Urteil des StGH Niedersachsen vom 23.01.2007

StGH Niedersachsen: sport, gesetzgebungsverfahren, ausschuss, anhörung, meinung, gebietskörperschaft, richteramt, rechtsgutachten, erlass, ausschluss

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Zu den Anforderungen an Äußerungen eines Richters in der Vorbereitung
und während des Gesetzgebungsverfahrens als Verhinderungsgrund.
§ 4 des Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung im
Landkreis Lüchow-Dannenberg vom 23. Mai 2006 (Nds.GVBl. S. 215)
Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Beschluss vom 23.01.2007, 1/06, StGH 1/06
§ 12 Abs 1 StGHG ND, § 18 Abs 1 Nr 2 BVerfGG, § 18 Abs 3 Nr 1 BVerfGG, § 18 Abs
3 Nr 2 BVerfGG, § 19 Abs 3 BVerfGG, § 19 Abs 1 BVerfGG, § 13 S 1 StGHG ND
Tenor
Der von dem Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs Prof. Dr. Ipsen
mit dienstlicher Erklärung vom 13. Dezember 2006 angezeigte Sachverhalt
hindert ihn an der Ausübung des Richteramtes.
Gründe
I.
1. Die Beschwerdeführerinnen, eine Samtgemeinde und deren
Mitgliedsgemeinden im Landkreis Lüchow-Dannenberg, wenden sich mit einer
Kommunalverfassungsbeschwerde gegen § 4 des Gesetzes zur Stärkung der
kommunalen Selbstverwaltung im Landkreis Lüchow-Dannenberg (Lüchow-
Dannenberg-Gesetz vom 23. Mai 2006 (Nds. GVBl. S. 215)). Sie sehen ihr
verfassungsmäßiges Recht auf Selbstverwaltung dadurch als verletzt an, dass
der Landkreis Lüchow-Dannenberg nach dieser Vorschrift alle Aufgaben des
übertragenen Wirkungskreises der Mitgliedsgemeinden anstelle der bisher
zuständigen Samtgemeinden wahrnimmt, soweit nicht Bundesrecht
ausdrücklich die Zuständigkeit der Gemeinden bestimmt.
Das Lüchow-Dannenberg-Gesetz modifiziert den von der Landesregierung am
20. Dezember 2005 in den Landtag eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
kommunalen Neugliederung im Raum Lüchow-Dannenberg (LT-Drucks.
15/2495), das den Zusammenschluss des Landkreises Lüchow-Dannenberg
und sämtlicher ihm angehörenden Samtgemeinden (Clenze, Dannenberg
(Elbe), Gartow, Hitzacker (Elbe) und Lüchow) einschließlich der diesen
angehörenden Mitgliedsgemeinden zu einer Samtgemeinde Lüchow-
Dannenberg vorsah, welche die Rechtsstellung einer öffentlichrechtlichen
Gebietskörperschaft mit dem Recht der Selbstverwaltung und eines kreisfreien
Kommunalverbandes haben sollte.
2. Prof. Dr. Ipsen, seit 2002 stellvertretendes Mitglied und seit Frühjahr 2006
Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, hat mit dienstlicher
Erklärung vom 13. Dezember 2006 angezeigt, dass er sich im Vorfeld des oben
genannten Gesetzentwurfs im Juni 2005 im Auftrag des Niedersächsischen
Ministeriums für Inneres und Sport rechtsgutachtlich zu der Frage geäußert
habe, ob die Bildung einer „kreisfreien Samtgemeinde“ im Raum Lüchow-
Dannenberg mit der Niedersächsischen Verfassung vereinbar wäre. In diesem
Gutachten ist er zu folgenden Ergebnissen gelangt:
„1. Die Voraussetzungen für eine Auflösung des Landkreises Lüchow-
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Dannenberg im Sinne des Art. 59 Abs. 1 NV wären gegeben, weil zwischen dem
Verwaltungsträger und den Verwaltungsaufgaben eine offensichtliche Disparität
besteht und die Besonderheit der Zonenrandlage inzwischen entfallen ist.
2. Die Bildung einer „kreisfreien Samtgemeinde“ als Gebietskörperschaft sui
generis könnte wegen der Verschränkung der örtlichen und überörtlichen Ebene
auf verfassungsrechtliche Bedenken stoßen, ließe sich aber als Akt
experimenteller Gesetzgebung grundsätzlich rechtfertigen.
3. Die Rechtfertigung am Maßstab des Art. 57 Abs. 1 NV hinge von der
Ausgestaltung im Einzelnen ab, insbesondere davon, wie die
Aufgabenverteilung zwischen überörtlicher und örtlicher Ebene austariert ist.
4. Eine im Zusammenhang mit der Errichtung einer „kreisfreien Samtgemeinde“
stehende Gemeindegebietsreform müsste allen Voraussetzungen genügen, die
aufgrund des Art. 59 Abs. 1 NV an eine solche Reform zu stellen sind und würde
ihrerseits an dem experimentellen Charakter des Gesetzes nicht teilhaben.
5. Das zur Verwirklichung der einzelnen Reformmaßnahmen erforderliche
Landesgesetz (Art. 59 Abs. 2 S. 1 NV) könnte vom Landkreis, den
Samtgemeinden und den Mitgliedsgemeinden der bisherigen Samtgemeinden
mit der kommunalen Verfassungsbeschwerde (Art. 54 Nr. 5 NV) angegriffen
werden.“
Die Kurzfassung des Rechtsgutachtens ist unter dem Titel „Kreisfreie
Samtgemeinde - ein Sonderorganisationsmodell für Niedersachsen?“ in Heft
12/2005 der Niedersächsischen Verwaltungsblätter (S. 313 ff.) veröffentlicht
worden. In einer Fußnote wies Prof. Dr. Ipsen darauf hin, dass der Beitrag auf
dem Rechtsgutachten für das Niedersächsische Ministerium für Inneres und
Sport beruhe.
Ferner hat Prof. Dr. Ipsen im Rahmen einer öffentlichen Anhörung in der 102.
Sitzung des Ausschusses für Inneres und Sport des Niedersächsischen
Landtages am 1. Februar 2006 zu dem mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf
angestrebten Zusammenschluss des Landkreises Lüchow-Dannenberg und
sämtlicher ihm angehörenden Samtgemeinden einschließlich ihrer
Mitgliedsgemeinden zu einer „kreisfreien Samtgemeinde“ Stellung genommen.
In seiner Äußerung hat er den ursprünglichen Entwurf einer kreisfreien
Samtgemeinde als Sonderorganisationsmodell bezeichnet, bei dem eine
Verschränkung der örtlichen mit der überörtlichen Ebene in der Weise erfolge,
dass die Gemeinden in ihrem Bestand unberührt blieben, sie ihre Aufgaben
allerdings auf die Samtgemeinde übertragen könnten, von der diese Aufgaben
dann weitgehend mitverwaltet würden. Das Modell sei zwar unter
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten risikobehaftet, verdiene es aber
gleichwohl, verwirklicht zu werden. Der Erörterungszusammenhang, in den sich
die Stellungnahme vor dem Ausschuss für Inneres und Sport des
Niedersächsischen Landtags einfügt, erschließt sich aus der allgemein
zugänglichen Niederschrift über die 102. Öffentliche Sitzung des Ausschusses
vom 1. Februar 2006, S. 40 ff..
Prof. Dr. Ipsen vertritt in seiner dienstlichen Erklärung die Auffassung, dass
weder seine Ausführungen in dem Rechtsgutachten noch seine Stellungnahme
in der Anhörung durch den Niedersächsischen Landtag ihn im vorliegenden
Verfahren nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG i.V.m. § 12 Abs. 1 StGHG von
seinem Richteramt ausschlössen. Es fehle bereits an dem Tatbestandsmerkmal
des Tätigwerdens „in derselben Sache“, das in einem konkreten, strikt
verfahrensbezogenen Sinn zu verstehen sei und deshalb nur das
verfassungsgerichtliche Verfahren selbst sowie ein diesem unmittelbar
vorangegangenes, sachlich zugeordnetes Verfahren meine. Selbst wenn aber
dieses Tatbestandsmerkmal weiter gefasst werde und einen sachlichen
Zusammenhang zwischen seinen Äußerungen und dem später mit geänderter
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Zielsetzung fortgeführten Gesetzgebungsverfahren als Ausschließungsgrund
genügen lasse, greife die Fiktion des § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG i.V.m. § 12 Abs.
1 StGHG ein, wonach die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer
Rechtsfrage, die für das Verfahren bedeutsam sein kann, nicht als Tätigkeit im
Sinne des § 18 Abs. 1 BVerfGG gelte. Im Übrigen habe der Niedersächsische
Landtag das im ursprünglichen Gesetzgebungsverfahren vorgesehene Modell
einer „kreisfreien Samtgemeinde“, zu deren Verfassungsmäßigkeit er sich
ausschließlich geäußert habe, nicht weiter verfolgt, sondern in dem von den
Beschwerdeführerinnen angegriffenen Lüchow-Dannenberg-Gesetz eine
Regelung getroffen, mit der er sich nicht auseinandergesetzt habe. Er halte sich
nicht für befangen, zeige seine gutachtliche Tätigkeit und seine Stellungnahme
vor dem Niedersächsischen Landtag jedoch vorsorglich für den Fall an, dass sie
bei einer der Beschwerdeführerinnen Zweifel an seiner Unbefangenheit in dem
Verfassungsbeschwerdeverfahren wecken sollten.
II.
Den Verfahrensbeteiligten ist Gelegenheit gegeben worden, sich zu der
dienstlichen Erklärung von Prof. Dr. Ipsen zu äußern. Der
Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerinnen hat zu der Erklärung
Stellung genommen. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, insbesondere unter Bezugnahme auf den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Mai 1998 (BVerfGE 98, 134
ff.), ist er der Ansicht, die beschriebenen gutachtlichen und sachverständigen
Äußerungen von Prof. Dr. Ipsen seien bei vernünftiger Würdigung aller
Umstände geeignet, bei den Beschwerdeführerinnen Zweifel an der
Unvoreingenommenheit des Richters zu wecken. Zwar fügten sich diese
Äußerungen in die Vorbereitung und anschließende parlamentarische Beratung
eines Gesetzgebungsvorhabens ein, das der Niedersächsische Landtag später
nicht mehr mit der ursprünglichen Zielsetzung weiterverfolgt habe. Sie beträfen
einen verfassungsrechtlichen Aspekt dieses Vorhabens, der sich nicht mehr
gestellt habe, nachdem der Niedersächsische Landtag einen Änderungsantrag
zu diesem Gesetzentwurf aufgegriffen und zur Grundlage einer anders
lautenden Regelung gemacht habe. Die Tatsache, dass Prof. Dr. Ipsen zuvor
die später aufgegebene „strengere“ Lösung befürwortet und es unternommen
habe, diese verfassungsrechtlich zu stützen, strahle aber auf den Gegenstand
des anhängigen Verfahrens aus. Es müsse angenommen werden, dass die
Befürwortung der ursprünglich beabsichtigten Regelung sich bei Prof. Dr. Ipsen
als Mitglied des Staatsgerichtshofs zumindest insoweit auf die dann Gesetz
gewordene „mildere“ Lösung erstrecke, als er auch diese nach dem Schluss a
maiore ad minus gleichfalls für verfassungsgemäß halten werde. Das aber
schließe seine innere Freiheit aus, im vorliegenden Verfahren unbefangen an
der Entscheidung mitzuwirken.
III.
1. Prof. Dr. Ipsen ist nicht kraft Gesetzes von der Ausübung des Richteramtes
ausgeschlossen. Ein Richter des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs ist nach
der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfG,
die über § 12 Abs. 1 StGHG Anwendung findet, dann von der Ausübung des
Richteramtes ausgeschlossen, wenn er in derselben Sache bereits von Amts
oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Das Tatbestandsmerkmal „in derselben
Sache“ ist in einem konkreten, strikt verfahrensbezogenen Sinne zu verstehen;
es meint das verfassungsgerichtliche Verfahren selbst sowie ein diesem
unmittelbar vorangegangenes und ihm sachlich zugeordnetes Verfahren (vgl.
BVerfGE 82, 30 (35 f.); 109, 130 (131)).
Handelt es sich um verfassungsgerichtliche Verfahren, die sich gegen
gerichtliche Entscheidungen wenden, hat das Bundesverfassungsgericht auch
das diesem Verfahren unmittelbar vorangegangene und ihm sachlich
zugeordnete Ausgangsverfahren als zu „derselben Sache“ gehörend
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angesehen. Hinsichtlich verfassungsgerichtlicher Verfahren, die sich - wie die
hier erhobene Kommunalverfassungsbeschwerde - unmittelbar gegen ein
Gesetz richten, ist jedoch eine Erstreckung des Begriffs „in derselben Sache“ auf
das vorangegangene Gesetzgebungsverfahren ausgeschlossen. Dies folgt aus
§ 18 Abs. 3 Nr. 1 BVerfGG i.V.m. § 12 Abs. 1 StGHG. Diese Vorschrift bestimmt,
dass die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren nicht als Tätigkeit im Sinne des
§ 18 Abs. 1 Nr. 2 „gilt“. Sie trifft damit nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 82, 30 (36)), der der
Staatsgerichtshof folgt, nicht lediglich eine Ausnahmeregelung von einer an sich
gegebenen Tätigkeit in derselben Sache für einen bestimmten Kreis von
Mitwirkenden, sondern sie legt allgemein fest, dass das
Gesetzgebungsverfahren als solches vom Begriff „derselben Sache“ im Sinne
des Abs. 1 Nr. 2 dieser Vorschrift ausgenommen sein soll. Schon deshalb
kommt das Gesetzgebungsverfahren, das zum Erlass des Lüchow-
Dannenberg-Gesetzes geführt hat, nicht als „Ausgangsverfahren“ in Betracht,
ohne dass an dieser Stelle noch geklärt werden müsste, ob das ursprüngliche,
auf die Bildung einer kreisfreien Samtgemeinde gerichtete Verfahren und die
Vorgänge, die zum Erlass des Lüchow-Dannenberg-Gesetzes in der
vorliegenden Fassung geführt haben, als einheitliches Gesetzgebungsverfahren
oder als getrennte Gesetzgebungsverfahren zu sehen sind.
Ein Ausschluss von Prof. Dr. Ipsen kraft Gesetzes gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2
BVerfGG i.V.m. § 12 Abs. 1 StGHG kommt überdies wegen § 18 Abs. 3 Nr. 2
BVerfGG i.V.m. § 12 Abs. 1 StGHG nicht in Betracht. Danach gilt als Tätigkeit im
Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG nicht die Äußerung einer
wissenschaftlichen Meinung zu einer Rechtsfrage, die für das Verfahren
bedeutsam sein kann. Sowohl in dem Gutachten vom Juni 2005 als auch in der
Stellungnahme vor dem Ausschuss für Inneres und Sport am 1. Februar 2006
hat Prof. Dr. Ipsen aber seine wissenschaftliche Meinung geäußert.
2. Prof. Dr. Ipsen ist durch den von ihm angezeigten Sachverhalt gehindert, das
Richteramt im vorliegenden Verfahren auszuüben.
a) Bei der dienstlichen Erklärung von Prof. Dr. Ipsen vom 13. Dezember 2006
handelt es sich um eine Selbstablehnung im Sinne von § 19 Abs. 3 BVerfGG
i.V.m. § 12 Abs. 1 StGHG. Diese Regelung setzt nicht voraus, dass der Richter
sich selbst für befangen hält. Es genügt, dass er Umstände anzeigt, die Anlass
geben, eine Entscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit zu treffen,
und er damit selbst zum Ausdruck bringt, eine solche Entscheidung sei geboten
(vgl. BVerfGE 88, 1 (3)). Die Erklärung von Prof. Dr. Ipsen lässt erkennen, dass
er eine gerichtliche Entscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit für
geboten erachtet. Die in ihr mitgeteilten Umstände geben dazu auch objektiv
Anlass.
b) Die Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter
bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der
Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (so die st. Rspr. des BVerfG,
vgl. etwa BVerfGE 82, 30 (38); 98, 134 (137)). Bei den Vorschriften über die
Besorgnis der Befangenheit geht es darum, bereits den bösen Schein einer
möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu vermeiden. Eine die
Lebenswirklichkeit nicht außer Acht lassende Betrachtung (vgl. BVerfGE 82, 30
(39)) ergibt Umstände, die aus der Sicht eines vernünftigen Beteiligten an
diesem Verfahren geeignet sind, Zweifel an der Unvoreingenommenheit von
Prof. Dr. Ipsen zu wecken.
aa) Es gehört auch zu den Aufgaben eines Hochschullehrers, zu aktuellen
Rechtsfragen in der Form von Gutachten wissenschaftlich Stellung zu nehmen,
so dass allein in der Anfertigung des Gutachtens im Juni 2005 für das
Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport noch kein
Befangenheitsgrund zu erblicken ist. Es besteht auch kein Anlass, daran zu
zweifeln, dass Prof. Dr. Ipsen sein Gutachten in wissenschaftlicher
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Unabhängigkeit erstattet hat.
Gleichwohl ist Prof. Dr. Ipsen aus der nachvollziehbaren Sicht eines
unbefangenen Dritten durch die gutachtliche Niederlegung seiner
Rechtsauffassung seinem Auftraggeber, dem Niedersächsischen Ministerium für
Inneres und Sport als Teil der Niedersächsischen Landesregierung in einer
Weise verbunden, die über die normale Beziehung zwischen einem
Rechtswissenschaftler, der eine bestimmte Rechtsauffassung vertritt, und einem
Verfahrensbeteiligten, der diese Rechtsauffassung für sich nutzbar macht,
hinausgeht. So nimmt die Begründung des Gesetzentwurfs der
Landesregierung (LT-Drucks. 15/2495, S. 15, 21) mehrmals ausdrücklich
zustimmend auf das Gutachten von Prof. Dr. Ipsen Bezug. Bei dieser Sachlage
drängt sich der Eindruck auf, dass diesem Gutachten nach Lage der Dinge eine
unterstützende Funktion für den Gang des Gesetzgebungsverfahrens im
Landtag zugekommen ist (vgl. BVerfGE 98, 134 (138 f.)).
bb) Mit der Veröffentlichung seines Gutachtens im Dezemberheft 2005 der
Niedersächsischen Verwaltungsblätter (S. 313 ff.) ist Prof. Dr. Ipsen zudem einer
breiteren Öffentlichkeit als Verfechter der Verfassungsmäßigkeit des
Gesetzentwurfs einer kreisfreien Samtgemeinde bekannt geworden. Vor diesem
Hintergrund wurde Prof. Dr. Ipsen am 1. Februar 2006, also zu einem Zeitpunkt,
an dem bereits mit Veränderungen der Rechtslage zu Lasten der
Beschwerdeführerinnen zu rechnen war (vgl. BVerfGE 102, 122 (125)), von dem
Ausschuss für Inneres und Sport als Sachverständiger angehört.
Durch seine sachverständige Äußerung in der Anhörung des Ausschusses
wurde Prof. Dr. Ipsen aus der Gesamtheit der am Gesetzgebungsverfahren
Beteiligten hervorgehoben. Sein Einfluss ist deutlich erkennbar: Er hat nicht nur
in seinem Referat die Vereinbarkeit des Entwurfs mit der Landesverfassung
bestätigt, sondern er hat sie auch in der anschließenden Diskussion gegen
Einwände der Abgeordneten verteidigt (vgl. Protokoll der 102. Sitzung des
Ausschusses für Inneres und Sport, S. 42 ff.). Seine Ausführungen weisen
inhaltliche Nähe zur Rechtsauffassung der Landesregierung auf, wie sie in dem
Gesetzentwurf vom 20. Dezember 2005 (LT-Drucks. 15/2495) zum Ausdruck
gekommen ist.
cc) Die Besorgnis der Befangenheit kann auch nicht deshalb verneint werden,
weil der ursprüngliche Gesetzentwurf nach der Anhörung im Ausschuss nicht
weiter verfolgt wurde. Denn sowohl dieser Entwurf als auch die Gesetz
gewordene und jetzt zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellte
Fassung vom 23. Mai 2006 (Nds. GVBl. S. 215) verfolgen beide das gleiche
Regelungsziel, nämlich die Bewältigung der speziellen Problemsituation im
Landkreis Lüchow-Dannenberg als einer besonders strukturschwachen Region
in Randlage. Beide Regelungen wurden mit dieser Sondersituation
gerechtfertigt. Zur Verfolgung dieses Ziels sehen beide Regelungen eine
Verwaltungsreform vor.
Für einen vernünftigen Prozessbeteiligten kann daraus der Eindruck entstehen,
dass Prof. Dr. Ipsen, der in Gutachten und Sachverständigenanhörung den
ursprünglichen Gesetzentwurf (Schaffung einer kreisfreien Samtgemeinde) für
verfassungsgemäß gehalten und dabei die Verschränkung der Aufgaben der
überörtlichen und der örtlichen Ebene als mit Art. 57 NV vereinbar erachtet hat
(vgl. Protokoll der 102. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Sport, S. 42),
eine gleiche Sichtweise für die geltende Fassung des Lüchow-Dannenberg-
Gesetzes haben könnte.
IV.
Der Niedersächsische Staatsgerichtshof entscheidet gemäß § 12 Abs. 1 StGHG
i.V.m. § 19 Abs. 1 BVerfGG unter Ausschluss seines Mitglieds Prof. Dr. Ipsen.
Dieser wird bei der Entscheidung gemäß § 13 Satz 1 StGHG auch nicht
vertreten.