Urteil des VerfG Brandenburg vom 15.03.2017

VerfG Brandenburg: anspruch auf rechtliches gehör, restriktive auslegung, faires verfahren, passivlegitimation, verfassungsbeschwerde, verfassungsgericht, willkürverbot, mietvertrag, wohnung, bad

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Gericht:
Verfassungsgericht
des Landes
Brandenburg
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1/98
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 52 Abs 3 Verf BB, Art 103
Abs 1 GG, Art 3 Abs 1 GG, Art 74
Abs 1 Nr 1 GG
VerfG Potsdam: Kein Verstoß gegen Grundsatz rechtlichen
Gehörs und Willkürverbot durch amtsgerichtliche
Klageabweisung wegen fehlender Passivlegitimation
Gründe
A.
Die Beschwerdeführer sind seit 1988 Mieter einer Wohnung in D..., die vormals als
Volkseigentum vom Rat der Gemeinde als Rechtsträger verwaltet und vermietet wurde.
1994 wurde die ... Wohnungswirtschaft GmbH auf Ersuchen der
Vermögenszuordnungsstelle der Oberfinanzdirektion ... als Eigentümerin des
entsprechenden Grundstücks im Grundbuch eingetragen.
Die Beschwerdeführer erhoben am 1. Juli 1997 Klage vor dem Amtsgericht ... auf Vorlage
nachvollziehbarer Betriebskostenabrechnungen gegen die - in der Klageschrift als
Verwalterin bezeichnete - ... Wohnungswirtschafts GmbH. Im Laufe des Verfahrens
änderten sie die Klage auf Rückzahlung von 1.334,69 DM zuvielgezahlter Betriebskosten
und verlangten die Beseitigung von Schimmelflecken in der Wohnung. Die Beklagte
verlangte widerklagend Zahlung ausstehender Betriebskosten in Höhe von 140,13 DM.
Sie schilderte gegenüber dem Amtsgericht schriftsätzlich unter anderem die Praxis der
Betriebskostenabrechnung und führte dazu aus, daß in dieser Weise von allen
Großvermietern verfahren werde und auch sie selbst so gegenüber ihren Mietern
verfahre. Das Amtsgericht forderte die Beschwerdeführer mit der Terminsverfügung auf,
die Klage hinsichtlich der Passivlegitimation der Beklagten schlüssig zu begründen und
den Mietvertrag vorzulegen. Der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer führte
daraufhin schriftsätzlich aus, daß sich die Beklagte nicht auf eine fehlende
Passivlegitimation berufe und selbst am ehesten angeben könne, auf welcher Basis sie
für den Wohnungseigentümer auftrete. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25.
September 1997 legte der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer den im Jahre
1988 mit dem Rat der Gemeinde abgeschlossenen Mietvertrag vor. Die Beklagte legte
ihrerseits einen ihre Eigentümerstellung nachweisenden Grundbuchauszug vor. Das
Amtsgericht wies die Klage mit Urteil vom 30. September 1997, den Beschwerdeführern
zugestellt am 5. November 1997, mangels Schlüssigkeit ab. Die Beschwerdeführer
hätten nur vorgetragen, daß die Beklagte Verwalterin des Hauses sei. Ansprüche aus
dem Mietverhältnis müßten jedoch gegen den Vermieter geltend gemacht werden. Die
Beklagte selbst habe eine solche Vermieterstellung ebenfalls nicht vorgetragen. Der
vorgelegte Mietvertrag und der Grundbuchauszug seien für die Annahme einer
Vermieterstellung, auch nach § 571 BGB, nicht ausreichend. Aus den gleichen
Erwägungen wies das Amtsgericht auch die Widerklage der Beklagten ab. Eine von den
Beschwerdeführern gegen das Urteil erhobene Gegenvorstellung blieb ohne Erfolg.
Mit der am. 5. Januar 1998 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügen die
Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 52 Abs. 3
Landesverfassung Brandenburg - LV -) und auf ein faires Verfahren (Art. 52 Abs. 4 LV)
sowie eine Verletzung des Willkürverbotes (Art. 52 Abs. 3 LV). Das Amtsgericht habe es
unterlassen, einen weiteren Hinweis nach §§ 139, 278 Abs. 3 Zivilprozeßordnung - ZPO
zu erteilen, bevor es die Klage wegen fehlender Passivlegitimation der Beklagten
zurückwies. Sie seien davon ausgegangen, daß hierzu nach dem ersten Hinweis des
Gerichts hinreichend vorgetragen worden sei. Das Urteil sei für sie überraschend und
erscheine willkürlich.
Die ... Wohnungswirtschafts GmbH hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung
genommen und im wesentlichen ausgeführt, daß die Erörterung der Passivlegitimation
auch in der mündlichen Verhandlung breiten Raum eingenommen habe. Von einer
Verletzung des rechtlichen Gehörs könne deshalb keine Rede sein. Wenn auch die
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Verletzung des rechtlichen Gehörs könne deshalb keine Rede sein. Wenn auch die
Ausführungen des Amtsgerichts zur Frage der Vermieterstellung wohl unzutreffend
seien, so sei das Urteil gleichwohl deshalb noch nicht verfassungswidrig.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
I.
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, daß mit ihr die
Verletzung von Landesgrundrechten bei der Durchführung eines bundesrechtlich - durch
die Zivilprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgericht - geordneten Verfahrens
gerügt wird. Allerdings ist in einem solchen Fall zu beachten, daß die Aufhebung von
Entscheidungen der Fachgerichte durch ein Landesverfassungsgericht die Zuständigkeit
des Bundes gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz (GG) zur Regelung der Rechts- und
Bestandskraft gerichtlicher Entscheidungen berührt. Raum für eine landesrechtliche
Regelung verbleibt deshalb nur insoweit, als diese zur Erreichung des Zwecks der
Landesverfassungsbeschwerde unerläßlich ist (BVerfG, Beschluß vom 15. Oktober 1997 -
2 BvN 1/95 -, S. 35 ff. des Entscheidungsumdrucks). Die insoweit erforderlichen
Voraussetzungen im Sinne der genannten Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts, der sich das erkennende Gericht anschließt, sind hier
gegeben.
1. Der brandenburgische Gesetzgeber hat - in näherer Ausgestaltung des Art. 6 Abs. 2
der Landesverfassung (LV) - die Erhebung der Landesverfassungsbeschwerde gemäß §
45 Abs. 2 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) erst nach - hier
erfolgter - Erschöpfung des Rechtswegs zugelassen. Diese ausdrückliche
Zulässigkeitsvoraussetzung ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden
Gerichts um den - über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne
hinausgehenden - Grundsatz der Subsidiarität zu ergänzen, wonach der
Beschwerdeführer gehalten ist, alles im Rahmen seiner Möglichkeiten Stehende zu
unternehmen, um eine etwaige Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder zu verhindern
(vgl. etwa Beschluß vom 21. November 1996 - VfGBbg 17/96, 18/96 und 19/96 -, LVerfGE
5, 112, 118 ff. m.w.N.). Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Damit ist dem
Umstand hinreichend Rechnung getragen, daß die Aufhebung einer gerichtlichen
Entscheidung durch ein Landesverfassungsgericht regelmäßig erst dann "unerläßlich" ist,
wenn feststeht, daß durch fachgerichtlichen Rechtsschutz eine Beseitigung der
behaupteten Grundrechtsverletzung nicht mehr zu erreichen ist und auch nicht hätte
erreicht werden können (vgl. BVerfG, a.a.0., S. 36 f.).
Inwieweit die durch Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG begrenzte Kompetenz des
Landesgesetzgebers darüber hinaus eine besonders restriktive Auslegung der
Voraussetzungen verlangt, unter denen Landesrecht (hier § 45 Abs. 2 Satz 2
VerfGGBbg) eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtswegs ausnahmsweise zuläßt
(vgl. zur weitgehend entsprechenden Regelung des § 27 Abs. 2 Satz 2 SächsVerfGHG
wiederum BVerfG, a.a.0., S. 37), bedarf aus Anlaß dieses Falles, bei dem eine solche
Vorabentscheidung nicht in Rede steht, keiner Klärung.
Weiter beruht die behauptete Beschwer der Beschwerdeführer auf der Entscheidung
eines Gerichts des Landes Brandenburg; ein Bundesgericht war nicht befaßt (vgl. hierzu
abermals BVerfG a.a.0.).
3. Die als verletzt gerügten Landesgrundrechte bzw. grundrechtsgleichen
Gewährleistungen sind ferner inhaltsgleich mit den entsprechenden Rechten des
Grundgesetzes (vgl. zu dieser Voraussetzung ebenfalls BVerfG, a.a.0., S. 37 ff.). Der
Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 52 Abs. 3 LV entspricht insoweit Art. 103 Abs. 1
GG. Das ebenfalls in Art. 52 Abs. 3 LV verankerte Willkürverbot entspricht dem. aus Art.
3 Abs. 1 GG abzuleitenden Verbot willkürlicher gerichtlicher Entscheidungen (vgl. hierzu
etwa BVerfGE 74, 102, 127 m.w.N.). Das auf Landesverfassungsebene ausdrücklich
normierte Gebot des fairen Verfahrens (Art. 52 Abs. 4 LV) ergibt sich auf
Bundesverfassungsebene als Ableitung aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. hierzu etwa
BVerfGE 78, 123, 126). Die genannten Rechte sind jeweils "inhaltsgleich", denn sie führen
im konkreten Fall, wie sogleich dargelegt, zu demselben Ergebnis.
II.
Die von den Beschwerdeführern angeführten Landesgrundrechte (und die ihnen
entsprechenden Rechte des Grundgesetzes) sind durch das Urteil des Amtsgerichts Bad
Freienwalde vom 30. September 1997 nicht verletzt worden.
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1. Das angegriffene Urteil verstößt nicht gegen den als verletzt gerügten Grundsatz
rechtlichen Gehörs nach Art. 52 Abs. 3 LV, 103 Abs. 1 GG. Diese Verfassungsnormen
gewähren den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens zwar ein Recht darauf, sich zu
den entscheidungserheblichen Fragen vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Sie
verpflichten das Gericht aber nicht, die Verfahrensbeteiligten von sich aus auf alle
entscheidungserheblichen Umstände hinzuweisen oder solche Hinweise gar zu
wiederholen. Erst wenn das Gericht in der Entscheidung auf einen Aspekt abstellt, mit
dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozeßvertreter nicht zu rechnen braucht,
kann dies als "Überraschungsurteil" eine Verletzung des rechtlichen Gehörs begründen
(vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 16. Oktober 1997
VfGBbg 25/97 -, Seite 12 des Entscheidungsumdrucks; vgl. auch BVerfG, NJW 1996,
454).
Daran gemessen ist das angegriffene Urteil nicht zu beanstanden. Die
Beschwerdeführer wußten aufgrund des richterlichen Hinweises in der
Ladungsverfügung, daß das Gericht die Klage für unschlüssig hielt. Sie hatten danach
Gelegenheit, zur Passivlegitimation der Beklagten schriftsätzlich und in der mündlichen
Verhandlung weiter vorzutragen. Damit war dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs
Genüge getan. Das Gericht war nicht verpflichtet, die anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführer erneut auf den Aspekt der Passivlegitimation hinzuweisen. Es durfte
davon, ausgehen, daß der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer aufgrund des
Hinweises in seinem nachfolgenden Schriftsatz und in der mündlichen Verhandlung
nunmehr alles ihm erforderlich Erscheinende zu dieser Frage geltend machen würde.
2. Die Verfahrensweise des Amtsgerichts begründet aus demselben Grunde auch keinen
Verstoß gegen den ebenfalls als verletzt gerügten Grundsatz des fairen Verfahrens (Art.
52 Abs. 4 LV; 20 Abs. 3 GG). Das Vorgehen des Gerichts entsprach insoweit den
Verfahrensvorschriften.
3. Das angegriffene Urteil verstößt ferner nicht gegen das Willkürverbot der Art. 52 Abs.
3 LV, 3 Abs. 1 GG. Willkürlich ist eine Entscheidung erst dann, wenn sie unter keinem
rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar ist und sich deshalb der Schluß aufdrängt, sie
beruhe auf sachfremden Erwägungen (ständige Rechtsprechung des
Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg, vgl. etwa Beschluß vom 20. Januar 1997 -
VfGBbg 45/96 -, NJ 1997, 307 m.w.N.; vgl. auch BVerfGE 89, 1, 13 f.). So liegen die Dinge
hier jedoch nicht. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Beschwerdeführer
nicht schlüssig vorgetragen hätten, daß die Beklagte die Vermieterin der Wohnung sei,
und auch die Beklagte selbst eine solche Vermieterstellung nicht schlüssig behauptet
habe. Über diese fachrichterliche Wertung des Parteivortrags mag sich freilich streiten
lassen. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11. September 1997 immerhin
vorgetragen, nach ihrer Praxis der Betriebskostenabrechnung verführen alle
Großvermieter und so verfahre auch sie gegenüber ihren Mietern. Darin könnte das
Eingeständnis gesehen werden, selbst Vermieterin zu sein. Hätte das Amtsgericht dies
so gewürdigt, hätte sich die dann naheliegende Prüfung anschließen müssen, ob die
Beschwerdeführer sich diesen Vortrag der Beklagten durch ihr weiteres prozessuales
Verhalten, insbesondere den Schriftsatz ihres Prozeßbevollmächtigten vom 25.
September 1997, zu eigen gemacht haben. Jedenfalls wäre es dem Amtsgericht in einer
solchen Situation nicht verwehrt gewesen und hätte es ggfls. sogar nahegelegen,
nochmals nach der Vermieterstellung der Beklagten zu fragen, um sich insoweit Klarheit
zu verschaffen.
Gleichwohl liegt noch kein Verfassungsverstoß vor. Willkürlich ist eine Entscheidung nach
dem oben Dargelegten erst dann, wenn sie - jenseits der richtigen Anwendung des
einfachen Rechts - ganz und gar unverständlich erscheint und das Recht in einer Weise
falsch anwendet, die jeden Auslegungs- oder Bewertungsspielraum überschreitet (vgl.
Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 14. August 1996 - VfGBbg
23/95 -, LVerfGE; 5, 67, 72 m.w.N.). Dies ist stets eine Frage des Einzelfalls. Insoweit ist
hier zu berücksichtigen, daß der Vortrag der Beklagten zur Praxis der
Betriebskostenabrechnung, wenn auch in diesem Sinne auslegbar, jedenfalls nicht klar
und eindeutig die Behauptung enthielt, selbst Vermieterin zu sein, wie es von einer
anwaltlich vertretenen Partei erwartet werden kann. Die Vermieterstellung verstand sich
auch nicht ohne weiteres von selbst, da die Beklagte in Mietprozessen vor dem
Amtsgericht Bad Freienwalde teils als Vermieterin, teils als Verwalterin aufgetreten ist.
Auch die Vorlage des Grundbuchauszugs mußte das Amtsgericht angesichts des
komplizierten rechtlichen Schicksals des kommunalen Wohnungsbestands im Zuge der
deutschen Wiedervereinigung und des gerade deshalb möglichen Auseinanderfallens
von Eigentümer- und Vermieterstellung nicht notwendigerweise in diesem Sinne werten.
Zu berücksichtigen ist ferner, daß die Beschwerdeführer selbst auf den Hinweis des
Zu berücksichtigen ist ferner, daß die Beschwerdeführer selbst auf den Hinweis des
Gerichte hin von sich aus nichts Substantielles zur Passivlegitimation vorgetragen,
sondern auf die - hier erkennbar unproblematische - Partei- und Prozeßfähigkeit der
Beklagten abgehoben haben. Sie haben schließlich ihre ursprüngliche Behauptung, die
Beklagte sei Verwalterin, nicht - jedenfalls nicht ausdrücklich - zurückgenommen und
statt dessen eine Vermieterstellung der Beklagten behauptet, sondern sich auf eine
zwar in diesem Sinne auslegbare (s.o.), aber eben doch nicht unmißverständliche
Formulierung zurückgezogen. Insgesamt erscheint dem Verfassungsgericht deshalb die
fachgerichtliche Wertung nicht eklatant fehlerhaft und somit nicht willkürlich. Die
Verantwortung für die Richtigkeit des Urteils bleibt damit beim Amtsgericht.
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