 IV,
Rdn. 42 bis 44, 148), Wird ein derartiger Streit - wie hier verwaltungsgerichtlich
ausgetragen, so ändert dies das Rechtsverhältnis zwischen den streitenden Parteien -
hier: der Fraktion und der Bezirksverordnetenversammlung - nicht etwa derart, daß
nunmehr der Fraktion eine Berufung auf Grundrechte gegenüber der
Bezirksverordnetenversammlung möglich wäre. Allenfalls käme in Betracht, daß die
angerufenen Verwaltungsgerichte ihrerseits auf das gerichtliche Verfahren bezogene
Grundrechte verletzt hätten, wie sie jedem zustehen, "der von dem Verfahren eines
Gerichts der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar betroffen wird" (so BVerfGE 12, 6,
8; vgl. im übrigen Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1,
1988, S. 1447, 1155). Dafür ist hier nichts vorgetragen oder ersichtlich.
c) Die Fraktionen sind auch nicht etwa deshalb Grundrechtsträger (und damit
beteiligtenfähig im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde), weil sie grundsätzlich in
Anknüpfung an die Parteizugehörigkeit der Mandatsträger gebildet werden. Es ist zwar
richtig, daß die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien nicht ohne Konsequenzen für
die Stellung der Fraktionen innerhalb des Organs ist, in dem sie wirken (vgl. z.B. für die
Fraktionen im Deutschen Bundestag BVerfGE 10, 4, 14; 80, 188, 223). Daß politische
Parteien sich gegenüber dem Staat auf einzelne Grundrechte berufen können (dazu
etwa Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl., 1972, S. 229 ff.), bedeutet
jedoch nicht, daß aufgrund der Parteizugehörigkeit gebildete Fraktionen als Teile eines
Verwaltungsorgans Grundrechte geltend machen könnten.
Die Mehrheit des Verfassungsgerichtshofes verkennt m.E. das Verhältnis von politischen
Parteien und gemäß § 5 Abs. 3 BezVerwG gebildeten Fraktionen, worauf jedenfalls die
Wendung deutet, erstere "firmierten" in Bezirksverordnetenversammlungen als die
letzteren. Das mag man im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs so ausdrücken
können, und es mag auch dem Selbstverständnis von Fraktionen und von politischen
Parteien teilweise oder überwiegend entsprechen. Rechtlich ist die Wendung jedoch
unergiebig und auch irreführend, wie sie sodann gezogenen Schlußfolgerungen erweisen.
Denn die Fraktionen sind nicht ein organisatorischer Teil der politischen Parteien,
sondern deren funktionale Erscheinungsformen in den gewählten
Vertretungskörperschaften (etwa Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, 1982, Rdn 76 m. w.
Nachw), ohne aber dort deren Grundrechte geltend machen zu können. Die Parteien
ihrerseits sind gewiß gesellschaftliche nicht staatliche Erscheinungen, ungeachtet ihres
auch öffentlich-rechtlichen Status (s. dazu grundlegend Hesse, VVDStRL 17, 1959, 11,
35, 44 f.; vgl. auch Kunig, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd II, 1987, §
33, Rdn. 50 ff. m. w. Nachw.); ihr Wirken bestimmt das Handeln der von ihnen zur Wahl
gestellten Mandatsträger und folglich auch dasjenige der von diesen Mandatsträgern
gebildeten Fraktionen mit. Daraus folgt jedoch nicht, daß einzelne Abgeordnete oder
Fraktionen innerhalb gewählter Organe die Rechtsstellung der Parteien als eine
derjenigen des Bürgers unter Umständen vergleichbare Rechtsstellung einnähmen.
3. Da die vorliegende Verfassungsbeschwerde bereits mangels Beteiligtenfähigkeit
unzulässig ist, kommt es auf weitere Bedenken gegenüber der Zulässigkeit,
insbesondere auf die Frage, ob die in einer nicht mehr amtierenden
Bezirksversammlung früher gebildete Fraktion noch Rechte vor dem
Verfassungsgerichtshof geltend machen kann bzw. ob - wie die Mehrheit es ausdrückt -
eine in einer später gewählten Bezirksverordnetenversammlung gebildete Fraktion
"Rechtsnachfolgerin" der Fraktion einer früher amtierenden
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"Rechtsnachfolgerin" der Fraktion einer früher amtierenden
Bezirksverordnetenversammlung sein kann, nicht an. Dahinstehen soll hier auch, ob die
Anforderungen richtig bemessen sind, die die Mehrheit des Verfassungsgerichtshofes in
diesem Verfahren an das Vorliegen einer - für den Erfolg einer
Urteilsverfassungsbeschwerde vorausgesetzten - spezifischen
Verfassungsrechtsverletzung stellt.
4. Eine Sachentscheidung war dem Verfassungsgerichtshof danach verwehrt. Man mag
das rechtspolitisch bedauern, denn es ist nicht zu verkennen, daß sowohl § 35 Abs. 2
BezVerwG wie auch der (in dem vorliegenden Verfahren allerdings nicht
entscheidungserhebliche) Art. 87a Abs 2 S. 4 VvB in der Praxis Schwierigkeiten bei der
Wahl der Mitglieder der Bezirksämter nicht verhütet haben. Aber auch die Wahrung der
Zuständigkeitsgrenzen, die dem Verfassungsgerichtshof gezogen sind, ist von
erheblichem rechtspolitischen Gewicht. Dessen ungeachtet; Sie ist gesetzlich gefordert
(Art. 64 VvB). Der Gesetzgeber, nicht ein Verfassungsgericht, verantwortet das
materielle und das Prozeßrecht (treffend Pestalozza, aaO., § 1 Rdn. 2; s. auch etwa
BVerfGE 2, 143, 181). Über die materielle Rechtslage darf nur befunden werden, wenn
das Prozeßrecht dies zuläßt.
Sondervotum 2
Ich halte die Verfassungsbeschwerde nicht für zulässig, sie wäre im übrigen auch nicht
begründet.
Die in § 49 Abs. 1 VerfGHG für "Jedermann" eingeräumte Verfassungsbeschwerde
entspricht, wie auch die erkennende Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs annimmt,
dem herkömmlichen Begriff, wie er auch der Verfassungsbeschwerde zum
Bundesverfassungsgericht zugrundeliegt, und setzt damit die Verletzung von
Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten voraus. Der Beschwerdeführerin als
Fraktion einer Berliner Bezirksverordnetenversammlung fehlt jedoch hinsichtlich der als
verletzt behaupteten Rechte die Grundrechtsfähigkeit. Die gemäß § 61 Ziff. 2 VwGO
bestehende Beteiligungsfähigkeit der Beschwerdeführerin in dem vorangegangenen
verwaltungsgerichtlichen Organstreitverfahren macht die Beschwerdeführerin wie jede
andere Partei eines gerichtlichen Verfahrens zum Träger spezifischer
Verfahrensgrundrechte, wie sie für den Bundesbereich in Art. 101, 103 und 104 GG
niedergelegt sind. Es kann hier unerörtert bleiben, ob und inwieweit auch die Verfassung
von Berlin entsprechende Verbürgungen enthält, da die Beschwerdeführerin nicht
geltend macht, ihre Rechtsbeeinträchtigung beruhe auf der Verletzung solcher
verfahrensrechtlicher Gewährleistungen der Verfassung. Außerhalb dieses Bereichs ist
dem Staat und seinen Untereinheiten aber ein Grundrechtsschutz grundsätzlich versagt.
Wie das Bundesverfassungsgericht für die Grundrechte nach dem Grundgesetz in
ständiger Rechtsprechung überzeugend angenommen hat, kann der Staat nicht
gleichzeitig Adressat und Berechtigter der Grundrechte sein und sind die
Kompetenzkonflikte innerhalb des staatlichen Organisationsbereichs nicht als
grundrechtsrelevant anzusehen (vgl. etwa BVerfGE 21, 362 <370 f.>). Entgegen der
Auffassung der Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs ist auch die Beschwerdeführerin
als Fraktion einer Berliner Bezirksverordnetenversammlung dem Bereich organisierter
Staatlichkeit zugeordnet und eingegliedert. Es handelt sich gerade nicht um den
notwendigerweise staatsfernen Bereich politischer Willensbildung der Bürger als einzelne
oder in Gruppierungen, insbesondere in politischen Parteien. Die Fraktionen in den
Bezirksverordnetenversammlungen von Berlin sind keine Parteiuntergliederungen,
sondern der im Interesse der Arbeitsfähigkeit des Gremiums vorgesehene
Zusammenschluß von weisungsfreien Inhabern des öffentlichen Mandats eines
Bezirksverordneten. Zur Rechtsstellung der Fraktionen des Bundestages und der
einzelnen Abgeordneten bei der Wahrnehmung ihrer Funktionen hat das
Bundesverfassungsgericht überzeugend angenommen, daß insoweit nicht die für den
Wahlkampf anerkannten Bürgerrechte auf Chancengleichheit als grundrechtliche
Sicherung aus Art. 3 und 21 GG maßgebend sind, sondern die Regelungen über den
Abgeordnetenstatus nach Art. 38 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 70, 324 <362 f.>). Diese
Grundsätze gelten über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG unmittelbar auch
in den Ländern, und zwar nicht nur für die Landesparlamente, sondern auch für
Gemeindevertretungen, die als demokratisch gewählte Beschlußorgane insoweit dem
Bereich der Legislative zuzuordnen sind (vgl. BVerfGE 32, 346 <361>). Auch wenn die
Berliner Verwaltungsbezirke als rechtlich unselbständige Gliederungen einer
Einheitsgemeinde nicht unter die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs.2 GG fallen
(vgl BVerfGE 83, 60 für die Hamburgischen Bezirksversammlungen) und der
Funktionsbereich der Bezirksverordnetenversammlungen nach der Verfassung von
Berlin enger abgegrenzt ist, üben deren Mitglieder als demokratisch legitimierte
Repräsentanten Staatsgewalt aus Ihr Funktionsbereich kann ebensowenig wie derjenige
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Repräsentanten Staatsgewalt aus Ihr Funktionsbereich kann ebensowenig wie derjenige
der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin dem grundrechtlich geschützten
Rechtsbereich des Bürgers zugeordnet werden Daß der Gesetzgeber die Fähigkeit,
Antragsteller oder Antragsgegner eines verfassungsgerichtlichen Organstreits um
verfassungsmäßige Rechte und Pflichten zu sein, nur den in § 14 Nr. 1 VerfGHG
genannten Beteiligten und damit nicht auch den Mandatsträgern auf der Ebene der
Verwaltungsbezirke zugemessen hat, vermag einen mit der Verfassungsbeschwerde
durchsetzbaren Grundrechtsschutz für innerstaatliche Kompetenzkonflikte auf dieser
Ebene nicht zu eröffnen.
Nicht zu überzeugen vermag auch die von der Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs
vertretene Auffassung, daß die aus den Wahlen 1992 hervorgegangene jetzige ...-
Fraktion der Bezirksverordnetenversammlung das Verfassungsbeschwerdeverfahren der
mit dem Ende der vorigen Amtsperiode untergegangenen ursprünglichen
Beschwerdeführerin zulässigerweise fortführen könne. Die entsprechende Praxis in
verfassungsgerichtlichen Organstreitigkeiten ist auf die Fortführung identischer
öffentlicher Aufgaben gestützt, was die analoge Übertragung auf die Verteidigung eines
angeblich grundrechtlich geschützten Individualrechts ausschließt. Zumindest sollte bei
einer Urteilsverfassungsbeschwerde dann stets berücksichtigt werden, ob auch das für
das Ausgangsverfahren maßgebliche Verfahrensrecht eine solche gewillkürte Nachfolge
in die Rechtsstellung eines weggefallenen Beteiligten zuläßt.
Ferner vermag ich mich auch nicht der Meinung anzuschließen, daß das
Oberverwaltungsgericht Berlin in dem angegriffenen Urteil mit der Billigung des
Vorgehens, eine nach dem Zählverfahren nach d'Hondt bestehende Patt- Situation beim
Recht zur Benennung des 7. Stadtrats durch Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens
zu lösen, nicht lediglich ein einfaches Gesetz unzutreffend ausgelegt, sondern gegen
spezifisches Berliner Verfassungsrecht verstoßen habe. Für die im Jahre 1989
durchgeführten Wahlen zu den Bezirksvertretungen in Berlin war noch nicht durch die
Verfassung vorgeschrieben (wie später mit Art. 87a Abs.2 Satz 4 VvB für die im Jahre
1992 durchgeführten Wahlen), daß das Vorschlagsrecht für die Besetzung der
Stadtratsposten nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen der
Bezirksverordnetenversammlung ausgeübt werden sollte. Eine diesbezügliche Regelung,
die die Bildung eines "politischen Bezirksamts" durch Koalitionsabsprachen einzelner
Fraktionen ausschließen sollte, war allein durch einfaches Gesetz in § 35 Abs. 2
BezVerwG getroffen. Der Gesetzgeber wäre durch die Verfassung nicht gehindert
gewesen, diese Regelung grundlegend zu verändern. Erst recht stand ihm die Befugnis
zu, die Einzelheiten des anzuwendenden Berechnungsverfahrens über die Zuordnung
rechnerischer Stimmenbruchteile festzulegen und die Methoden zur Auflösung von Patt-
Situationen zu bestimmen. Die vom Oberverwaltungsgericht Berlin im Wege der
Auslegung und richterlichen Lückenfüllung vertretene Auffassung, daß jedenfalls zur
Behebung einer Patt-Situation das Hare- Niemeyer-Verfahren angewandt werden dürfe,
liegt also nicht außerhalb des Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber zur
Verfügung stand. Sie liegt aber auch nicht außerhalb des Bereichs, der den nach Art. 64
VvB an die Gesetze gebundenen Richtern von der Verfassung fur die Auslegung von
Gesetzen übertragen ist. Daß der Gesetzgeber weder in § 35 Abs. 2 BezVerwG noch an
anderer Stelle eine ausdrückliche Regelung darüber getroffen hat, nach welcher
Berechnungsmethode die Vorschlagsrechte der Fraktionen zu ermitteln sind und wie bei
einem Patt-Verhältnis zu verfahren ist, führt nicht etwa schon von Verfassungs wegen
zum Eingreifen vorgegebener fester Regeln, etwa einem verfassungsrechtlich verbürgten
Anspruch auf Verlosung bestimmter Vorschlagsrechte. Die Auslegungsbedürftigkeit
einer gesetzlichen Vorschrift nimmt ihr noch nicht die nach dem Rechtsstaatsprinzip zur
Wirksamkeit erforderliche hinreichende Bestimmtheit (vgl. BVerfGE 78, 205 <212 f.>).
Daß die Betroffenen die Rechtslage hier unter Anwendung der herkömmlichen
Auslegungsmethoden erkennen und ihr Verhalten danach einrichten konnten, ergibt
schon die bisherige Praxis der Verwaltungsgerichte. Wie mit Recht allgemein anerkannt
ist (vgl. etwa BVerfGE 34, 269 <286 ff.>), sind die Gerichte nach der
Verfassungsordnung nicht lediglich auf die Umsetzung gesetzgeberischer Weisungen in
den Grenzen des möglichen Wortsinns verwiesen, sondern auch zur Lückenfüllung unter
Übertragung anderweitig niedergelegter gesetzgeberischer Wertungen oder notfalls
auch zu rechtsfortbildender Gestaltung nach den Maßstäben der praktischen Vernunft
und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft berufen.
Mit Recht hält es auch die die Entscheidung tragende Mehrheit des
Verfassungsgerichtshofs hier für eine legitime richterliche Auslegung, daß das
Oberverwaltungsgericht Berlin angenommen hat, die Berechnungsprobleme seien in
erster Linie nach der früher in verschiedenen Wahlgesetzen ausdrücklich vorgesehenen
und auch sonst verbreitet praktizierten d'Hondt-Methode zu lösen. Ob diese Anwendung
einfachen Rechts auch weiterhin zu überzeugen vermag, obwohl die ursprünglich zur
Gesetzesanalogie herangezogenen Vorschriften zwischenzeitlich überwiegend
Gesetzesanalogie herangezogenen Vorschriften zwischenzeitlich überwiegend
zugunsten des Hare-Niemeyer-Verfahrens geändert worden sind, unterliegt nicht der
verfassungsgerichtlichen Beurteilung. Dann kann jedoch entgegen der
Mehrheitsmeinung des Verfassungsgerichtshofs auch das Auslegungsergebnis des
Oberverwaltungsgerichts Berlin hinsichtlich des Verfahrens zur Patt-Auflösung nicht von
Verfassungs wegen beanstandet werden, es handelt sich insoweit in gleicher Weise um
die verfassungsrechtlich unangreifbare Anwendung einfachen Rechts.
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