Urteil des StGH Hessen vom 15.03.2017

StGH Hessen: grundrecht, verfassungsbeschwerde, menschenrechte, hessen, bestandteil, europarecht, anhörung, verwaltungsgerichtsbarkeit, vorladung, gefahr

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 760, P.St.
773
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 126 Abs 1 Verf HE, Art 147
Abs 2 Verf HE
Leitsatz
1. Art. 126 Abs. 1 HV gewährt kein Grundrecht.
2. Art. 147 Abs. 2 HV ist gegenstandslos.
3. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts (Art. 25,
31 GG). Sie haben auch danach keinen Grundrechtscharakter.
4. Im übrigen unzulässige Grundrechtsklage betr. Pflegerbestellung (Rechtsweg nicht
erschöpft; nicht substantiiert).
Gründe
I.
Das Amtsgericht … ordnete durch Beschluss vom 22. April 1974 - Az. … - die
Gebrechlichkeitspflegschaft nach § 1910 Abs. 2 BGB für den Antragsteller an, der
an Paranoia leiden soll. Die Pflegschaft sei notwendig, damit dem Antragsteller im
Zusammenhang mit einem Verwaltungsrechtsstreit Entscheidungen zugestellt
werden können.
Auf Beschwerde des Antragstellers hob das Landgericht … durch Beschluss vom
16. Mai 1974 - Az. … - die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache
zur erneuten Entscheidungen an das Amtsgericht zurück mit der Begründung,
dem Antragsteller sei das rechtliche Gehör versagt worden. Das Amtsgericht lud
daraufhin den Antragsteller für den 14. August 1974 zur Anhörung vor; der
Vorladung leistete er keine Folge. Eine Entscheidung hat das Amtsgericht … bisher
noch nicht getroffen, da die Pflegschaftsakten am 15. August 1974 dem
Verwaltungsgericht … übersandt worden sind. Sie liegen jetzt dem
Staatsgerichtshof vor.
II.
Mit einer als „Verfassungsbeschwerde und Anrufung des Staatsgerichtshofes“
bezeichneten Eingabe vom 5. August 1974 hat der Antragsteller sich an den
Staatsgerichtshof gewandt und beantragt, dem Amtsgericht … die weitere
Tätigkeit in der anhängigen Pflegschaftssache zu untersagen und den
Verletzungen seiner Rechte abzuhelfen. Das Pflegschaftsverfahren hält der
Antragsteller für gesetzeswidrig. Er meint, das Amtsgericht … unterwerfe ihn nur
deswegen einer „Zwangspflegschaft“, um in einer Führerscheinangelegenheit
mitwirken zu können, für die allein die Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig sei;
das Amtsgericht verletze mit seiner illegalen Tätigkeit Art. 126 Abs. 1 der
Hessischen Verfassung - HV -; da die ordentlichen Gerichte hierfür nicht zuständig
seien, komme es auf eine Erschöpfung des Rechtsweges nicht an; das Vorgehen
des Amtsgerichts habe ihm die Gefahr für seine Freiheit (Art. 5 HV) und seine
Würde(Art. 3 HV) zum Bewusstsein gebracht. Außerdem glaubt der Antragsteller,
den Staatsgerichtshof gemäß Art. 147 Abs. 2 HV anrufen zu können.
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Nachdem der Antragsteller seinen Antrag vom 5. August 1974 mit Schriftsatz vom
26. September 1974 wegen Einlegung einer Verfassungsbeschwerde beim
Bundesverfassungsgericht für erledigt erklärt hatte, verfolgt er mit einem
Schriftsatz vom 2. Oktober 1974 seine „Verfassungsbeschwerde“ beim
Staatsgerichtshof gleichwohl weiter.
Er rügt die Verletzung der Artikel 126 Abs. 1, 131 Abs. 1 und 67 in Verbindung mit
den Artikeln 2, 6 und 8 der Allagemeinen Erklärung der Menschenrechte. Er rügt
ferner die Verletzung des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG und der §§ 1, 2 und
40 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -. Mit einer Eingabe vom 27. Oktober
1974 erhob der Antragsteller eine weitere „Verfassungsbeschwerde“, die unter
dem Aktenzeichen P.St. 773 geführt wird. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen
unter Anführung weiterer Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
die verletzt worden sein sollen.
III.
Der Landesanwalt hält die Anträge für unzulässig. Der Antragsteller habe
entgegen § 48 Abs. 3 des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG - den
Rechtsweg nicht erschöpft; seine Eingaben entsprächen auch nicht den
Anforderungen, die § 46 Abs. 1 StGHG an eine Grundrechtsklage stelle. Art. 126
HV enthalte kein Grundrecht und Art. 147 Abs. 2 HV sei gegenstandslos geworden.
Auch habe der Antragsteller keine Tatsachen vorgetragen, aus denen
Grundrechtsverletzungen gefolgert werden könnten.
IV.
Die als „Verfassungsbeschwerden“ bezeichneten Grundrechtsklagen des
Antragstellers vom 5. August 1974 - P.St. 760 - und vom 27. Oktober 1974 - P.St.
773 - sind miteinander zur gleichzeitigen Entscheidung zu verbinden, weil sie
inhaltsgleich sind. Ihnen muss der Erfolg jedoch versagt bleiben.
Nach Art. 131 Abs. 3 HV bestimmt das Gesetz über den Staatsgerichtshof, in
welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen jedermann das Recht hat, den
Staatsgerichtshof anzurufen. Zwar kann danach gemäß § 45 Abs. 2 StGHG
jedermann den Antrag zur Verteidigung der Grundrechte stellen, der geltend
macht, dass ein ihm von der Verfassung gewährtes Grundrecht verletzt sei; doch
findet nach § 48 Abs. 3 StGHG ein Verfahren wegen Grundrechtsverletzung nur
dann statt, wenn der Antragsteller vorher eine Entscheidung des höchsten in der
Sache zuständigen Gerichts herbeigeführt hat.
Das hat der Antragsteller nicht getan, weil er meint, dass auch das Landgericht
und das Oberlandesgericht in dem ihn betreffenden Pflegschaftsverfahren nicht
zuständig seien. Diese Gerichte sind jedoch nach § 13 GVG zuständig. Sie wären
es auch dann, wenn das Amtsgericht seine Zuständigkeit zu Unrecht
angenommen hätte. Solange der Antragsteller daher in dem anhängigen
Pflegschaftsverfahren den Rechtsweg nicht erschöpft hat, kann schon aus diesem
Grunde ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof nicht durchgeführt werden.
Im Übrigen muss der Antrag nach § 46 Abs. 1 StGHG das Grundrecht bezeichnen
und mit der Angabe der Beweismittel die Tatsachen darlegen, aus denen sich der
Missbrauch oder die Verletzung der Grundrechte ergeben soll. Auch daran fehlt es
hier. Soweit sich der Antragsteller auf die Grundrechte der Artikel 3 und 5 HV
beruft, hat er keine Tatsachen vorgetragen, aus denen sich eine Verletzung dieser
Grundrechte ergeben kann.
Art. 126 HV gewährt kein Grundrecht (ständige Rechtsprechung des StGH, zuletzt
im Beschluss vom 4. September 1969 - P.St. 560 -).
Auch nach Art. 147 Abs. 2 HV kann der Antragsteller den Staatsgerichtshof nicht
anrufen. Diese Vorschrift ist nach der ständigen Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofs (zuletzt im Beschluss vom 5. Juli 1972 - P.St. 671 -)
gegenstandslos geworden.
Auf die angebliche Verletzung von Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes
und der §§ 1, 2 und 40 VwGO kann sich der Antragsteller in diesem Verfahren
überhaupt nicht berufen. Der Staatsgerichtshof ist zur Nachprüfung gerichtlicher
Entscheidungen nur in engen Grenzen berufen. Im vorliegenden Falle scheitert
eine solche Nachprüfung schon daran, dass die von dem Antragsteller
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eine solche Nachprüfung schon daran, dass die von dem Antragsteller
angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts … und des Landgerichts … auf
der Auslegung und Anwendung von Bundesrecht beruhen. Der Staatsgerichtshof
darf als Landesverfassungsgericht die Anwendung und Auslegung von
Bundesrecht nicht am Maßstab der Hessischen Verfassung messen, Art. 31 GG
(ständige Rechtsprechung des StGH, z.B. im Beschluss vom 5. Juli 1972 - P.St. 659
-).
Schließlich kann sich der Antragsteller auch nicht auf die von ihm zitierten Artikel
2, 6, 7, 8 und 21 der Allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte vom 10.
Dezember 1948 (abgedruckt in Sartorius II: Internationale Verträge - Europarecht
unter Nr. 50) berufen. Art. 67 HV, nach dem die Regeln des Völkerrechts bindende
Bestandteile des Landesrechts sind, ohne dass es ihrer ausdrücklichen
Umformung in Landesrecht bedarf, ist gemäß Art. 31 GG außer Kraft gesetzt
worden, weil Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts zum Bestandteil
des Bundesrechts erklärt hat. Ob der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
überhaupt eine bindende Wirkung zukommt und ob sie allgemeine Regeln des
Völkerrechts enthält, ist dagegen zweifelhaft; jedenfalls wird diese Frage von der
herrschenden Meinung verneint (vgl. dazu Maunz-Dürig, Grundgesetz,
Kommentar, Art. 1 Abs. 2, RdNr. 56 mit weiteren Nachweisen). Darüber hinaus
haben die allgemeinen Regeln des Völkerrechts auch nach Art. 25 GG keinen
Grundrechtscharakter (vgl. BVerfGE 6, 389, 440; ebenso StGH, Beschluss vom 20.
Oktober 1965 - P.St. 417 - zu Art. 67 HV).
Nach alledem kann es dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller seine
Grundrechtsklage vom 5. August 1974 mit Schriftsatz vom 26. September 1974
rechtswirksam für erledigt erklärt hat und ob er mit seinem Schriftsatz vom 2.
Oktober 1974 eine neue Grundrechtsklage erhoben oder seine ursprüngliche
wieder aufgenommen hat. Mit seinem Vorbringen kann er jedenfalls - wie
dargelegt - nicht durchdringen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.