Urteil des VerfG Nordrhein-Westfalen vom 26.05.2010

VerfG Nordrhein-Westfalen: gebot der sachgerechtigkeit, entlastung, arbeitsmarkt, rückgriff, heizung, gleichbehandlungsgebot, vergleich, kreis, gesundheit, ausführung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verfassungsgerichtshof NRW, VerfGH 17/08
26.05.2010
Verfassungsgerichtshof NRW
Verfassungsgerichtshof für das Land NRW
Urteil
VerfGH 17/08
Anlage A zu § 7 Abs. 3 des Gesetzes zur Ausführung des Zweiten
Buches Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen (AG-SGB II
NRW) i. d. F. des Ersten Gesetzes zur Änderung des AG-SGB II NRW
vom 19. Juni 2007 (GV. NRW. S. 207 f. sowie GV. NRW. S. 237 ff.) ist mit
Art. 78 Abs. 1 der Landesverfassung unvereinbar.
Die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer sind vom Land
Nordrhein-Westfalen zu erstatten.
G r ü n d e :
A.
Die Beschwerdeführer – vier kreisfreie Städte und fünf Kreise in Nordrhein-Westfalen sowie
die Städteregion Aachen – wenden sich gegen die Anlage A zu § 7 Abs. 3 des Gesetzes
zur Ausführung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen
(AG-SGB II NRW) i. d. F. des Ersten Änderungsgesetzes vom 19. Juni 2007 (GV. NRW. S.
207, 237). Sie machen geltend, das in § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW geregelte Verfahren zur
Verteilung von Zuweisungen sei unvereinbar mit dem Recht auf gemeindliche
Selbstverwaltung, weil die zur Ermittlung des Verteilungsmaßstabs heranzuziehenden
Daten der Anlage A fehlerhaft seien.
I.
1.
24. Dezember 2003 ("Hartz IV", BGBl. I S. 2954) sind die staatlichen Leistungen der
Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfebedürftige mit Wirkung vom
1. Januar 2005 zu einer einheitlichen Leistung, der Grundsicherung für Arbeitssuchende
("Arbeitslosengeld II"), zusammengeführt worden. Die kommunalen Träger (Kreise und
kreisfreie Städte) tragen insbesondere die Aufwendungen für die Unterbringung der
Empfänger der neuen Leistung (Kosten für Unterkunft und Heizung). Für die Kreise und
kreisfreien Städte ergeben im Vergleich zu der alten Rechtslage teils finanzielle
Entlastungen bei den aufzuwendenden Leistungen und teils neue Belastungen. Die Netto-
Entlastung der Kommunen wurde bundesweit mit 2,5 Mrd. € veranschlagt. Um eine
jährliche Entlastung in dieser Höhe sicherzustellen, beteiligt sich der Bund an den
kommunalen Leistungen für Unterkunft und Heizung (vgl. § 46 Abs. 5 SGB II). § 46 Abs. 6
SGB II a.F. sah vor, dass die Höhe der Bundesbeteiligung zum 1. März 2005 und 1.
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Oktober 2005 zu überprüfen und gegebenenfalls rückwirkend für das Jahr 2005
entsprechend anzupassen war. Im Hinblick darauf verständigten sich die kommunalen
Spitzenverbände in Abstimmung mit den Bundesländern zum Jahresbeginn 2005
bundesweit darauf, eine Datenerhebung zu den Belastungen und Entlastungen der
kommunalen Träger durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt durchzuführen (Kommunale Datenerhebung 2005). Dabei wurden in Bezug
auf die Entlastungen einmalig bestimmte Entlastungswerte auf der Basis der
Bestandsdaten zum 31. Dezember 2004 erhoben.
2.
Reform des Wohngeldrechts, die zu einer Reduzierung der Länderausgaben für das
Wohngeld führte. Die für den Landeshaushalt NRW erwartete Entlastung (405 Mio. €) sollte
dauerhaft den Kommunen zu Gute kommen. Ab dem Haushaltsjahr 2006 wurde die
Verteilung der finanziellen Entlastung des Landes bei den Wohngeldzahlungen auf die
kommunalen Träger im Gesetz zur Ausführung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für
das Land Nordrhein-Westfalen (AG-SGB II NRW) vom 16. Dezember 2004 (GV. NRW. S.
821) geregelt. § 7 Abs. 7 AG-SGB II NRW i. d. F. des Gesetzes zur Umsetzung von
Regelungen des Sozialgesetzbuchs vom 27. Juni 2006 (GV. NRW. S. 292) bestimmte,
dass das Verteilungssystem zum Stichtag 1. Oktober 2006 mit dem Ziel zu überprüfen war,
einen Verteilungsmaßstab festzulegen, der die Be- und Entlastungen der kommunalen
Träger im Zuge der Umsetzung des SGB II berücksichtigte. Bezweckt war eine
Überprüfung anhand der Daten aus den amtlichen Statistiken und dem laufenden
Verwaltungsvollzug. Der Verteilungsmaßstab sollte zu einem Zeitpunkt festgelegt werden,
an dem mit den kommunalen Spitzenverbänden in Nordrhein-Westfalen Einvernehmen
über die zugrunde zu legenden Daten erzielt worden war (vgl. Landtag – LT – NRW, Drs.
14/1072, S. 11).
3.
des AG-SGB II NRW in den Landtag ein (LT NRW, Drs. 14/4208), mit dem u. a. der
Überprüfungsklausel in § 7 Abs. 7 AG-SGB II NRW a. F. Rechnung getragen werden sollte.
Im Vorfeld hatte das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes
Nordrhein-Westfalen die Kreise und kreisfreien Städte darüber informiert, dass der
Ermittlung der Be- und Entlastungsdaten die Ergebnisse der Kommunalen Datenerhebung
2005 zugrunde gelegt werden sollten. Die kommunalen Träger waren gebeten worden, die
sie betreffenden Zahlen zu überprüfen und etwaige Abweichungen mitzuteilen.
Der Gesetzentwurf sah ein zweistufiges Verfahren zur Ermittlung des neuen
Verteilungsmaßstabs vor (§ 7 Abs. 3). Auf der ersten Stufe waren die kommunalen
Entlastungsdaten gemäß Anlage A des Gesetzentwurfs (zuzüglich eines Betrags für die
jeweilige Bundesbeteiligung) von den kommunalen Belastungsdaten gemäß Anlage B
(bzw. ab 2008 gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 AG-SGB II NRW) abzuziehen. Verblieb danach bei
einem kommunalen Träger ein Belastungswert, war dieser vorab aus der Gesamthöhe der
Zuweisungen (Basisbetrag: 303.666.000 €) auszugleichen. Auf der zweiten Stufe wurde
dann der Restbetrag auf die kommunalen Träger entsprechend ihrem Anteil an den
Leistungen für Unterkunft und Heizung verteilt. Für den Fall, dass die Gesamthöhe der
Zuweisungen nicht ausreichte, um die eingetretenen Belastungen auszugleichen, war der
Verteilungsmaßstab proportional anzupassen (LT NRW, Drs. 14/4208, S. 18 ff.).
Der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales führte im Mai 2007 eine öffentliche
Anhörung von Sachverständigen durch, in der sich u. a. die Vertreter der kommunalen
Spitzenverbände sowie verschiedener kommunaler Träger äußerten (LT NRW,
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Ausschussprotokoll – APr –,14/427). Diese kritisierten die dem Gesetzentwurf zugrunde
gelegten Entlastungsdaten als nicht nachvollziehbar bzw. fehlerhaft. Sie rügten eine
uneinheitliche Datenerhebung zu den Entlastungseffekten und eine fehlende Plausibilität
der von den kommunalen Trägern gemeldeten Daten (vgl. LT NRW, Stellungnahmen
14/1130, S. 5; 14/1135, S. 5; 14/1136, S. 9; APr 14/427, S. 17, 43). Im weiteren Verlauf des
Gesetzgebungsverfahrens wurde das Datenmaterial teilweise korrigiert und der
Gesetzentwurf entsprechend berichtigt. Die Änderungen bei den Entlastungsdaten der
Anlage A beruhten im Wesentlichen darauf, dass einige Kommunen rechnerische
Korrekturen gemeldet hatten. Dabei handelte es sich überwiegend um Erhöhungen der
Entlastungswerte (vgl. LT NRW, APr 14/432, S. 14 ff.; APr 14/444, S. 2, 7; Drs. 14/4499, S.
8, 13).
Am 14. Juni 2007 verabschiedete der Landtag in zweiter Lesung das Gesetz zur Änderung
des AG-SGB II NRW in der Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 12. Juni 2007 (LT NRW, Drs. 14/4499) mit den
berichtigten Anlagen A und B (LT NRW, Plenarprotokoll 14/65, S. 7370). Es ist am 29. Juni
2007 zunächst ohne Abdruck der Anlagen A und B verkündet worden (GV. NRW. S. 207)
und, soweit es (u. a.) § 7 AG-SGB II NRW betrifft, am selben Tag in Kraft getreten (Art. 2 des
Gesetzes). Am 4. Juli 2007 wurde der Abdruck der Anlagen A und B in Gestalt einer
Gesetzesberichtigung nachgeholt (GV. NRW. S. 237).
§ 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW lautet:
(3) 1Die Gesamthöhe der Zuweisungen wird auf die Kreise und kreisfreien Städte unter
Berücksichtigung der jeweiligen Be- und Entlastungen durch das Vierte Gesetz für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt verteilt. 2Ziel ist es, dass bei jedem Kreis und
jeder kreisfreien Stadt Belastungen durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt vermieden und Entlastungen erreicht werden. 3Zur Ermittlung des
Verteilungsmaßstabes werden von den Belastungsdaten gemäß Absatz 4 die in Anlage A
enthaltenen Entlastungsdaten der Kreise und kreisfreien Städte und ein Betrag für die
Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft und Heizung gemäß Satz 4
abgezogen. 4Der Betrag für die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft und
Heizung errechnet sich aus dem im Auszahlungsjahr geltenden Prozentsatz nach § 46
Abs. 5 bis 10 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und den nach Absatz 4 maßgeblichen
Daten der Leistungen für Unterkunft und Heizung. 5Ergibt sich für einen Kreis oder eine
kreisfreie Stadt ein Belastungsbetrag, wird dieser vorab aus der Gesamthöhe der
Zuweisungen ausgeglichen. 6Der danach verbleibende Betrag der Gesamthöhe der
Zuweisungen wird im Verhältnis der nach § 6 Abs. 2 bis zum 28. Februar für das Vorjahr
gemeldeten Aufwendungen, auf deren Grundlage das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales Zahlungen gem. § 46 Abs. 10 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch geleistet
hat, auf die Kreise und kreisfreien Städte verteilt. 7Übersteigt die Summe der
Belastungsbeträge die Gesamthöhe der Zuweisungen, erfolgt die Verteilung in dem
Verhältnis des nach Satz 1 bis 5 ermittelten Belastungsbetrages zur Gesamthöhe der
Zuweisungen. 8Der Zuweisungsbetrag nach Satz 1 bis 7 wird durch die
Bezirksregierungen auf der Grundlage der durch das zuständige Ministerium ermittelten
Beträge festgesetzt.
Die Anlage A weist für jeden kommunalen Träger einen Gesamtentlastungswert aus, der
sich aus den jeweiligen kommunalen Entlastungswerten für die Bereiche "Hilfe zum
Lebensunterhalt (HLU)", "Krankenhilfe", "Hilfe zur Arbeit (HzA)" sowie "Personal und
Verwaltung" zusammensetzt. Die Werte für die ersten beiden Bereiche beruhen auf den
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von den Kommunen gemeldeten Daten. Für die beiden übrigen Entlastungskomponenten
hat der Gesetzgeber Landeswerte zugrunde gelegt. Der Verteilungsschlüssel zur
Bestimmung der einzelnen kommunalen Werte ergibt sich aus dem Anteil der – in der
Anlage A zahlenmäßig festgesetzten – kommunalen Bedarfsgemeinschaften zum
Jahresende 2004 (in %) an der Gesamtzahl der Bedarfsgemeinschaften in NRW.
II.
1.
Beschwerdeführer geltend, § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW i. V. m. Anlage A verletze ihr Recht
auf Selbstverwaltung aus Art. 78, 79 Satz 2 der Landesverfassung (LV NRW). Die
angegriffene Regelung verstoße auf Grund fehlerhafter Daten in der Anlage A gegen das
rechtsstaatliche Gebot der Sachgerechtigkeit sowie das Gebot der interkommunalen
Gleichbehandlung.
Die Beschwerdeführer beantragen,
festzustellen, dass das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 2007,
GVBl. 2007, S. 207 f. sowie GVBl. 2007, 237 ff. (Berichtigung) mit dem Recht der
Beschwerdeführer auf Selbstverwaltung aus Art. 78 Abs. 1, 79 Satz 2 LV insoweit
unvereinbar und daher nichtig ist, wie gemäß dem neugefassten § 7 Abs. 3 AG-SGB II
NRW zur Ermittlung des Verteilungsmaßstabs für die Zuweisungen des Landes an die
Kreise und kreisfreien Städte nach § 7 AG-SGB II NRW die in der Anlage A zu dem
angegriffenen Gesetz festgesetzten Entlastungsdaten der Kommunen von ihren
Belastungsdaten abgezogen werden.
Zur Begründung tragen sie vor:
a)
Zahlen zurückgegriffen. Die Daten seien nicht nur in sich selbst unstimmig und
offensichtlich unzutreffend, sondern wichen auch vielfach signifikant von den tatsächlichen
Entlastungswerten ab, die sich aus der bereits im Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens
verfügbaren amtlichen Jahresrechnungsstatistik und der Sozialhilfestatistik ergäben.
Zum Beleg für die geltend gemachten fehlerhaften Entlastungsdaten in der Anlage A zu § 7
Abs. 3 AG-SGB II NRW verweisen die Beschwerdeführer auf das von ihnen vorgelegte
finanzwissenschaftliche Gutachten von Junkernheinrich/Micosatt (2009).
b)
Ungleichbehandlung unter den betroffenen Kommunen. Es sei sachlich nicht zu
rechtfertigen, dass der Gesetzgeber im Jahr 2007 auf die überholten Daten aus der
Kommunalen Datenerhebung 2005 zurückgegriffen habe. Aus den amtlichen
Jahresrechnungs- und Sozialhilfestatistiken seien exakte Daten verfügbar gewesen.
Namentlich die Jahresrechnungsstatistik sei das Hauptanalyseinstrument von Finanzpolitik
und Finanzwissenschaft. Das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik (seit 1. Januar
2009: Landesbetrieb Information und Technik – IT – NRW) hätte ohne Weiteres unter
Rückgriff auf die amtlichen Statistiken die für die Wohngeldentlastungsverteilung
erforderlichen Daten bereitstellen können. Es sei offenkundig methodisch fehlerhaft und
damit generell unzulässig, anstelle valider Daten mit Unwägbarkeiten behaftetes und
überholtes Datenmaterial zugrunde zu legen. Ein methodisches Versäumnis des
Gesetzgebers liege auch vor, wenn er keine Vorkehrungen dafür treffe, dass die
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Kommunen zutreffende Daten meldeten. Eine Korrektur sei vom Ministerium für Arbeit,
Gesundheit und Soziales zwar versucht, jedoch nicht konsequent vorgenommen worden.
c)
berufen. Es gehe nicht um den Fall einer Prognoseentscheidung über die künftige
Entwicklung von Sachverhalten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht. Vielmehr habe
der Gesetzgeber rückblickend die entlastenden Wirkungen ermitteln wollen, die mit der
Umsetzung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
verbunden seien. Dabei handele es sich um die Feststellung eines abgeschlossenen
Sachverhalts.
2.
3.
Wesentlichen vor:
a)
kommunalen Selbstverwaltung vereinbare Ausgestaltung der kommunalen
Finanzausstattung dar. Sowohl der in § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW bestimmte
Verteilungsmaßstab als auch das zugrunde gelegte Datenmaterial der Anlage A seien
sachgerecht. Wenngleich die Beschwerdeführer sich nicht gegen das Verteilungssystem
als solches wendeten, sei es mit in den Blick zu nehmen. Diese Systementscheidung habe
vorprägende Wirkung für die Feststellung der dafür benötigten Haushaltsdaten. Der
Gesetzgeber habe sich zulässigerweise auf einen Verteilungsmaßstab festgelegt, der auf
Haushaltsdaten rekurriere, die ihm und auch der die Gesetzesinitiative vorbereitenden
Landesregierung nicht unmittelbar zur Verfügung stünden. Das Verteilungsmodell in § 7
Abs. 3 AG-SGB II NRW sei notwendig auf Daten angewiesen, die der Gesetzgeber nur von
kommunaler Seite erlangen könne und die zum Zeitpunkt der Verabschiedung der
Regelung teilweise noch nicht gesichert festgestanden hätten.
b)
unzulässig. Bezeichnender Weise habe der Verfassungsgerichtshof für das Land
Nordrhein-Westfalen in seiner Entscheidung vom 11. Dezember 2007 im Verfahren VerfGH
10/06 (OVGE 51, 272) eine generelle Verpflichtung des Landesgesetzgebers, bei
horizontalen Ausgleichsregelungen auf feststehende, richtige Haushaltsdaten
zurückzugreifen, nicht postuliert. Er dürfe sich vielmehr grundsätzlich auch auf geschätzte
und prognostizierte Daten stützen.
Gesetzgeberische Einschätzungen und Prognosen könnten vom Verfassungsgerichtshof
nur beanstandet werden, wenn sie im Ansatz oder in der Methode offensichtlich fehlerhaft
oder widerlegbar seien. Diese Voraussetzungen lägen in Bezug auf die in § 7 Abs. 3 AG-
SGB II NRW i. V. m. Anlage A getroffene Regelung nicht vor. Der Gesetzgeber sei sich
bewusst gewesen, dass die Datengewinnung darauf angelegt sein müsse, von den allein
auskunftsfähigen Kommunen möglichst valide Daten gemeldet zu bekommen. Dem trage
das gewählte Verfahren angemessen Rechnung. Verschiedene Elemente ergänzten
einander so, dass die angestrebte Validität der Daten nach Möglichkeit sichergestellt
werde.
c)
als Datengrundlage. Der Landesgesetzgeber habe sich im Kern dem Verfahren
anschließen wollen, das bereits der Bundesgesetzgeber mit Blick auf § 46 Abs. 5 SGB II
angewandt hätte, um die Höhe der Be- und Entlastung der Länder bzw. der Kommunen zu
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ermitteln. Die relevanten Haushaltsdaten, die in die Gesetzgebung eingeflossen seien,
seien also von der kommunalen Seite selbst generiert worden. Ferner habe die Beteiligung
aller kommunalen Spitzenverbände sichergestellt, dass sich nicht einseitig Interessen einer
bestimmten kommunalen Ebene hätten durchsetzen können. Zudem sei die Kommunale
Datenerhebung 2005 vom Statistischen Bundesamt begleitet und umgesetzt worden. Es
handele sich dabei um eine Behörde, die den Grundsätzen der Neutralität, Objektivität und
wissenschaftlichen Unabhängigkeit verpflichtet sei und auch bereits vom
Bundesverfassungsgericht herangezogen worden sei, um verlässliche Haushaltsdaten zu
erlangen. Darüber hinaus habe die Landesregierung den kommunalen Trägern im Rahmen
ihrer Vorarbeiten zu dem Gesetzentwurf die Gelegenheit zur Korrektur gegeben. Die
Aufforderung zur Korrektur mit Erlass vom 12. Januar 2007 sei nicht missverständlich
gewesen. Wenn gleichwohl einige Kommunen den Prüfauftrag missverstanden und nicht
zureichend beachtet hätten, könne darin kein methodisches Versäumnis der
Landesregierung oder des Gesetzgebers gesehen werden. Schließlich habe der
Gesetzgeber im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens die aus seiner Sicht offenkundig
unplausiblen Daten nochmals einer Korrektur unterzogen. In der Tat habe er nicht sicher
annehmen können, dass die von den betroffenen Kommunen gemeldeten Daten
umfassend zutreffend seien. Er habe jedoch davon ausgehen können, in einem nach
Ansatz und Methodik einwandfreien Verfahren die ihm zur Verfügung stehenden
Erkenntnismittel ausgeschöpft zu haben. Weitergehendes sei von ihm verfassungsrechtlich
nicht gefordert.
Der Rückgriff auf die Jahresrechnungs- und die Sozialhilfestatistik hätte keine dem
gewählten Verfahren überlegene Datenbasis geschaffen, sondern selbst nicht
unerhebliche Unsicherheiten und Mängel in die Ermittlung der Entlastungsdaten eingeführt.
Die Statistiken wiesen keine prinzipiell höhere Verlässlichkeit auf als die Rückmeldungen,
die im Gesetzgebungsverfahren zur Anlage A von den Kommunen angefordert worden
seien.
d)
nehmen. Darin sei zugleich eine mögliche gesetzgeberische Revision des § 7 Abs. 3 AG-
SGB II NRW einschließlich der Anlage A angelegt. Dies rechtfertige es zusätzlich, dass der
Gesetzgeber auf die Entlastungsdaten der Anlage A auch unter Inkaufnahme verbleibender
Unsicherheiten abgestellt habe.
B.
Die Verfassungsbeschwerden sind gemäß Art. 75 Nr. 4 LV NRW, § 52 Abs. 1 und 2 des
Verfassungsgerichtshofgesetzes (VerfGHG NRW) zulässig.
Insbesondere fehlt es nicht an der Beschwerdebefugnis. Die Beschwerdeführer können
geltend machen, durch die angegriffene Norm in ihrem Recht auf Selbstverwaltung nach
Art. 78 Abs. 1 LV NRW verletzt zu sein. Eine Verletzung dieses Rechts wegen Verstoßes
der beanstandeten Finanzzuweisungsregelung gegen das interkommunale
Gleichbehandlungsgebot erscheint nach dem Beschwerdevorbringen möglich. Die
behauptete Rechtsverletzung ist in den Ausführungen der fristgerecht eingereichten
Beschwerdeschrift hinreichend dargelegt. Hieraus ergibt sich, dass die Beschwerdeführer
durch die angegriffene Norm gegenüber anderen Kommunen benachteiligt sein können.
Sie wenden ein, die für einen Teil der Kreise und kreisfreien Städte zu niedrig
ausgewiesenen Entlastungsdaten in der Anlage A führten dazu, dass diese Kommunen auf
der ersten Stufe des Ausgleichsverfahrens mehr Zuweisungen erhielten, als ihnen auf
korrekter Datenbasis zustehen würde. Zum Beleg der Fehlerhaftigkeit der Anlage A geht
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die Beschwerdeschrift auf die Genese des Datenmaterials sowie die
Entstehungsgeschichte der Anlage A ein und leitet daraus verschiedene Fehlerquellen ab.
Aus den schlüssig aufgezeigten Unrichtigkeiten bei den Entlastungsdaten der Anlage A
folgt für die zweite Stufe des Ausgleichsverfahrens, dass entsprechend weniger
Finanzmittel zur Verteilung an alle Kreise und kreisfreien Städte verbleiben. Danach
können die Beschwerdeführer zunächst dadurch benachteiligt sein, dass andere
Kommunen ungerechtfertigter Weise bevorzugt werden, indem ihnen auf der ersten Stufe
zu hohe Ausgleichsbeträge zugewiesen werden. Weiterhin kommt eine Benachteiligung
der Beschwerdeführer in der Weise in Betracht, dass der auf sie entfallende Anteil an den
Landeszuweisungen der zweiten Stufe geringer ausfällt als auf der Grundlage korrekter
Entlastungsdaten.
Auf das von den Beschwerdeführern erst nach Ablauf der Jahresfrist (§ 52 Abs. 2 VerfGHG
NRW) vorgelegte finanzwissenschaftliche Gutachten, mit dem sie ihr Vorbringen weiter
spezifizieren, kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Unberührt bleibt die
prozessuale Möglichkeit der Beschwerdeführer, die bereits mit der Beschwerdeschrift
hinreichend substantiierte Rechtsverletzung mit Hilfe des Gutachtens weiter zu
untermauern.
C.
Die Verfassungsbeschwerden sind begründet.
Anlage A zu § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW i. d. F. des Ersten Änderungsgesetzes vom 19.
Juni 2007 (GV. NRW. S. 207 f., S. 237 ff.) verletzt das Recht der Beschwerdeführer auf
Selbstverwaltung aus Art. 78 Abs. 1 LV NRW. Die angegriffene Regelung verstößt gegen
das interkommunale Gleichbehandlungsgebot.
I.
§ 7 AG-SGB II NRW ist eine Regelung zur Verteilung von Landesmitteln auf Kreise und
kreisfreie Städte. Dem Gesetzgeber ist ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt, nach
welchem System er Finanzmittel auf die Kommunen verteilt. Allerdings ergeben sich
Grenzen aus solchen Grundsätzen des Landesverfassungsrechts, die geeignet sind, das
verfassungsrechtliche Bild der kommunalen Selbstverwaltung mitzubestimmen. Begrenzt
wird der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum namentlich durch das interkommunale
Gleichbehandlungsgebot. Dieses verbietet, bestimmte Gemeinden oder
Gemeindeverbände auf Grund sachlich nicht vertretbarer Differenzierungen zu
benachteiligen oder zu bevorzugen. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die
Finanzzuweisungen nach einheitlichen und sachlich vertretbaren Maßstäben auf die
einzelnen Kommunen zu verteilen. Die Modalitäten des Verteilungssystems dürfen nicht zu
willkürlichen Resultaten führen (vgl. VerfGH NRW, OVGE 49, 271, 275 m. w. N.; OVGE 50,
306, 313; OVGE 51, 272, 283 f.).
Ob die Ausgestaltung des Verteilungssystems für die Zuweisung von Finanzmitteln
gemessen am interkommunalen Gleichbehandlungsgebot sachlich gerechtfertigt ist,
beurteilt sich auch danach, ob sich die gesetzgeberische Entscheidung an einer auf
objektivierbare Daten gründenden Lageanalyse ausrichtet (vgl. Tettinger, in:
Löwer/Tettinger, Kommentar zur LV NRW, Art. 79 Rn. 48.). Der Gesetzgeber darf auf nicht
hinreichend aussagekräftige Daten nur solange zurückgreifen, wie geeigneteres Material
(noch) nicht verfügbar ist (vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 249, 264/265).
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II.
Nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben verstößt § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW i. V.
m. Anlage A gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot. Angesichts der
Inkonsistenz und Fehlerhaftigkeit der Entlastungsdaten der Anlage A erweisen sich die
Daten als nicht hinreichend valide (unten 1.). Auf Grund der Mängel des Datenmaterials ist
davon auszugehen, dass ein Teil der Kommunen bevorzugt wird, indem sie auf der ersten
Stufe des Verteilungssystems höhere Finanzzuweisungen erhalten, als ihnen auf korrekter
Datenbasis zusteht. Weiter ist anzunehmen, dass bei einigen Kommunen die für sie
ausgewiesenen Entlastungsdaten (teilweise) zu hoch angesetzt sind und in der Folge die
Zuweisungen auf der ersten Stufe zu gering ausfallen. Diese Unrichtigkeiten auf der ersten
Zuweisungsstufe lassen besorgen, dass der für die zweite Stufe verbleibende Betrag der
Gesamthöhe der Zuweisungen geringer ist als auf der Grundlage korrekter Daten. Dadurch
kommt es zu weiteren Benachteiligungen, weil auf die einzelnen Kommunen ein
entsprechend geringerer Zuweisungsanteil entfällt. Für den Rückgriff des
Landesgesetzgebers auf das nicht hinreichend valide Zahlenmaterial fehlt es an einem
sachlichen Grund (unten 2.).
1.
unwidersprochen hingewiesen haben – erhebliche Plausibilitätsmängel und Fehler auf.
a)
Anlage A zu § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW ausgewiesene Anzahl der Bedarfsgemeinschaften
zum Jahresende 2004 (Spalte 2) bei zahlreichen Kommunen falsch ist. Lediglich 22
kreisfreie Städte und Kreise liegen im Toleranzbereich von 5 Prozentpunkten über oder
unter dem Erwartungswert und weisen damit eine relativ geringe Abweichung auf. Für 5
Städte und einen Kreis ergibt sich eine Abweichung nach unten im Bereich von 7,2
Prozentpunkten bis 37,7 Prozentpunkte. Die übrigen Kommunen kommen auf eine
Abweichung nach oben um mehr als 5 Prozentpunkte zur Sozialhilfestatistik. Besonders
augenfällig ist, dass in 27 Fällen die in der Anlage A ausgewiesene Anzahl der
Bedarfsgemeinschaften größer ist als der statistische Wert. Dies muss offenkundig falsch
sein, weil keine neuen Bedarfsgemeinschaften hinzugekommen sein können (vgl. Tab. 4
und Rn. 32 ff. des von den Beschwerdeführern vorgelegten Gutachtens).
Die Unrichtigkeiten bei der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften wirken sich bei den in der
Anlage A ausgewiesenen Entlastungsdaten für die Bereiche "HzA" (Spalte 6) und
"Personal und Verwaltung" (Spalte 7) auf Grund des Verteilungsschlüssels (vgl. Spalte 3)
unmittelbar aus. Bereits die Korrektur der Zahl der Bedarfsgemeinschaften für eine einzige
Kommune führt zu entsprechenden Folgeänderungen beim Verteilungsschlüssel und in der
Folge zu abweichenden Entlastungswerten in der Anlage A für alle Kommunen.
b)
Indikators "erhobene Entlastung insgesamt" (Spalte 8 in Anlage A) je "Anzahl der
Bedarfsgemeinschaften zum Jahresende 2004" (Spalte 2). Die durchschnittliche
Gesamtentlastung pro Bedarfsgemeinschaft beträgt 7.498 €. Um diesen Mittelwert streuen
die Werte für die einzelnen Kommunen zum Teil beträchtlich. So kommen beispielsweise
die Städte Bottrop und Krefeld auf Werte von lediglich 6.230 € und 6.286 €, während die
Städte Münster und Bonn Werte von 9.129 € und 9.073 € erreichen. Die maximale
Spannweite ergibt sich im Verhältnis der Städte Aachen mit 5.894 € und Dortmund mit
9.384 € (vgl. Abb. 1 und Rn. 26 f. des Gutachtens).
c)
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Daten für die Entlastung im Bereich der Krankenhilfe. Anhand des Indikators "erhobene
Entlastung Krankenhilfe" (Spalte 5) je "Anzahl der Bedarfsgemeinschaften zum
Jahresende 2004" (Spalte 2) ergibt sich eine durchschnittliche Entlastung pro
Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 513 €. Davon weichen 34 der insgesamt 54 Kommunen
um mehr als 25% nach oben oder unten ab. Im Maximum liegt die Spannweite bei den
kreisfreien Städten zwischen 45 € (Wuppertal) und 1.145 € (Münster), bei den Kreisen
zwischen 135 € (Rhein-Erft-Kreis) und 912 € (Rhein-Kreis Neuss, vgl. Abb. 3 und Rn. 29
des Gutachtens).
Unter Heranziehung der amtlichen Jahresrechnungsstatistik bestätigt sich dieser Befund.
Die Gegenüberstellung der Entlastungsdaten der Anlage A und der statistischen
Ausgabenwerten im Bereich der Krankenhilfe zeichnet die bereits bei der
Plausibilitätsprüfung festgestellten auffallend großen Abweichungen nach. Für zahlreiche
Kommunen ergeben sich signifikante Unter- oder Übererfassungen der Ausgaben für die
Krankenhilfe (vgl. Tab. 7 und Rn. 46 ff. des Gutachtens).
d)
A im Bereich der Hilfe zum Lebensunterhalt (Spalte 1) mit den Ausgabenwerten, die sich
für diesen Bereich aus den amtlichen Jahresrechnungs- und Sozialhilfestatistiken
entnehmen lassen. 24 Kommunen weichen um mehr als 10 Prozentpunkte nach oben bzw.
unten vom Erwartungswert ab. Die maximale Spannweite liegt zwischen einer Abweichung
nach unten von nahe 25 Prozentpunkten und einer Abweichung nach oben um mehr als 30
Prozentpunkten (Tab. 5 und Rn. 41 des Gutachtens).
e)
schlüsselorientierten Entlastungswerte der Anlage A im Bereich der Hilfe zur Arbeit (Spalte
6) mit den dazu erhältlichen Angaben aus der amtlichen Sozialhilfestatistik. Im Minimum
weist die Anlage A zu § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW 37,9% der Ausgaben laut
Sozialhilfestatistik aus, im Maximum mehrere 100%. Bei 12 von 54 Kommunen erreichen
die Entlastungsdaten der Anlage A nicht mehr als 75% des statistischen Ausgabenwerts.
Bei 18 Kommunen liegt der Wert der Anlage A mehr als 50% über der Sozialhilfestatistik
(vgl. Tab. 9 und Rn. 52 ff. des Gutachtens).
2.
II NRW ausgewiesenen Daten dem Erfordernis einer hinreichend validen Datengrundlage
nicht gerecht. Der Rückgriff des Landesgesetzgebers auf dieses ungenügende
Zahlenmaterial lässt sich nicht damit rechtfertigen, er sei auf Schätzungen und Prognosen
angewiesen gewesen. Im Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens war mit den amtlichen
Statistiken valide(re)s Datenmaterial verfügbar. Der Gesetzgeber war gehalten, auf diese
Daten zurückzugreifen, um einen Abgleich mit den Entlastungsdaten der Anlage A
vorzunehmen und diese schlüssig zu machen.
a)
Anlage A aufgenommenen Daten mit Unsicherheiten behaftet sind. Bereits die
Gesetzesbegründung zu § 7 Abs. 7 AG-SGB II NRW a. F. verwies darauf, dass der
Verteilungsmaßstab anhand der "Daten aus den amtlichen Statistiken und dem laufenden
Verwaltungsvollzug" überprüft werden sollte (LT NRW, Drs. 14/1072, S. 11; vgl. auch
Plenarprotokoll 14/20, S. 2029). Im Rahmen der öffentlichen Anhörung sprachen sich die
kommunalen Spitzenverbände für eine valide, das heißt statistisch oder durch
Haushaltsrechnungen abgesicherte Datenbasis aus und regten die Einbeziehung des
Landesamts für Datenverarbeitung und Statistik an (LT NRW, APr 14/181, S. 6 ff.).
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Spätestens aber seit der Kritik von kommunaler Seite im Gesetzgebungsverfahren zur
Neuregelung des Verteilungsverfahrens in § 7 AG-SGB II NRW musste dem Gesetzgeber
klar sein, dass die Daten der Anlage A fehlerträchtig waren. Die kommunalen
Spitzenverbände haben ausdrücklich angemerkt, dass die Berechnungsgrundlagen
(Kommunaldatenerhebung 2005) noch nicht ausreichend abgesichert waren. Sie
verwiesen auf Datenerfassungsfehler und Datenungenauigkeiten und mahnten eine
weitere Überprüfung an (LT NRW, Stellungnahme 14/1136, S. 9; APr 14/427, S. 17, 43).
b)
Kommunen gemeldeten Daten war eine systematische Überprüfung der Entlastungswerte
der Anlage A geboten, um Unrichtigkeiten erkennen und korrigieren zu können. Dabei ist in
den Blick zu nehmen, dass die Entlastungsdaten Bestandteil des Gesetzes geworden sind.
Entscheidet sich der Gesetzgeber, den Berechnungsgrundlagen für ein Verteilungssystem
zur Zuweisung von Landesmitteln Gesetzeskraft zu verleihen, unterliegt er in Bezug auf die
Validität der Daten besonderen Sorgfaltsanforderungen.
Eine Überprüfung der von den Kommunen gemeldeten Daten anhand der verfügbaren
amtlichen Statistiken war möglich und zumutbar. Die im Laufe des
Gesetzgebungsverfahrens vorgenommenen Korrekturen genügten ersichtlich nicht, die
Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen und eine hinreichend valide Datenbasis zu
gewährleisten. Unerheblich ist, dass auch die amtlichen Sozialhilfe- und Jahres-
rechungsstatistiken Fehler aufweisen mögen. Diesem Gesichtspunkt käme nur dann
Gewicht zu, wenn die vom Gesetzgeber gewählte Methode der Datenermittlung im
Vergleich zu den amtlichen Statistiken die Gewähr größerer Datenrichtigkeit böte. Das ist
aber nicht der Fall. Bei den amtlichen Statistiken handelt es sich um Datenerhebungen, die
auf normativer Grundlage erfolgen (vgl. z. B. §§ 121 ff. SGB XII, vormals §§ 127 BSHG; § 1
Nr. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 3, § 3 Abs. 2 des Finanz- und Personalstatistikgesetzes) und
regelmäßig durchgeführt werden. Dafür, dass diese Daten mit hoher Fehleranfälligkeit
erhoben werden, ist nichts ersichtlich.
c)
berufen, er habe sich mit den in der Anlage A ausgewiesenen Daten im Bereich zulässiger
Einschätzungen und Prognosen bewegt. Auf Einschätzungen und Prognosen darf sich die
gesetzgeberische Entscheidung stützen, soweit die sachliche Eignung oder die
tatsächlichen Auswirkungen einer Finanzausgleichsregelung kaum oder nur mit großen
Unsicherheiten voraussehbar sind (VerfGH NRW, OVGE 47, 249, 254; NWVBl. 1999, 136,
137; OVGE 51, 272, 280 m. w. N.). Um einen solchen Fall geht es hier nicht. Mit der Anlage
A zu § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW werden Ausgabenentlastungen erfasst, die infolge der
Umsetzung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zum 1.
Januar 2005 auf kommunaler Ebene eingetreten sind. Im Zeitpunkt des
Gesetzgebungsverfahrens im Jahr 2007 war die Umstellungsphase abgeschlossen. Die
Entlastungsdaten ließen sich mehr als zwei Jahre nach Beginn der Umsetzung ohne
Weiteres anhand tatsächlicher Werte ermitteln. Es handelt sich mithin um die rückblickende
Beurteilung eines abgeschlossenen Sachverhalts und nicht um die Prognose künftiger
Entwicklungen.
d)
hinreichend valide Daten zurückzugreifen. Gemäß § 9 Abs. 2 AG-SGB II NRW ist dem
Landtag bis zum 31. Dezember 2010 über die Erfahrungen mit dem AG-SGB II NRW zu
berichten. Der Verstoß gegen das interkommunale Gleichbehandlungsgebot wird mit
dieser gesetzlichen Regelung nicht ausgeräumt. Mit dem allgemeinen Berichtsauftrag
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bleibt völlig ungewiss, ob die Entlastungsdaten der Anlage A einer Revision unterzogen
werden sollen. Zugleich ist mit der Vorschrift nichts darüber gesagt, dass eine rückwirkende
Nachbesserung des Datenmaterials und eine Kompensation benachteiligter Kommunen
erfolgen werden. Insoweit hätte es einer ausdrücklichen gesetzlichen Formulierung bedurft,
der zu Folge die Zuweisungen nach § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW unter dem Vorbehalt einer
nachfolgenden endgültigen Abrechnung auf der Grundlage validierter Entlastungsdaten
stehen.
D.
Die Unvereinbarkeit der Anlage A zu § 7 Abs. 3 AG-SGB II NRW mit der Landesverfassung
(§ 52 Abs. 3 i. V. m. § 49 Satz 1 VerfGHG NRW) besteht seit Inkrafttreten der Vorschrift. Der
Gesetzgeber wird für einen Ausgleich der durch die verfassungswidrige Regelung
verursachten Nachteile zu sorgen haben.
E.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 54 Abs. 4 VerfGHG NRW.