Urteil des VerfG Brandenburg vom 14.03.2017

VerfG Brandenburg: grundsatz der unmittelbarkeit, wiedereinsetzung in den vorigen stand, rechtsmittelbelehrung, zustellung, beschwerdefrist, öffentliches interesse, verfassungsgericht, wahlkreis, bwg

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Gericht:
Verfassungsgericht
des Landes
Brandenburg
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
19/00
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 28 Abs 1 S 2 GG, Art 38 Abs
1 S 1 GG, Art 22 Abs 3 S 1 Verf
BB, Art 59 Abs 1 S 1 VerfGG BB,
Art 59 Abs 1 S 2 Nr 2 VerfGG BB
VerfG Potsdam: Zur Frage der Nachfolge für verzichtenden
Wahlkreisabgeordneten, dessen Partei über Überhangmandate
verfügt - keine Besetzung des im Landtag frei gewordenen
Sitzes mit Ersatzperson aus der Landesliste bei Landtagswahl
1999
Gründe
A.
I.
Bei der Wahl zum 3. Landtag Brandenburg am 5. September 1999 entfielen auf die
Landesliste der SPD nach dem Ergebnis der Zweitstimmen 36 Sitze. Da in 37
Wahlkreisen Bewerber der SPD gewählt wurden, fiel der SPD ein Überhangmandat zu.
Nachdem die im Landtagswahlkreis 35 (Elbe-Elster I) gewählte Abgeordnete Dr. Regine
Hildebrandt ihren Verzicht auf das Mandat erklärt hatte, wurde die an erster Stelle der
Ersatzpersonen der Landesliste der SPD stehende Frau Angelika Thiel-Vigh in der
Sitzung des Landtages am 13. Oktober 1999 gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1
Brandenburgisches Landeswahlgesetz (BbgLWahlG) als Nachfolgerin berufen.
II.
Der Beschwerdeführer erhob bei dem Präsidenten des Landtages am 10. November
1999 Einspruch gegen die nachträgliche Berufung von Frau Thiel-Vigh zum Mitglied des
Landtages als Ersatzperson für Frau Dr. Hildebrandt. Die nachträgliche Berufung könne
angesichts des Überhangmandates nicht auf § 43 BbgLWahlG gestützt werden. Nach
dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 -
(BVerfGE 97, 317) würden Überhangmandate nicht auch von dem
Zweitstimmenergebnis getragen und verdrängten keinen Listenplatz im Wege der
Anrechnung auf das Sitzkontingent der Liste. Von daher gebe es auf der Liste keine
Reservesitze, die durch Rückabwicklung der Anrechnung der Direktmandate wieder
aufleben könnten, um einen Listenbewerber nachrücken zu lassen. Es sei Sache des
Gesetzgebers zu regeln, ob er eine Mandatsnachfolge auch auf frei gewordene Sitze von
Wahlkreisabgeordneten zulassen wolle, deren Partei Überhangmandate zustünden. Da
eine solche Regelung im Brandenburgischen Landeswahlgesetz fehle, sei die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Rechtslage in Brandenburg
übertragbar. Soweit nach § 3 Abs. 7 ff. BbgLWahlG ein Verhältnisausgleich durch
Erhöhung der Anzahl der Abgeordneten gewährt werde, greife diese Regelung gemäß § 3
Abs. 11 BbgLWahlG nur, wenn mehr als zwei Überhangmandate anfallen, was hier nicht
der Fall sei.
Der Landtag wies den Einspruch entsprechend dem Vorschlag seines
Wahlprüfungsausschusses mit Beschluß vom 15. Dezember 1999 - LT- Drs. 3/233-B -
zurück und führte zur Begründung aus: Die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1998 sei nicht einschlägig, weil sie sich auf
Bundeswahlrecht beziehe, das mit dem brandenburgischen Wahlrecht nicht identisch
sei. Der Wahlprüfungsausschuß sei ersichtlich den Stellungnahmen des Ministers des
Innern vom 25. November 1999 und des Landeswahlleiters vom 23. November 1999
gefolgt. Danach differenziere § 43 BbgLWahlG nicht danach, welche Art von Mandat
übergegangen sei, und treffe keine spezielle Regelung für Überhangmandate. Wegen der
Zubilligung von Ausgleichsmandaten würden in Brandenburg - anders als im Bund - auch
Überhangmandate indirekt in das Prinzip der Verhältniswahl einbezogen, so daß es
gerechtfertigt sei, daß eine nach dem Prinzip der Verhältniswahl über die Landesliste
gewählte Ersatzperson das Überhangmandat einer nach dem Mehrheitswahlprinzip
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gewählte Ersatzperson das Überhangmandat einer nach dem Mehrheitswahlprinzip
direkt gewählten Person übernehme. Dem Wähler sei die "enge wahlsystemimmanente
Koppelung von Erst- und Zweitstimmen" bei der Stimmabgabe auch bewußt. Die
Nachberufung sei auch vor dem Hintergrund faktischer Erwägungen gerechtfertigt, da im
Fall einer Anwendung der Ausgleichsformel auf das Stimmergebnis die Sitzverteilung die
gleiche geblieben wäre. Auch sei das Überhangmandat vollständig von dem
maßgeblichen Zweitstimmenanteil der SPD getragen, die im Vergleich zu den anderen
im Landtag vertretenen Gruppierungen die höchste Zahl von Zweitstimmen pro
erlangtem Mandat habe.
Unter Ziffer III. enthielt der Beschluß des Landtages eine Rechtsmittelbelehrung mit
folgendem Wortlaut:
"Gegen diesen Beschluss können diejenigen Personen, die Einspruch eingelegt haben,
und die Abgeordneten, deren Mandat durch die Entscheidung berührt wird, gemäß § 12
Abs. 1 Wahlprüfungsgesetz Beschwerde beim Verfassungsgericht einlegen. Die
Beschwerde gegen die Entscheidung des Landtages kann gemäß § 12 Abs. 2 WPrüfG
innerhalb einer Frist von zwei Monaten seit der Entscheidung des Landtages erhoben
werden; sie ist innerhalb dieser Frist schriftlich zu begründen."
Diese Entscheidung des Landtages ist dem Beschwerdeführer am 22. Dezember 1999
zugestellt worden.
Mit Schreiben vom 29. Februar 2000, das dem Beschwerdeführer am 2. März 2000
zugestellt wurde, teilte der Präsident des Landtages "ergänzend zu dem Beschluss des
Landtages vom 15. Dezember 1999" dem Beschwerdeführer eine "berichtigte
Rechtsmittelbelehrung" mit folgendem Inhalt mit:
"Gegen diesen Beschluss können Sie innerhalb einer Frist von zwei Monaten seit
Zustellung dieses Schreibens beim Verfassungsgericht des Landes Brandenburg in
Potsdam, Allee nach Sanssouci 6, 14471 Potsdam, Beschwerde einlegen. Die
Beschwerde ist innerhalb dieser Frist zu begründen.
Eine weitere Voraussetzung für die Beschwerde ergibt sich aus § 59 Abs. 1 Nr. 2 des
Gesetzes über das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg in der Fassung der
Bekanntmachung vom 22. November 1996 (GVBl. I Seite 344), zuletzt geändert durch
das Gesetz vom 7. April 1999 (GVBl. I Seite 98). Danach sind ein Wahlberechtigter oder
eine Gruppe von Wahlberechtigten, deren Wahlanfechtung vom Landtag verworfen
worden ist, beschwerdeberechtigt, wenn ihnen hundert Wahlberechtigte beitreten."
III.
Der - seit dem 1. Mai 2000 in Berlin wohnende - Beschwerdeführer hat gegen den
Beschluß des Landtages am 2. Mai 2000 Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt und die
Beitrittserklärungen von 132 Personen - nach Mitteilung des Landeswahlleiters
Wahlberechtigte aus Brandenburg - beigefügt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er
seine Ausführungen aus dem Einspruchsverfahren. Auf gerichtlichen Hinweis zu
Bedenken gegen die Rechtzeitigkeit der Wahlprüfungsbeschwerde führt der
Beschwerdeführer aus: Die Beschwerde sei vor Ablauf der Beschwerdefrist eingegangen,
da die Frist vor dem 2. März 2000 nicht zu laufen begonnen habe. Eine Klage- oder
Beschwerdefrist beginne regelmäßig erst mit der Zustellung der Entscheidung mit
ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung. Dies müsse auch für das besondere
Erfordernis des § 59 Abs. 1 Satz 1 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg
(VerfGGBbg), dem Beitritt von 100 Wahlberechtigten, gelten. Im Gegensatz zu dem der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. September 1952 (BVerfGE 1,
430, 431) zugrunde liegenden Fall seien vorliegend nicht einmal Datum und Fundstelle
des die weiteren Voraussetzungen regelnden Gesetzes angegeben gewesen. Zudem sei
der Landtag selbst der Auffassung gewesen, daß die Frist erst mit der Zustellung der
ergänzten Rechtsmittelbelehrung zu laufen begonnen habe. Die Besonderheit, daß die
Beschwerdefrist im Wahlprüfungsverfahren nach dem Gesetzeswortlaut bereits von der
Entscheidung des Landtages an laufe, müsse aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit (Art.
19 Abs. 4 Satz 1 GG) zurückstehen.
IV.
Der Landtag Brandenburg und die Abgeordnete Thiel-Vigh haben Gelegenheit zur
Stellungnahme erhalten. Eine schriftliche Stellungnahme ist nicht eingegangen.
B.
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Die Wahlprüfungsbeschwerde ist zulässig.
I.
Der Beschwerdeführer ist als Wahlberechtigter im Sinne des § 59 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
VerfGGBbg beschwerdeberechtigt. Daß er noch vor Erhebung der
Wahlprüfungsbeschwerde nach Berlin gezogen ist und damit seinen am Sitz der
Hauptwohnung vermuteten ständigen Wohnsitz (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 BbgWahlG) in ein
anderes Bundesland verlegt hat, ist zwar im Hinblick auf die sachlichen Voraussetzungen
des Wahlrechts gemäß § 5 Abs. 1 BbgLWahlG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Satz 1 LV
beachtlich, wirkt sich aber hier auf die Beschwerdeberechtigung im
Wahlprüfungsverfahren nicht mehr aus. Maßgeblich - und damit für die Annahme der
Beschwerdeberechtigung ausreichend - ist, daß der Beschwerdeführer jedenfalls auch
noch zum Zeitpunkt der Einlegung des Wahleinspruchs nach § 3 Wahlprüfungsgesetz
(WPrüfG) wahlberechtigt gewesen ist. Die durch die Einleitung des Einspruchsverfahrens
erlangte Stellung als Verfahrensbeteiligter wird durch den späteren Verlust der
Wahlberechtigung nicht berührt. Die Unbeachtlichkeit der Wohnsitzverlegung folgt freilich
nicht schon aus dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 BbgWahlG. Die Worte "am Wahltag"
dienen erkennbar der Berechnung des Lebensalters (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BbgWahlG)
und der Monatsfrist (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BbgWahlG; vgl. BVerfGE 5, 2, 7 zu § 1 BWG in
der damals geltenden Fassung). Von daher ist lediglich davon auszugehen, daß der
Verlust des aktiven Wahlrechts nach der Stimmabgabe "zunächst nicht in Erscheinung"
tritt (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 6). Entscheidend ist hier indes § 59 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
VerfGGBbg. Soweit § 59 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VerfGGBbg die Beschwerdeberechtigung
solchen Wahlberechtigten einräumt, "deren Wahlanfechtung vom Landtag verworfen
worden ist", liegt die Betonung erkennbar auf dem Nebensatz. Voraussetzung der
Beschwerdeberechtigung ist danach die erfolglose Einlegung des Einspruchs und nicht
das Fortbestehen der sachlichen Voraussetzungen des Wahlrechts gemäß § 5 Abs. 1
BbgLWahlG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Satz 1 LV. Die Bezeichnung
"Wahlberechtigter" dient in diesem Zusammenhang lediglich der Abgrenzung zu den
anderen Beschwerdeberechtigten (Abgeordnete, Fraktionen oder Minderheiten des
Landtages). Auch § 13 Abs. 2 WPrüfG steht dieser Auslegung nicht entgegen. Hiernach
findet eine Wiederholungswahl nur dann aufgrund derselben Wählerverzeichnisse wie die
Hauptwahl statt, wenn die Hauptwahl nicht länger als sechs Monate zurückliegt; ein dann
nicht mehr wahlberechtigter Beschwerdeführer kann mithin im Fall einer erst nach
diesem Zeitpunkt zum Erfolg führenden Wahlanfechtung nicht mehr an der
Wiederholungswahl teilnehmen, die infolge Ungültigerklärung nach § 13 Abs. 1 WPrüfG
stattfindet. Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß die einmal gegebene
Beschwerdeberechtigung für die Wahlprüfungsbeschwerde mit dem nachträglichen
Verlust der Wahlberechtigung allgemein oder jedenfalls dann entfiele, wenn der Wahltag
- wie vorliegend - bereits länger als sechs Monate zurückliegt. Es widerspräche dem
objektiven Charakter des Wahlprüfungsverfahrens (vgl. hierzu etwa BVerfGE 1, 430, 433;
66, 369, 378; 79, 47, 48), wenn ein durch zulässigen Einspruch eingeleitetes
Wahlprüfungsverfahren wegen des späteren Wegfalls persönlicher Voraussetzungen bei
dem Beschwerdeberechtigten keiner Sachentscheidung mehr zugeführt werden könnte.
II.
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist nicht verspätet.
Gemäß § 12 Abs. 2 WPrüfG, § 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg ist die Beschwerde gegen die
Entscheidung des Landtages in Wahlprüfungssachen innerhalb einer Frist von 2 Monaten
seit der Entscheidung des Landtages beim Verfassungsgericht zu erheben. Zwar legt
der bloße Wortlaut beider Bestimmungen zunächst die Auslegung nahe, daß die Frist
bereits mit Beschlußfassung des Landtages zu laufen beginnt. Aus systematischen und
teleologischen Gründen ist der Begriff "Entscheidung" in diesem Zusammenhang jedoch
im Sinne einer "zugestellten und mit zutreffender Rechtsmittelbelehrung versehenen
Entscheidung" zu verstehen (s. nachfolgend 1). Diese ist hier frühestens mit der
Zustellung der berichtigten Rechtsmittelbelehrung durch den Präsidenten des Landtages
am 2. März 2000 erfolgt (s. nachfolgend 2); die Zwei-Monats-Frist war mithin zum
Zeitpunkt des Eingangs der Wahlprüfungsbeschwerde beim Verfassungsgericht am 2.
Mai 2000 noch nicht abgelaufen.
1. a) Die Zwei-Monats-Frist beginnt - anders als nach § 48 Abs. 1
Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) - nicht bereits mit der Beschlußfassung
des Landtages, sondern erst mit der Zustellung an die Beteiligten. § 12 Abs. 2 WPrüfG
und § 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg unterscheiden sich schon im Wortlaut von § 48 Abs. 1
BVerfGG. Während dort von "Beschlußfassung" des Bundestages die Rede und damit der
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BVerfGG. Während dort von "Beschlußfassung" des Bundestages die Rede und damit der
parlamentarische Akt angesprochen ist, knüpfen sowohl § 12 Abs. 2 WPrüfG als auch §
59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg an die "Entscheidung" an. Beide Vorschriften greifen damit
einen Sprachgebrauch auf, der eine Auslegung dahin eröffnet, daß unter "Entscheidung"
die dem späteren Rechtsmittelführer zugestellte Entscheidung zu verstehen ist. Hätte
der Landesgesetzgeber allein auf die Beschlußfassung des Landtages abstellen, also auf
die Zustellung als Voraussetzung für den Fristbeginn verzichten wollen, hätte eine
Formulierung wie im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nahe gelegen. Nur wenn es für
die Beschwerdefrist auf die Zustellung ankommt, macht es im übrigen Sinn, daß nach §
11 Abs. 2 WPrüfG der Entscheidung der Beschluß des Landtages, die
Beschlußempfehlung und der Bericht des Wahlprüfungsausschusses sowie eine
Rechtsmittelbelehrung beizufügen sind. "Entscheidung" im Sinne des Gesetzes bedeutet
hiernach Bekanntgabe des Landtagsbeschlusses an den Einspruchsführer und
gegebenenfalls die betroffenen Abgeordneten. Hinzu kommt, daß § 11 Abs. 1 WPrüfG
ausdrücklich bestimmt, daß die Entscheidung des Landtages dem Beschwerdeführer
innerhalb von zwei Wochen nach der Beschlußfassung zuzustellen ist. Das
Zustellungserfordernis beinhaltet nach der im Land Brandenburg geltenden Rechtslage
zugleich, daß die Beschwerdefrist erst mit dem Zeitpunkt der Zustellung zu laufen
beginnt. Dies ergibt sich aus der - in Verbindung mit der Verweisungsnorm des § 13 Abs.
1 VerfGGBbg hier anwendbaren - Bestimmung des § 57 Abs. 1
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), derzufolge der Lauf einer Frist, soweit nichts
anderes bestimmt ist, mit der Zustellung beginnt. Zwar ist die Zustellung des
Parlamentsbeschlusses auch im Bundesrecht vorgeschrieben (vgl. § 13 Abs. 3
Wahlprüfungsgesetz des Bundes); dies hat jedoch dort keine Auswirkungen auf den Lauf
der Beschwerdefrist, weil es eine § 13 Abs. 1 VerfGGBbg vergleichbare
Verweisungsvorschrift im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht gibt und deshalb § 57
Abs. 1 VwGO nicht zur Anwendung kommt.
Für die hier vertretene Auslegung spricht schließlich der in Art. 6 Abs. 1 LV verankerte
Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes. Eine Beschränkung des Rechtsschutzes durch
Befristung setzt grundsätzlich voraus, daß die Verfahrensbeteiligten in der Lage sind,
Fristbeginn und -ende exakt zu bestimmen. Dem würde eine Bestimmung, derzufolge
die Frist bereits mit der Beschlußfassung des Landtages zu laufen beginnt, schwerlich
gerecht. Zwar ergeht der Beschluß grundsätzlich in öffentlicher Sitzung (vgl. § 19 Satz 1
der Geschäftsordnung des Landtages Brandenburg), so daß Interessierte theoretisch die
Möglichkeit haben, unmittelbar Kenntnis zu nehmen. Eine vorherige Information des
Wahleinspruchsführers über den Termin der Sitzung, in der der Landtag über den
Einspruch entscheidet, ist jedoch gesetzlich nicht vorgesehen. Auch kann einem
Einspruchsführer zumutbarerweise nicht abverlangt werden, sich gleichsam "ins Blaue
hinein" in regelmäßigen Abständen zu erkundigen, ob die Beschlußfassung in seiner
Wahlprüfungssache auf der Tagesordnung einer Sitzung des Landtages steht, um auf
diese Weise sicherzustellen, daß er rechtzeitig vor Ablauf der Zwei-Monats- Frist
Kenntnis von der Entscheidung des Landtages erlangt.
b) Der Lauf der Frist nach § 12 Abs. 2 WPrüfG und § 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg setzt
weiterhin voraus, daß der zugestellten Entscheidung eine ordnungsgemäße
Rechtsmittelbelehrung beigefügt ist. Das Erfordernis einer Rechtsmittelbelehrung ist in §
11 Abs. 2 WPrüfG ausdrücklich bestimmt. Ohne solche Rechtsmittelbelehrung beginnt
die Beschwerdefrist nicht zu laufen. Dies ergibt sich aus der - wiederum in Verbindung
mit der Verweisungsnorm des § 13 Abs. 1 VerfGGBbg anwendbaren - Bestimmung des §
58 Abs. 1 VwGO, derzufolge die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen
Rechtsbehelf nur zu laufen beginnt, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die
Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den
Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Angesichts dieser
Rechtslage ist es hinzunehmen, daß bei fehlender oder fehlerhafter
Rechtsmittelbelehrung die Wahlprüfungsbeschwerde über die in §§ 12 Abs. 2 WPrüfG, 59
Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg bestimmte Zwei-Monats-Frist hinaus bis zu einem Jahr lang
möglich ist (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO) und dementsprechend die endgültige Klärung der
Zusammensetzung des Parlaments längere Zeit in der Schwebe bleiben kann. Da ein
erhebliches öffentliches Interesse an der alsbaldigen Klärung der Gültigkeit oder
Ungültigkeit einer Wahl (vgl. BVerfGE 21, 359, 361 im Zusammenhang mit der
Wahlprüfungsbeschwerde nach § 48 BVerfGG) besteht und die Wahlprüfungsbeschwerde
in erster Linie dem Schutz des objektiven Wahlrechts im Interesse der gesetzmäßigen
Zusammensetzung des Parlaments dient (vgl. BVerfGE 1, 430, 432 f.; 66, 311, 313),
hätte es allerdings gute Gründe auch für eine Lösung wie auf Bundesebene gegeben.
Der Landesgesetzgeber hat sich jedoch durch die auch für das Verfahren der
Wahlprüfungsbeschwerde geltende Verweisungsnorm des § 13 Abs. 1 VerfGGBbg für die
Anwendung des § 58 Abs. 1 VwGO und damit für eine Einspruchsführer-freundliche
Regelung entschieden.
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2. Hiervon ausgehend ist die Frist der §§ 12 Abs. 2 WPrüfG, 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg
erst mit der Zustellung der "berichtigten Rechtsmittelbelehrung" des Präsidenten des
Landtages an den Beschwerdeführer am 2. März 2000 in Gang gesetzt worden. Die dem
Beschluß des Landtages vom 15. Dezember 1999 als Ziffer III. angefügte
Rechtsmittelbelehrung war unvollständig im Sinne des § 58 Abs. 1 VwGO und konnte
deshalb die Beschwerdefrist nicht auslösen. Dabei fällt nicht ins Gewicht, daß der Sitz
des Verfassungsgerichts nicht genannt war. Im Hinblick darauf, daß das
Landesverfassungsgericht zum Kreis der Verfassungsorgane gehört und es im Land
Brandenburg nur ein Verfassungsgericht - ebenso wie nur einen Landtag und eine
Landesregierung - gibt, ist im Rahmen der entsprechenden Anwendung des § 58 Abs. 1
VwGO bei der Rechtsmittelbelehrung die - sich von selbst verstehende - Angabe des
Sitzes des Verfassungsgerichts entbehrlich. Anders verhält es sich jedoch mit dem
fehlenden Hinweis auf das in § 59 Abs. 1 Nr. 2 VerfGGBbg geregelte Erfordernis des
Beitritts von hundert Wahlberechtigten. Insoweit ist die Rechtsmittelbelehrung
unvollständig. Zwar gehört das Beitrittserfordernis naturgemäß nicht zu dem in § 58
Abs. 1 VwGO ausdrücklich geregelten Mindestinhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung. Es
handelt sich jedoch um eine zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung, die den Zugang
zum Rechtsschutz für den Beschwerdeführer erheblich beschränkt. Eine fehlende oder in
diesem Punkte unzutreffende Belehrung dürfte das Risiko, daß die erforderlichen hundert
Beitrittserklärungen nicht rechtzeitig innerhalb der Zwei-Monats- Frist erlangt werden
können, beträchtlich vergrößern. Eine Verlängerung oder Neueröffnung der Frist kommt
wegen des öffentlichen Interesses an einer alsbaldigen Klärung der Gültigkeit oder
Ungültigkeit der Wahl nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 21, 359, 361 f.; 58, 172). Auch die
Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht nach allgemeiner
Ansicht nicht (vgl. Storost, in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz,
1992, Rn. 35 zu § 48; Schmidt- Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/ Ulsamer,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand Februar 1999, Rn. 35 zu § 48). Vor diesem
Hintergrund kommt dem Hinweis auf das Erfordernis des Beitritts von hundert
Wahlberechtigten eine so entscheidende Bedeutung zu, daß er in der nach § 11 Abs. 2
WPrüfG zu erteilenden Rechtsmittelbelehrung - auch ohne in § 58 Abs. 1 VwGO erwähnt
zu sein - zwingend enthalten sein muß.
Da mithin weder die Beschlußfassung des Landtages als solche noch - wegen der
Unvollständigkeit der beigefügten Rechtsmittelbelehrung - die Zustellung des
Landtagsbeschlusses an den Beschwerdeführer die Zwei-Monats-Frist gemäß §§ 12 Abs.
2 WPrüfG, 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg in Gang gesetzt haben, ist hier die Frist für die
Anrufung des Landesverfassungsgerichts gewahrt. Die Zwei-Monats-Frist nach §§ 12
Abs. 2 WPrüfG, 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGGBbg hat erst mit der Zustellung der "berichtigten
Rechtsmittelbelehrung" des Präsidenten des Landtages an den Beschwerdeführer am 2.
März 2000 zu laufen begonnen. Somit ist die Erhebung der Wahlprüfungsbeschwerde am
2. Mai 2000 rechtzeitig erfolgt. Ohne Bedeutung bleibt, ob der Beschwerdeführer durch
die unvollständige Rechtsmittelbelehrung an einer frühzeitigen Erhebung der
Wahlprüfungsbeschwerde tatsächlich gehindert war.
C.
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist begründet.
Die Berufung von Frau Thiel-Vigh als Nachfolgerin der ausgeschiedenen Abgeordneten
Dr. Hildebrandt ist unwirksam. Sie läßt sich auf die - insoweit allein in Betracht
kommende - Vorschrift des § 43 Abs. 1 Satz 1 BbgLWahlG nicht stützen.
Für den Fall, daß ein gewählter Bewerber die Annahme der Wahl ablehnt oder ein
Abgeordneter nachträglich aus dem Landtag ausscheidet, bestimmt § 43 Abs. 1 Satz 1
BbgLWahlG, daß der Sitz auf die nächste noch nicht gewählte Ersatzperson der
Landesliste derjenigen Partei übergeht, für die die ausgeschiedene Person bei der Wahl
aufgetreten ist. Die Feststellung trifft nach § 43 Abs. 4 Satz 1 BbgLWahlG der
Landeswahlleiter. Geht man isoliert vom Wortlaut der Regelung aus, lagen die
gesetzlichen Voraussetzungen für die Nachfolge hier vor. Nach dem Ausscheiden der
Abgeordneten Dr. Hildebrandt aus dem Landtag infolge ihres Verzichts (vgl. § 41 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 BbgLWahlG) hätte danach der Sitz auf Frau Thiel-Vigh als nächste noch
nicht gewählte Ersatzperson der Landesliste der SPD übergehen müssen. § 43 Abs. 1
Satz 1 BbgLWahlG ist jedoch mit Blick auf Wesen und Bedeutung des demokratischen
Wahlrechts und den in Art. 22 Abs. 3 Satz 1 LV, Art. 38 Abs. 1 Satz 1, 28 Abs. 1 Satz 2
Grundgesetz (GG) geregelten Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl einschränkend
dahin auszulegen, daß das Nachrücken einer Ersatzperson aus der Landesliste entfällt,
wenn der oder die ausscheidende Abgeordnete nicht nach der Landesliste, sondern im
Wahlkreis gewählt worden ist und die Partei, der sie angehört, über bis zu zwei
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Wahlkreis gewählt worden ist und die Partei, der sie angehört, über bis zu zwei
Überhangmandate verfügt. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
a) § 43 Abs. 1 Satz 1 BbgLWahlG entspricht weitgehend der Regelung des § 48 Abs. 1
Bundeswahlgesetz (BWG). Nach der hierzu ergangenen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluß vom 26. Februar 1998 - 2 BvC 28/96 -,
BVerfGE 97, 317) setzt eine Nachfolgeregelung für aus dem Parlament ausscheidende
Bewerber voraus, daß die nachrückenden Listenbewerber schon bei der Wahl als
Ersatzleute mitgewählt werden. Da nach dem Wahlsystem und seiner Ausgestaltung
durch das Bundeswahlgesetz diese Mitwahl ausschließlich über die Zweitstimme erfolgt,
ist ein Rückgriff auf Listenplätze nicht möglich, wenn der Sitz eines
Wahlkreisabgeordneten einer Partei frei wird, die - und solange sie - über
Überhangmandate verfügt; denn hierbei handelt es sich um Direktmandate, die durch
die gesetzliche Anrechnung keinen Listensitz verdrängt haben und damit nicht auch
durch das Zweitstimmenergebnis getragen werden. Die Nachfolgeregelung des § 48
Abs. 1 BWG ist daher in einem solchen Fall nicht anwendbar.
Entgegen der in seinem den Wahleinspruch zurückweisenden Beschluß zum Ausdruck
kommenden Auffassung des Landtages ist diese Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts auf die Auslegung des § 43 Abs. 1 Satz 1 BbgLWahlG zu
übertragen. Die in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 und 38 Abs. 1 Satz 1 GG umschriebenen
Wahlrechtsgrundsätze gelten als allgemeine Rechtsprinzipien für Wahlen zu allen
Volksvertretungen im staatlichen und kommunalen Bereich (BVerfGE 47, 253, Leitsatz
3). Zwar verlangt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG keine schematische Übernahme des
Bundeswahlrechts durch die Länder (vgl. Dreier, in: ders. , Grundgesetz-
Kommentar, Bd. 2, 1998, Rn. 65 zu Art. 28). Soweit das Wahlrecht für die Wahlen zum
Landtag jedoch erkennbar in Anlehnung an das Bundeswahlrecht ausgestaltet ist, ist die
hierzu ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einschlägig. Die
wesentlichen wahlsystembestimmenden Grundentscheidungen sind im Bund und im
Land Brandenburg identisch. Wie der Bundesgesetzgeber hat sich auch der
brandenburgische Landesgesetzgeber - der Vorgabe in Art. 22 Abs. 3 LV entsprechend -
für ein System der personalisierten Verhältniswahl entschieden. Danach wird ein Teil der
Abgeordneten mit relativer Mehrheit in den Wahlkreisen, der andere Teil auf Grund von
Landeslisten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt; durch Anrechnung der
Direktmandate auf die nach dem Zweitstimmenergebnis der Landesliste zustehende
Sitzzahl findet sodann ein Verhältnisausgleich statt (vgl. im einzelnen § 6 BWG, § 3 LWG).
b) Einem Rückgriff auf die dargelegte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
für die Auslegung des § 43 Abs. 1 Satz 1 BbgLWahlG steht entgegen der Auffassung des
Landtages nicht entgegen, daß das Landeswahlrecht mit den Regelungen des
Bundeswahlrechts nicht in allen Einzelheiten deckungsgleich ist. Soweit Unterschiede
bestehen, wirken sie sich im vorliegend interessierenden Zusammenhang nicht aus.
Entscheidend ist, daß auch § 43 Abs. 1 Satz 1 BbgLWahlG für die hier zugrundeliegende
Konstellation keine Regelung der Nachfolge ausgeschiedener Wahlkreisabgeordneter für
den Fall enthält, daß die betreffende Partei über Überhangmandate verfügt. Eine
Abweichung von der bundesrechtlichen Rechtslage besteht insoweit nur unter der - hier
nicht gegebenen - Voraussetzung, daß die Zahl der Überhangmandate mehr als zwei
beträgt und andererseits nicht eine Höhe erreicht, die bei Anwendung der
Ausgleichsregelung des § 3 Abs. 6 ff. dazu führen würde, daß die Höchstzahl von 110
Abgeordneten überschritten wird (vgl. § 3 Abs. 9 BbgLWahlG). Im einzelnen ergibt der
Vergleich von Bundes- und Landeswahlrecht folgendes:
Das Brandenburgische Landeswahlgesetz sieht ebensowenig wie das Bundeswahlgesetz
vor, daß für Wahlkreisbewerber Ersatzleute aufgestellt werden, die am Wahltag mit der
Erststimme mitgewählt werden, um im Fall des Ausscheidens des erfolgreichen
Wahlkreisbewerbers an seine Stelle treten zu können (vgl. BVerfGE 97, 317, 326).
Dementsprechend werden auch in Brandenburg Ersatzleute für parteiangehörige
Wahlkreisabgeordnete ebenso wie für gewählte Bewerber der Landesliste ausschließlich
mit den für die Landesliste abgegebenen Zweitstimmen (vgl. § 1 Abs. 2 BbgLWahlG)
gewählt. Wie die entsprechende bundesrechtliche Regelung des § 6 Abs. 4 BWG sieht
auch § 3 Abs. 5 BbgLWahlG vor, daß die Direktmandate auf die Sitzzahl, die der
Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht, angerechnet werden, so daß die
Sitze der Wahlkreisabgeordneten in der Regel auch vom Ergebnis der Zweitstimmen
getragen werden. Wie im Bund entfällt die Anrechnung jedoch, wenn eine Partei über
mehr Direktmandate verfügt als ihr Listensitze zustehen. Solche Überhangmandate sind
also auch in Brandenburg nicht vom Zweitstimmenergebnis getragen, so daß die
Landesliste insoweit keine mitgewählten Ersatzleute vorhält.
Allerdings sehen die Regelungen des brandenburgischen Wahlrechts in § 3 Abs. 7 ff.
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Allerdings sehen die Regelungen des brandenburgischen Wahlrechts in § 3 Abs. 7 ff.
BbgLWahlG im Gegensatz zum Bundeswahlrecht grundsätzlich einen Verhältnisausgleich
vor, demzufolge im Fall von Überhangmandaten die Gesamtzahl der Abgeordneten nach
einem im einzelnen geregelten Verfahren erhöht und erneut auf der Grundlage des
Zweitstimmenergebnisses auf die Parteien verteilt wird. Dies hat gegebenenfalls zur
Folge, daß die errungenen Direktmandate nunmehr vollständig auf die (erhöhte)
Sitzzahl, die auf die Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis entfallen, angerechnet
werden. Da die Überhangmandate unter diesen Voraussetzungen auch vom
Zweitstimmenergebnis mitgetragen werden, wäre in einem solchen Fall die Nachfolge
einer Ersatzperson der Landesliste für einen ausgeschiedenen Wahlkreisabgeordneten in
der Tat nicht zu beanstanden. Ein Verhältnisausgleich findet jedoch vorliegend nicht
statt. Er kommt nach § 3 Abs. 11 BbgLWahlG nicht zum Tragen, wenn Parteien,
politische Vereinigungen oder Listenvereinigungen - wie hier - nur bis zu zwei Sitze nach
§ 3 Abs. 6 BbgLWahlG erreicht haben, die Zahl der Überhangmandate mithin nicht höher
als zwei ist. Bis zu zwei Überhangmandate beruhen mithin weiterhin ausschließlich auf
dem Erststimmenergebnis im Wahlkreis und werden nicht auch durch das - für § 43 Abs.
1 Satz 1 BbgLWahlG allein maßgebliche - Zweitstimmenergebnis getragen.
c) Entgegen der in dem Beschluß des Landtages wiedergegebenen Auffassung des
Landeswahlleiters bewirkt die Brandenburgische Regelung des Verhältnisausgleichs
keine "enge wahlsystemimmanente Koppelung von Erst- und Zweitstimmen bei der
Stimmabgabe", die den Wählern bewußt sei und es daher - so wohl die Stoßrichtung des
Arguments - rechtfertige, die Abgabe der Erststimme zugleich als Wahl der Bewerber der
Landesliste der Partei dieses Bewerbers zu werten. Der Verhältnisausgleich hat vielmehr
gerade zum Ziel, den nach den Zweitstimmen zu bestimmenden Proporz zwischen den
im Landtag vertretenen Parteien, der durch das Anfallen von - allein durch Erststimmen
getragenen - Überhangmandaten beeinträchtigt wird, wiederherzustellen. Durch den
Verhältnisausgleich kommt es mithin nicht zu einer "Koppelung von Erst- und
Zweitstimmen", sondern - im Gegenteil - zu einer möglichst weitgehenden
"Entkoppelung" in dem Sinne, daß Auswirkungen der Erststimmen auf den durch das
Zweitstimmenergebnis hergestellten Proporz minimiert werden. Für den Wähler zum
Landtag ist mithin noch weniger als für den Wähler zum Bundestag erkennbar, daß er
mit seiner Erststimme für einen Wahlkreisbewerber zugleich die Bewerber der
Landesliste der Partei dieses Bewerbers als mögliche Nachrücker wählt. Unter diesen
Umständen wäre das Nachrücken eines Landeslisten-Bewerbers mit dem Grundsatz der
Unmittelbarkeit der Wahl nicht zu vereinbaren (vgl. BVerfGE 97, 317, 326 f.).
d) Daß der Gesetzgeber hinsichtlich der Nachfolgeregelung bewußt von der für das
Bundeswahlrecht geltenden Rechtslage hätte abweichen wollen, ist (ungeachtet der
Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit) nicht ersichtlich. Er hat vielmehr - ebenso
wie der Bundesgesetzgeber - die erst mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 1998 zutage getretene Problematik des
Nachrückens von Listenbewerbern für ausscheidende Wahlkreisabgeordnete bei
Bestehen von Überhangmandaten gar nicht gesehen. Dies wird aus der
Entstehungsgeschichte des Gesetzes deutlich. In dem Gesetzentwurf der
Landesregierung (LT-Drucks. 1/2084) heißt es in der Einzelbegründung zu § 43:
"Fällt ein gewählter Bewerber aus oder scheidet ein Mitglied des Landtages aus, dann
rückt der nächste bisher noch nicht berücksichtigte Listenbewerber derjenigen Partei,
politischen Vereinigung oder Listenvereinigung nach, über deren Wahlvorschlag der
Ausgeschiedene gewählt war. Dieser Grundsatz gilt auch für die in den 44 Wahlkreisen
gewählten Bewerber." (Hervorhebung durch das Gericht)
Und in der Einzelbegründung zu § 1 heißt es:
"Ein im Laufe der Wahlperiode ausscheidender Wahlkreisabgeordneter wird nicht durch
Nachwahl in seinem Wahlkreis, sondern über die Landesliste ersetzt (s. § 43; Ausnahme
davon s. § 44 Abs. 1)".
Als einzige Ausnahme vom Nachrücken - mit der Folge der Durchführung einer
Ersatzwahl - wurde mithin der Fall gesehen, daß der ausgeschiedene Abgeordnete als
Einzelbewerber oder als Wahlkreisabgeordneter einer Partei, politischen Vereinigung
oder Listenvereinigung gewählt war, für die keine Landesliste zugelassen worden war.
Ohne Bedeutung bleibt, daß der Regierungsentwurf in § 3 Abs. 7 noch vorsah, daß die
Zahl der Ausgleichsmandate die Hälfte der Zahl der Überhangmandate nicht
übersteigen dürfe. Bei einer derartigen Regelung hätte sich das Problem eines
Nachrückens von Listenbewerbern für ausscheidende Wahlkreisabgeordnete bei
Überhangmandaten nicht erübrigt, sondern - im Gegenteil - umso dringlicher gestellt, da
eine Wiederherstellung des Proporzes und damit eine Abstützung der Überhangmandate
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eine Wiederherstellung des Proporzes und damit eine Abstützung der Überhangmandate
durch das Zweitstimmenergebnis in keinem Fall mehr in Betracht gekommen wäre. Im
weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ist die Tragweite der Nachrückerregelung
nicht mehr problematisiert worden.
Andererseits lassen die Gesetzesmaterialien deutlich erkennen, daß sich die
Sitzverteilung im Landtag möglichst weitgehend am Zweitstimmenergebnis orientieren
sollte. Zu Beginn wurde zwar teilweise ein vollständiger Verzicht auf Ausgleichsmandate
gefordert (z.B. Abg. Dr. Knoblich in der Sitzung des Rechtsausschusses vom 18.8.1993,
Ausschußprot. 1/786). Im weiteren Verlauf der Beratungen bestand jedoch
Übereinstimmung zwischen den Fraktionen, mit der Anwendung von Überhang- und
Ausgleichsmandaten die Zusammensetzung des Landtags "weitgehend dem
Wählerwillen bei Erst- und Zweitstimmen zugleich entsprechen zu wollen." (vgl.
Beschlußempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, LT-Drs. 1/2701, S. 72). Streitig
blieb lediglich die Kappungsgrenze, d.h. die Frage, ob und wie die durch Überhang- und
Ausgleichsmandate bewirkte Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordneten im Interesse
der Kostenbegrenzung und der Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu beschränken sei (vgl.
Beschlußempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, a.a.O., sowie die Redebeiträge
der Abg. Nooke (BÜNDNIS) und Dr. Vette (CDU), Plenarprot. 1/85 vom 26.1.1994, S.
6892 bzw. 6895). Die von einer derartigen Ausnahme vom Verhältnisausgleich
ausgehenden Auswirkungen auf die Nachrückerregelung des § 43 sind indes - soweit
ersichtlich - nicht erörtert worden. Dies gilt erst recht für die - im vorliegenden
Zusammenhang maßgebliche - Ausnahme des § 3 Abs. 11 BbgLWahlG. Die
Bestimmung geht auf einen vom Hauptausschuß erbetenen Formulierungsvorschlag des
Ministeriums des Innern zu § 3 des Entwurfs zurück. Eine nähere Begründung für die in
Absatz 11 enthaltene Regelung enthielt der Vorschlag nicht. Die Formulierung wurde in
der Sitzung des Hauptausschusses vom 18.1.1994 ohne weitere Erörterung mehrheitlich
beschlossen (vgl. Ausschußprot. 1/939). Insgesamt kann bei dieser Sachlage nicht
davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber mit der Nachfolgeregelung des § 43
BbgLWahlG verbundene Abweichungen von einer ausschließlich am
Zweitstimmenergebnis ausgerichteten Sitzverteilung bewußt hätte in Kauf nehmen
wollen.
e) Für den hier zu entscheidenden Fall ergibt sich hieraus: Da bei der Wahl zum 3.
Landtag Brandenburg am 5. September 1999 nur ein einziges Überhangmandat
angefallen ist und deshalb nach § 3 Abs. 11 BbgWahlG die Ausgleichsregelung nicht zur
Anwendung gekommen ist, hat das betreffende Direktmandat keinen Listenplatz - hier
der SPD - verdrängt und wird damit nicht auch durch das Zweitstimmenergebnis
getragen.
Soweit vom Landeswahlleiter ausweislich der Begründung des Landtagsbeschlusses im
Einspruchsverfahren ergänzend darauf abgestellt worden ist, daß die SPD im Vergleich
zu den anderen im Landtag vertretenen Gruppierungen die höchste Zahl von
Zweitstimmen pro erlangtem Mandat hat, gibt dies für den hier zu entscheidenden Fall
nichts her, weil sich nichts daran ändert, daß das errungene Überhangmandat nicht
auch von dem - in dem Verfahren nach § 3 Abs. 3 und 4 BbgLWahlG ermittelten -
maßgeblichen Zweitstimmenanteil getragen ist, sondern allein auf den Erststimmen im
Wahlkreis beruht.
Ohne Bedeutung bleibt auch, daß die Anwendung der Ausgleichsformel im konkreten Fall
keine andere Sitzverteilung ergeben hätte, wie sich aus dem folgenden ergibt: Ohne
Ausgleichsregelung entfallen nach der Feststellung des Landeswahlausschusses auf der
Grundlage des endgültigen Wahlergebnisses von den insgesamt 89 Sitzen (vgl.
Amtsblatt für Brandenburg 1999, 920, 966 ff.) 37 Sitze auf die SPD (einschließlich des
Überhangmandates), 25 Sitze auf die CDU, 22 Sitze auf die PDS und 5 Sitze auf die
DVU. Bei Anwendbarkeit der Ausgleichsregelung des § 3 Abs. 8 BbgLWahlG wäre zur
Errechnung der Gesamtzahl der Abgeordneten die Zahl der in den Wahlkreisen
errungenen Sitze der SPD (als der einzigen Partei, die ein Überhangmandat errungen
hat) durch die Zahl ihrer Zweitstimmen im Wahlgebiet (nach dem endgültigen
Wahlergebnis: 433 521) zu teilen und mit der Gesamtzahl aller zu berücksichtigenden
Zweitstimmen im Wahlgebiet (d.h. der Summe der für SPD, CDU, PDS und DVU
abgegebenen Stimmen, nach dem endgültigen Wahlergebnis: 1 041 711) zu
multiplizieren. Da Zahlenbruchteile ab 0,5 auf die darüber liegende ganze Zahl gerundet
werden, ergäbe sich wiederum eine Gesamtzahl von 89 Abgeordneten, die gemäß § 3
Abs. 8 Satz 3 nach den Absätzen 3 bis 6 zu verteilen wäre mit dem Ergebnis, daß auf die
SPD ein zusätzlicher Sitz entfallen würde, auf den das bisherige Überhangmandat nach
§ 3 Abs. 5 Satz 1 BbgLWahlG anzurechnen wäre. Derartige hypothetische Erwägungen
verbieten sich jedoch schon im Hinblick auf den Umstand, daß der Gesetzgeber in § 3
Abs. 11 BbgLWahlG ausdrücklich angeordnet hat, daß ein Verhältnisausgleich nach
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Abs. 11 BbgLWahlG ausdrücklich angeordnet hat, daß ein Verhältnisausgleich nach
Absatz 7 nicht stattfindet, wenn Parteien ausschließlich bis zu zwei Überhangmandate
erreicht haben.
f) Nach alledem war ein Rückgriff auf die Landesliste der SPD nach dem Freiwerden des
Sitzes der im Wahlkampf für die SPD aufgetretenen und in ihrem Wahlkreis direkt
gewählten Abgeordneten Dr. Hildebrandt nicht zulässig.
D.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 32 Abs. 7
Satz 2 VerfGGBbg.
E.
Das Urteil ist mit 6 zu 2 Stimmen ergangen.
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