Urteil des VerfG Brandenburg vom 02.04.2017

VerfG Brandenburg: minderheit, ausschuss, beweisantrag, zahl, verfassungsgericht, abstimmung, fraktion, plenum, behandlung, zusammensetzung

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Gericht:
Verfassungsgericht
des Landes
Brandenburg
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4/03
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 32 Abs 7 S 2 VerfGG BB
VerfG Potsdam: Versagung der Auslagenerstattung bei
Einstellung eines Organstreitverfahrens - Kostenerstattung nur
bei ausdrücklicher Anordnung
Gründe
A.
Die Antragstellerin wendet sich gegen den Ausschluß aus der Fraktion der
Antragsgegnerin.
I.
Die Antragstellerin war arbeitsmarkt- und ausbildungspolitische Sprecherin der
Antragsgegnerin. Im September 2002 fragte der Senator für Wirtschaft, Arbeit und
Frauen des Landes Berlin bei der Antragstellerin nach, ob sie Interesse habe, in seiner
Senatsverwaltung das Amt der Staatssekretärin zu übernehmen. Im Rahmen der
Vorgespräche stellte sich auch die - im Ergebnis wohl offengebliebene - Frage, ob der
Antragstellerin ihre bisherige Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin an der
Universität Konstanz (Februar 1995 bis Dezember 1997) und als Landtagsabgeordnete
anzurechnen sei und sie daher sofort als Staatssekretärin auf Lebenszeit verbeamtet
werden könne; eine Anrechnung von Tätigkeiten im öffentlichen Dienst auf die Probezeit
sieht das Berliner Recht vor. Am 24. September 2002 beschloß der Senat von Berlin die
Ernennung der Antragstellerin zur Staatssekretärin. Die Antragstellerin trat das Amt
nicht an.
Mit dieser Entscheidung befaßte sich die Antragsgegnerin in Gegenwart der
Antragstellerin am 01. Oktober 2002, entzog ihr „das Vertrauen für ihre weitere Arbeit
als Mitglied des Fraktionsvorstandes" und beauftragte aufgrund eines entsprechenden
Antrags des Abgeordneten Dr. Trunschke den Fraktionsvorstand, einen
Verfahrensvorschlag zum Ausschluß der Antragstellerin auf der Grundlage der
Geschäftsordnung der Fraktion zu unterbreiten. Die Antragstellerin wurde aufgefordert,
bis zur Entscheidung über das Ausschlußverfahren nicht mehr als arbeitsmarktpolitische
Sprecherin der Fraktion aufzutreten. Nachfolgend äußerte sich die Antragstellerin zu den
Vorgängen auf einer Pressekonferenz. Dabei kam es von ihrer Seite zu Angriffen gegen
andere Fraktionsmitglieder wegen deren politischer Vergangenheit.
Der Vorstand der Antragsgegnerin eröffnete unter dem 07. Oktober 2002 das
Ausschlußverfahren. Am 15. Oktober 2002 befaßte sich die Antragsgegnerin mit den die
Antragstellerin betreffenden Vorgängen. Hierzu lagen ein Antrag des Abgeordneten
Hammer vor, der Antragstellerin eine Mißbilligung auszusprechen, sowie ein Antrag des
Abgeordneten Dr. Trunschke, die Antragstellerin aus der Fraktion auszuschließen. Die
mit der Antragstellerin geführten Einigungsgespräche blieben ohne Erfolg. Der zuerst zur
Abstimmung gestellte Ausschlußantrag fand eine Mehrheit von 14 zu fünf Stimmen. Zur
Begründung des Ausschlusses heißt es im Protokoll der Fraktionssitzung:
„Es wurde festgestellt, dass die Abgeordnete Dr. Esther Schröder durch ihr Verhalten,
insbesondere durch die von ihr veröffentlichten Darstellungen im Zusammenhang und
im Nachgang mit der Entscheidung, die Berufung zum Staatssekretär im Berliner Senat
abzulehnen, der PDS-Fraktion einen hohen Ansehensverlust und damit schweren
Schaden zugefügt hat, der den Ausschluss aus der Fraktion rechtfertigt. Abgeordnete
machten zugleich einen erheblichen Vertrauensverlust gegenüber der Abgeordneten Dr.
Schröder deutlich.
Es wurde darüber hinaus festgestellt, dass Frau Dr. Schröder mit ihren öffentlichen
Darlegungen bzw. der Fraktionssitzung am 1. Oktober 2002 insbesondere mit ihren
gegen die Abgeordneten Heinz Vietze, Kerstin Kaiser-Nicht und Frank Hammer
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gegen die Abgeordneten Heinz Vietze, Kerstin Kaiser-Nicht und Frank Hammer
gerichteten Äußerungen, vorsätzlich gegen die aus § 1 Abs. 3 der Geschäftsordnung
abzuleitende Pflicht zur Achtung des anderen sowie gegen die Pflicht zur
Verschwiegenheit gem. § 4 Abs. 8 der Geschäftsordnung verstoßen hat
Dr. Esther Schröder wurde zweimal ausdrücklich gefragt, ob sie in der PDS-Fraktion
verbleiben möchte. In beiden Fällen ließ sie die Frage unbeantwortet und drang auf eine
sofortige Entscheidung.
...
Die Fraktion sah sich nach eingehender sorgsamer Prüfung und in Erwägung des
Verhaltens von Frau Dr. Schröder vor und während des Ausschlussverfahrens und in
Einhaltung der Grundsätze der Gleichheit und der Verhältnismäßigkeit gehalten, ihre
Verstöße gegen die Geschäftsordnung der Fraktion nicht hinzunehmen. Nach
ordnungsgemäßer Ladung und Anhörung sowie im Beisein der Abgeordneten Dr. Esther
Schröder wurde aufgrund der Geschäftsordnung der Fraktion und des
Fraktionsbeschlusses vom 15. Oktober 2002 über das durch die Fraktion festgelegte
Quorum für den Ausschluss von Mitgliedern aus der Fraktion (Zwei-Drittel-Mehrheit der
anwesenden Fraktionsmitglieder) eine geheime Abstimmung über den Ausschluss von
Dr. Esther Schröder vorgenommen."
Ausweislich der Sitzungsniederschrift hatte die Antragsgegnerin vor der Abstimmung
über den Ausschlußantrag allein für diesen - ohne formelle Ergänzung der
Geschäftsordnung – ein Quorum von zwei Dritteln der anwesenden Fraktionsmitglieder
festgelegt.
In § 5 der Geschäftsordnung der Fraktion („Aufnahme in die Fraktion, Austritt und
Ausschluss eines Abgeordneten aus der Fraktion") ist in Absatz 1 eine Zwei-Drittel-
Mehrheit „der Mitglieder der Fraktion" für die Aufnahme in die Fraktion vorgesehen.
Absatz 3 bestimmt:
„Ein Abgeordneter kann aus der Fraktion nur ausgeschlossen werden, wenn er
vorsätzlich gegen die in dieser Geschäftsordnung festgelegten Pflichten verstoßen bzw.
der Fraktion schweren Schaden zugefügt hat. Ein Mitglied der Fraktion, gegen welches
ein Ausschlussverfahren vorgesehen ist, hat das Recht, durch die Fraktion gehört zu
werden und an der Sitzung der Fraktionsversammlung, in der über den Ausschluss
beraten und entschieden werden soll, teilzunehmen."
§ 1 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Antragsgegnerin lautet:
„Grundlage des gemeinsamen Handelns der Fraktionsmitglieder ist das Wahlprogramm
der PDS zu den Landtagswahlen. Die Zusammenarbeit ihrer Mitglieder basiert auf
gegenseitigem Vertrauen, Achtung des anderen und kritischer Auseinandersetzung."
§ 4 Abs. 8 der Geschäftsordnung der Antragsgegnerin lautet:
„Die Fraktion erwartet von ihren Mitgliedern Verschwiegenheit, sofern es sich um
Gegenstände aus nichtöffentlichen Fraktionssitzungen handelt. In Fällen möglicher
Befangenheit sollte ein Mitglied der Fraktion dies der Fraktion im voraus mitteilen."
Am 16. Oktober 2002 teilte der parlamentarische Geschäftsführer der Antragsgegnerin
dem Präsidenten des Landtages mit, daß die Antragstellerin am 15. Oktober 2002 aus
der Fraktion ausgeschlossen worden sei. In der Folge kam es zu dem Versuch einer
gütlichen Einigung. Die Antragsgegnerin war nicht bereit, die Antragstellerin mit
sofortiger Wirkung - unter Zugeständnissen ihrerseits - wieder in die Fraktion
aufzunehmen. Ein dahingehender Antrag wurde auf der Fraktionssitzung am 30. Januar
2003 bei zwei Enthaltungen mit 18 Stimmen abgelehnt.
II.
Die Antragstellerin ist im Rahmen des am 14. Februar 2003 anhängig gemachten
Organstreitverfahrens der Auffassung, die Antragsgegnerin beeinträchtige willkürlich und
unverhältnismäßig ihre Stellung als Landtagsabgeordnete aus Art. 56 Abs. 1 Verfassung
des Landes Brandenburg (LV). Hinreichende Gründe für einen Fraktionsausschluß lägen
nicht vor. Die Antragsgegnerin habe die im Protokoll der Fraktionssitzung zur
Begründung des Ausschlusses mitgeteilten Gründe nicht nachgewiesen. Der Antrag auf
Mißbilligung hätte - da milder - vor dem Antrag auf Ausschluß zur Abstimmung gestellt
werden müssen. Schließlich habe das Quorum für den Ausschluß nicht als
Einzelfallregelung festgelegt werden dürfen, sondern hätte im Wege der Änderung der
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Einzelfallregelung festgelegt werden dürfen, sondern hätte im Wege der Änderung der
Geschäftsordnung festgelegt werden müssen.
Die Antragstellerin beantragt,
festzustellen, daß der durch die Antragsgegnerin in der Fraktionssitzung am 15. Oktober
2002 beschlossene Ausschluß aus der Fraktion der Partei des Demokratischen
Sozialismus des Landtages des Landes Brandenburg gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1, 19 Abs.
1 Satz 1, 20 Abs. 3 Satz 1, 56 Abs. 1 und 67 Abs. 2 LV verstößt und unwirksam ist.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie hält den Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses bereits für unzulässig. Wenn die
Antragstellerin den Verbleib in den Reihen der Antragsgegnerin gewollt habe, hätte sie
anläßlich der fraktionsinternen Aussprache ihren dahingehenden Willen zu erkennen
geben müssen. Der Antrag sei auch unbegründet, da die erforderliche Mehrheit für den
Fraktionsausschluß unabhängig von der Frage zustandegekommen sei, ob die
Bestimmung einer Zwei-Drittel-Mehrheit rechtswirksam war oder nicht. Es entspreche
den parlamentarischen Gepflogenheiten, daß zunächst der weitergehende Antrag zur
Abstimmung gestellt werde. Der Grund für den Ausschluß ergebe sich zum einen aus
der Nichtannahme des Amtes einer Staatssekretärin, was allein auf finanzielle
Beweggründe der Antragstellerin zurückzuführen sei. Damit habe die Antragstellerin
gegen die politischen Richtlinien der Antragsgegnerin und die Wahlkampfaussagen
verstoßen. Die daraus resultierende Berichterstattung habe dem Ansehen der
Antragsgegnerin geschadet. Die Antragstellerin habe im Vorfeld ihrer Entscheidung
weder in der Öffentlichkeit noch der Antragsgegnerin gegenüber deutlich gemacht, daß
der Amtsantritt in Berlin noch unter einem persönlichen Vorbehalt stehe. Zum anderen
habe die Antragstellerin unangemessen, das politische Niveau verlassend und einzelne
Fraktionsmitglieder diffamierend in der Pressekonferenz Stellung genommen.
III.
Der Landesregierung und dem Landtag ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben
worden.
B.
Soweit der Antrag zulässig ist, hat er in der Sache keinen Erfolg.
I.
Der Antrag ist im Organstreitverfahren gemäß Art. 113 Nr. 1 LV, §§ 12 Nr. 1, 35 ff.
Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) im wesentlichen zulässig (ebenso
für einen Fraktionsausschluß in Mecklenburg-Vorpommern: VerfG MV DÖV 2003, 765).
Antragstellerin und Antragsgegnerin gehören zum Kreis der in Art. 113 Nr. 1 LV, §§ 12
Nr. 1, 35 VerfGGBbg genannten Beteiligten einer Organstreitigkeit (vgl. hierzu:
Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 20. Juni 1996 - VfGBbg 14/96
EA -, LVerfGE 4, 190, 194 f.; Beschluß vom 28. März 2001 - VfGBbg 46/00 -, LVerfGE 12,
92, 99). Die Antragsbefugnis (§ 36 Abs. 1 VerfGGBbg) der Antragstellerin ergibt sich aus
Art. 56 Abs. 1 LV (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 20. Juni
1996 - VfGBbg 14/96 EA -, LVerfGE 4, 190, 195 ff. m.w.N.). Daneben steht eine
Verletzung der Antragstellerin in Rechten aus Art. 5 Abs. 2 Satz 1, 19 Abs. 1 Satz 1, 20
Abs. 3 Satz 1 und 67 Abs. 2 LV hingegen nicht ernstlich in Frage; insoweit ist der Antrag
unzulässig. Das für den - verbleibenden - Antrag erforderliche Rechtsschutzbedürfnis ist
nicht - wie die Antragsgegnerin meint - durch „widersprüchliches Verhalten" der
Antragstellerin entfallen. Es kann nach Lage des Falles nicht mit hinreichender Sicherheit
davon ausgegangen werden, daß die Antragstellerin durch eine bejahende Antwort auf
die Frage, ob sie in der Fraktion verbleiben wolle, einen Ausschluß hätte verhindern
können. Die Frist des § 36 Abs. 3 VerfGGBbg ist gewahrt.
II.
Der Ausschluß aus der Fraktion verletzt die Antragsstellerin nicht in ihren Rechten aus
Art. 56 Abs. 1 LV.
Art. 56 Abs. 1 LV gewährleistet das freie Mandat des Abgeordneten und schützt ihn vor
(parlamentarischer oder außerparlamentarischer) Beschränkung bei der Wahrnehmung
seines Mandats (vgl. Lieber/Iwers/Ernst, Verfassung des Landes Brandenburg, Ziff. 1 zu
Art. 56; vgl. zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Rn.
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Art. 56; vgl. zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Rn.
106 ff. zu Art. 38). Dieser Schutz schließt das Recht des Abgeordneten ein, auch mit
Hilfe seiner Fraktion parlamentarisch mitwirken zu können (Verfassungsgericht des
Landes Brandenburgs, Urteil vom 20. Juni 1996 - VfGBbg 14/96 EA -, LVerfGE 4, 190,
198). Zwar dürfte sich aus Art. 56 Abs. 1 LV ein Anspruch auf Aufnahme in eine
bestimmte Landtagsfraktion nicht ergeben (vgl. Staatsgerichtshof Bremen DÖV 1970,
639, 640; Arndt, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, Rn. 24 zu § 21), doch
schützt der Grundsatz des freien Mandates den Verbleib des Abgeordneten in einer
Fraktion. Die Mitarbeit in ihr unterfällt der durch Art. 56 Abs. 1 LV verbürgten Ausübung
des Abgeordnetenmandats (vgl. Staatsgerichtshof Bremen a.a.O.). Demgemäß ist es
der entsendenden Partei verwehrt, den Abgeordneten am Beitritt zu einer anderen
Fraktion oder daran zu hindern, aus der bisherigen Fraktion auszutreten
(Staatsgerichtshof Bremen a.a.O.). Auch kann sie das Mandat eines Abgeordneten nicht
„zurückverlangen" (vgl. Staatsgerichtshof Bremen a.a.0. unter Bezugnahme auf
BVerfGE 2, 1, 74).
Grenzen der Abgeordnetenrechte ergeben sich jedoch aus der Einbindung des
Abgeordneten in das Parlament, wenn und soweit der Parlamentsbetrieb dies erfordert
(Verfassungsgericht des Landes Brandenburg a.a.0. unter Bezugnahme auf BVerfGE 80,
188, 222). Die Effektivität des Parlamentsbetriebes und die Notwendigkeit geordnet
verlaufender parlamentarischer Willensbildung haben ihrerseits den Rang eines
Verfassungsgutes, das gegebenenfalls auch den Ausschluß aus einer Fraktion
rechtfertigen kann. Von daher ist der Ausschluß aus der Fraktion mit der Verfassung
vereinbar, wenn die Rechtsgrundlagen - hier: (vorrangig) das Fraktionsgesetz
Brandenburg (FraktG) und die Geschäftsordnung der Landtagsfraktion (vgl. § 2 Abs. 1
Satz 1 FraktG) - ihrerseits verfassungsgemäß sind (1.) und ihre Anwendung
verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden ist (2.).
1. § 5 Abs. 3 Satz 1 der Fraktionsgeschäftsordnung der Antragsgegnerin läßt den
Ausschluß eines Abgeordneten zu, wenn er vorsätzlich gegen die in der
Geschäftsordnung festgelegten Pflichten verstoßen oder der Fraktion schweren Schaden
zugefügt hat. Diese Regelung begegnet - im Zusammenspiel mit § 8 Abs. 1 und § 11
Abs. 3 Satz 4 Fraktionsgeschäftsordnung - weder von Verfassungs wegen noch mit Blick
auf § 2 Abs. 2 Nr. 5 FraktG durchgreifenden Bedenken (vgl. zur verfassungsgerichtlichen
Überprüfung von Geschäftsordnungsregelungen [Parlamentarische Kontrollkommission]:
Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 19. Juni 2003 - VfGBbg 98/02 -).
Die Regelung sieht rechtliches Gehör und ein faires Verfahren vor. In materieller Hinsicht
erlaubt § 5 Abs. 3 Satz 1 Fraktionsgeschäftsordnung eine angemessene Abwägung
zwischen den Belangen der Fraktion und den gegebenenfalls für den einzelnen
Abgeordneten mit einem Fraktionsausschluß verbundenen Folgen vor dem Hintergrund
von Art. 56 Abs. 1 LV.
2. Der Ausschluß der Antragstellerin aus der PDS-Fraktion hält im Ergebnis
verfassungsgerichtlicher Überprüfung stand. Ob hier ein vorsätzlicher Verstoß gegen
Pflichten aus der Fraktionsgeschäftsordnung im Sinne von § 5 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1
anzunehmen ist, kann offenbleiben. Denn jedenfalls kann der Fraktionsausschluß in
vertretbarer Weise darauf gestützt werden, daß die Antragsstellerin der Fraktion im
Sinne von § 5 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 Fraktionsgeschäftsordnung schweren Schaden
zugefügt habe.
a. Die Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Fraktionsmitgliedes der Fraktion
„schweren Schaden" zugefügt hat, ist zunächst der Fraktion überantwortet. Der Fraktion
steht ein Beurteilungsspielraum zu. Es handelt sich um eine Frage außerhalb eines
rechtlich exakt erfaßbaren Bereiches (zu Beurteilungsspielräumen im Verwaltungsrecht:
VGH München BayVBl. 1984, 750, 753; dem folgend: Kopp/Schenke,
Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Auflage 2003, Rn. 24a zu § 114), bei der auch
persönliche Erfahrungen und Eindrücke eine nicht unerhebliche Rolle spielen (zu diesem
Kriterium im verwaltungsrechtlichen Zusammenhang: BVerfGE 84, 34, 51 f.; 88, 40, 57
f.). Mit dieser Einschätzungsprärogative geht eine entsprechende Einschränkung der
Überprüfungskompetenz des Landesverfassungsgerichts einher (insoweit ausdrücklich
offengelassen: VerfG MV DÖV 2003, 765, 768). Bei der Beurteilung eines
Fraktionsausschlusses ist es - soweit nicht allgemeingültige Grundsätze verletzt werden -
nicht Sache des Gerichts, schlechthin seiner Beurteilung an die Stelle derjenigen
politischen und sonstigen, an innerparteilichen Maßstäben ausgerichteten, Wertungen zu
setzen, nach denen die Fraktion lebt und ihre im Staatswesen verfolgten Ziele
erkämpfen will (vgl. auch - zur Überprüfung von Parteiausschlüssen -: BGH NJW 1980,
443). Diese Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte trägt zugleich der
- im Land Brandenburg durch Art. 67 Abs. 1 LV unterstrichenen - eigenen Rechtsstellung
der Fraktion Rechnung.
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Uneingeschränkt der Überprüfung zugänglich sind allein die formellen Voraussetzungen
eines Fraktionsausschlusses
[ordnungsgemäße Ladung zur Fraktionssitzung, Mitteilung der Tagesordnung,
Gewährleistung rechtlichen Gehörs, Anwesenheit des betroffenen Fraktionsmitgliedes,
erforderliche Mehrheit] (so auch: VerfG MV DÖV 2003, 765, 767 f.). Dagegen ist in
materieller Hinsicht - hier: zu der Frage, ob der Fraktion „schwerer Schaden" zugefügt
worden ist - die verfassungsgerichtliche Überprüfung auf eine Evidenz- und
Willkürkontrolle beschränkt.
b. Hiervon ausgehend gilt vorliegendenfalls:
aa. Das von der Antragsgegnerin eingehaltene Verfahren entsprach den hierfür
geltenden Regeln. Der hinreichend deutlich gefaßte und mit einer Begründung
versehene Ausschlußantrag ist den Fraktionsmitgliedern ausweislich des Schreibens des
Fraktionsvorsitzenden vom 07. Oktober 2002 unter Mitteilung des Datums der nächsten
Fraktionssitzung zugeleitet worden. Die Antragstellerin nahm an der Fraktionssitzung am
15. Oktober 2002 teil und hatte Gelegenheit, Stellung zu nehmen. Die Abstimmung über
den Ausschlußantrag erfolgte geheim. Der Beschluß über den Ausschluß wurde auch mit
der erforderlichen Mehrheit getroffen. Für den Ausschluß stimmten bei fünf
Gegenstimmen 14 Fraktionsmitglieder und somit mehr als 2/3 der anwesenden
Mitglieder. Es ist unter diesen Umständen unerheblich, ob die vorherige Festlegung
eines Quorums von 2/3 der anwesenden Mitglieder wirksam war oder nicht schon die
einfache Mehrheit ausgereicht hätte. Es ist auch nicht etwa so, daß sich für den
Fraktionsausschluß aus § 5 Abs. 1 der Fraktionsgeschäftsordnung ein zwingendes 2/3-
Quorum bezogen auf die Fraktionsangehörigen - und nicht bezogen auf die anwesenden
Fraktionsmitglieder - ergibt. Eine solche Annahme verbietet sich nach dem
systematischen Aufbau des § 5 Fraktionsgeschäftsordnung, demzufolge das Quorum
gemäß Absatz 1 nur für die Aufnahme in die Fraktion und nicht für den in (dem
nachfolgenden) Absatz 3 gesondert geregelten Ausschluß aus der Fraktion gilt. Von
Verfassungs wegen war es auch nicht geboten, den Antrag des Abgeordneten Hammer
auf Mißbilligung des Verhaltens der Antragstellerin vor dem Antrag auf
Fraktionsausschluß zur Abstimmung zu stellen. Ein dahingehender Grundsatz ist der
Landesverfassung nicht zu entnehmen.
bb. Angesichts des der Antragsgegnerin insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums
und der damit korrespondierenden eingeschränkten verfassungsgerichtlichen
Überprüfung, ist die dem Fraktionsausschluß der Antragstellerin zugrundeliegende
Auffassung der Fraktionsmehrheit, daß die Antragstellerin der Fraktion schweren
Schaden zugefügt habe, verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden:
(1) „Schaden" ist in dem hier in Frage stehenden Zusammenhang nicht etwa nur im
Sinne von finanziellem oder politischem - der politischen Außenwirkung abträglichem -
Schaden zu verstehen. Vielmehr ist auch eine die Zusammenarbeit und das
Vertrauensverhältnis innerhalb der Fraktion in Mitleidenschaft ziehende Belastung
gemeint. Art. 67 Abs. 1 LV setzt die politische Handlungsfähigkeit einer Fraktion voraus.
Fraktionen sind im parlamentarischen „Gliederungssystem" (vgl. BVerfGE 84, 304, 322)
„notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der
politischen Willensbildung" (BVerfGE 80, 188, 219 f. m.w.N.). Eine Fraktion kann nur
funktionieren, wenn in den Fraktionssitzungen offen, unbefangen und vertrauensvoll
diskutiert wird. Von daher stellt sich auch das Verhalten eines Abgeordneten, welches
das Klima in der Fraktion beeinträchtigt, als „Schaden" im Sinne von § 5 Abs. 3 Satz 1
Fraktionsgeschäftsordnung dar.
Freilich genügt für einen Fraktionsausschluß bereits nach dem Wortlaut der
Fraktionsgeschäftsordnung der Antragsgegnerin nicht schon jedwede interne
Unstimmigkeit. Vielmehr muß der Fraktion nach der hier einschlägigen Regelung
„schwerer" Schaden zugefügt worden sein. Als „schwer" in diesem Sinne ist ein Schaden
anzusehen, der nach vertretbarer Einschätzung der Fraktion einer vertrauensvollen
Zusammenarbeit in der Fraktion nachhaltig und auf Dauer im Wege steht.
(2) Die dahingehende Einschätzung der Antragsgegnerin ist verfassungsgerichtlich nicht
zu beanstanden.
Allerdings erscheint zweifelhaft, ob es für sich allein betrachtet schon als „schwerer" -
einen Fraktionsausschluß rechtfertigender - Schaden akzeptiert werden könnte, daß die
Antragstellerin davon Abstand genommen hat, das Amt einer Staatssekretärin zu
übernehmen und hierbei wohl eine Rolle gespielt hat, daß damit nicht - oder doch: nicht
sicher geklärt - sogleich eine Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit
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sicher geklärt - sogleich eine Berufung in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit
verbunden gewesen wäre, jedenfalls aber in der Öffentlichkeit dieser Eindruck
entstanden ist. Dem einzelnen Abgeordneten ist unabhängig von seiner
Fraktionszugehörigkeit ein Freiraum privater Dispositionen und beruflicher
Lebensplanung unter Einbeziehung auch von Versorgungsgesichtspunkten
zuzugestehen. Die Antragsgegnerin hat hinzunehmen, daß auch in ihren Reihen
Versorgungserwägungen von Abgeordneten eine Rolle spielen dürfen. Auch die
Äußerungen der Antragstellerin auf der Pressekonferenz erscheinen, für sich betrachtet,
nach Lage des Falles für einen Fraktionsausschluß noch nicht als schwerwiegend genug.
Der Antragstellerin ist in dieser Hinsicht zuzugestehen, daß sie sich von Seiten der
Fraktion politisch bedrängt fühlen mochte und sich ihre Äußerungen auf der
Pressekonferenz gewissermaßen als politische Gegenwehr darstellen. Auch solche
politische Gegenwehr, und zwar auch im Verhältnis zu der eigenen Fraktion, ist bis zu
einer gewissen - freilich schwer bestimmbaren - Grenze von Art. 56 Abs. 1 LV gedeckt.
Die Maßstäbe für das insoweit politisch Hinzunehmende dürfen nicht zu niedrig
angesetzt werden („Wer austeilt, muß auch einstecken.").
Unbeschadet dessen ist aber jedenfalls in der Zusammenschau das Verhalten der
Antragstellerin im Zusammenhang mit ihrer Nominierung als Staatssekretärin, ihres
Auftretens auf der Pressekonferenz (mit persönlichen Angriffen gegen
Fraktionsmitglieder unter Anspielung auf ihre politische Vergangenheit) und der weiteren
Begleitumstände die Einschätzung der Antragsgegnerin, daß für die Fraktion insgesamt
ein „schwerer Schaden" entstanden sei, vertretbar und ergibt sich deshalb für ein
Eingreifen des Landesverfassungsgerichts keine hinreichende Veranlassung. Diese
weiteren Begleitumstände sind dadurch geprägt, daß mit der Antragstellerin damals
geführte Einigungsgespräche erfolglos verliefen und die Antragstellerin - ausweislich der
Niederschrift über die Fraktionssitzung vom 15. Oktober 2002 - die zweimalige Frage, ob
sie in der PDS-Fraktion verbleiben wolle, unbeantwortet ließ und auf eine sofortige
Entscheidung drängte. Das Gericht entnimmt dem, daß sie in dieser Fraktionssitzung
einen „Alles-oder-Nichts"-Standpunkt einnahm und sich für einen für alle Beteiligten
gesichtswahrenden politischen Kompromiß nicht aufgeschlossen zeigte. Unter
Mitberücksichtigung dessen erscheint dem Landesverfassungsgericht die in dem
Abstimmungsergebnis von 14 zu fünf Stimmen zum Ausdruck kommende Einschätzung
der Antragsgegnerin, daß das Verhältnis zu der Antragstellerin nachhaltig und dauerhaft
gestört sei und die Voraussetzungen für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit
mit ihr nicht mehr gegeben seien, vertretbar. Wie immer man den Fraktionsausschluß
beurteilen mag: Willkürlich ist er nicht. Er ist auch nicht unverhältnismäßig. Die Störung
des Vertrauensverhältnisses zwischen Antragstellerin und Antragsgegnerin bestätigt
sich im übrigen darin, daß der im Vorfeld der verfassungsgerichtlichen
Auseinandersetzung im Januar 2003 unternommene Anlauf, die Antragstellerin - unter
Zugeständnissen ihrerseits - wieder in die Fraktion aufzunehmen, am 30. Januar 2003
bei 18 Nein-Stimmen gegen zwei Enthaltungen gescheitert ist. Das
Landesverfassungsgericht vermag sich von einer Zwangswiedereingliederung der
Antragstellerin mit gerichtlicher Hilfe nichts Gedeihliches zu versprechen.
Auf den von der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 12. Mai 2003 vorgelegten
Videomitschnitt ihres Interviews in der ORB-Sendung „Brandenburg aktuell" vom 28.
September 2002 kommt es nicht an, weil das Gericht für seine Entscheidung darauf
nicht ausschlaggebend abstellt und die auf der Pressekonferenz gefallenen Äußerungen
der Antragstellerin als solche unstreitig sind. Damit geht der in der letzten mündlichen
Verhandlung gestellte Antrag, den Videomitschnitt in öffentlicher Verhandlung
vorzuführen, ins Leere. Eine Entscheidung über diesen Antrag vorab in mündlicher
Verhandlung (vgl. § 86 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung) hält das
Landesverfassungsgericht in der hier vorliegenden Verfahrenskonstellation im Rahmen
der (nur) entsprechenden Anwendung der Verwaltungsgerichtsordnung nicht für
geboten.
C.
Die Entscheidung ist mit fünf gegen eine Stimme ergangen.
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