Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: anwendung des rechts, in dubio pro reo, abstrakte normenkontrolle, rechtliches gehör, rechtskräftiges urteil, hessen, verfassungsbeschwerde, grundrecht, ministerpräsident, ermessen

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 344
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
Art 131 Verf HE
Leitsatz
Es ist nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs, Entscheidungen der Gerichte allgemein auf
die Richtigkeit der getroffenen Feststellungen und der Anwendung des Rechts auf den
konkreten Fall zu überprüfen.
Tenor
Der Antrag; wird auf Kosten der Antragstellerin zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf 100 DM festgesetzt.
Gründe
I.
Gegen die Antragstellerin und eine weitere Beschuldigte schwebte vor dem
Amtsgericht... ein Privatklageverfahren. Im Eröffnungsbeschluß wurde der
Antragstellerin zur Last gelegt, die Privatklägerin beleidigt zu haben. Nachdem
eine Zeugin durch einen ersuchten Richter vernommen worden war, stellte das
Amtsgericht das Verfahren nach § 383 II StPO mit der Begründung ein, die
Parteien seien seit langer Zeit verfeindet und es hätten bereits öfter
Auseinandersetzungen zwischen ihnen stattgefunden. Beide hätten den
Spannungszustand verursacht; auch die Privatklägerin hätte sich zu Ausfälligkeiten
hinreißen lassen. So könne wegen der in der Erregung gebrauchten Äußerungen
und Gesten der Antragstellerin die Voraussetzung geringfügiger Schuld und
unbedeutender Tatfolgen angenommen werden. Das Amtsgericht erlegte der
Antragstellerin als Gesamtschuldnerin mit der anderen Angeklagten die Hälfte der
gerichtlichen Auslagen auf und ordnete an, daß sie ihre notwendigen Auslagen
selbst zu tragen habe.
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hiergegen wurde vom Landgericht...
durch Beschluß... ... vom 2.6.1961 als unzulässig verworfen. Das Landgericht
führte aus, daß die Einstellung zu Recht ausgesprochen worden sei. Sie wäre nur
dann unzulässig, wenn die Unschuld der Antragstellerin feststände. Zwar könne
dieser nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden, daß sie die behaupteten
Verfehlungen begangen habe; doch bestehe immerhin die Möglichkeit. Mit ihrer
Beschwerde wolle sie nur erreichen, daß sie als unschuldig freigesprochen werde;
in diesem Falle sei aber eine Beschwerde gegen die Einstellung nicht zulässig,
denn in der entgangenen Möglichkeit, wegen erwiesener Unschuld freigesprochen
zu werden, liege keine Beschwer.
II.
Gegen diesen Beschluß des Landgerichts..., der ihrem Anwalt am 7.6.1961
zugestellt wurde, hat die Antragstellerin mit einer Eingabe vom 6.7.1961
eingegangen am 7.7.1961, den Staatsgerichtshof angerufen und beantragt, die in
den Beschlüssen des Amtsgerichts... vom 10.3.1961 und des Landgerichts...
getroffenen Entscheidungen insoweit aufzuheben, als sie die Antragstellerin
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getroffenen Entscheidungen insoweit aufzuheben, als sie die Antragstellerin
betreffen, und anzuordnen, daß die Privatklage zurückzuweisen ist.
Sie hat vorgetragen, die Entscheidungen des Amts- und des Landgerichts
verstießen, soweit die Antragstellerin von ihnen betroffen wurde, gegen Art. 20 II
HV, wonach jeder, als unschuldig gilt bis er durch rechtskräftiges Urteil eines
ordentlichen Gerichts für schuldig befundet ist. Auch Art. 3 HV sei verletzt, denn es
sei mit der Würde des Menschen, nicht zu vereinbaren, daß ein Schuldloser wie ein
Schuldiger behandelt und ohne Aufklärung des Sachverhaltes mit dem Makel
belastet werde, er sei möglicherweise schuldig auch Kosten tragen müsse, weil er
seine Unschuld nicht nachgewiesen habe.
Der Landesanwalt und der Hessische Ministerpräsident halten den Antrag für
unzulässig.
Der Landesanwalt ist der Meinung, daß die angegriffene Entscheidung auf einer
Auslegung des § 383 II StPO beruhe, die der herrschenden Auffassung in der
Rechtsprechung und in der Wissenschaft entspreche: weder Beschuldigte noch
Angeklagte hätten danach das Recht, die Durchführung eines Strafverfahrens zu
dem Zwecke zu verlangen, daß ihre Unschuld festgestellt habe, wenn, das Gericht
aus den im Gesetz vorgesehenen Gründen das Verfahren einstellt oder sie
mangels Beweises freispricht (Löwe-Rosenberg, 20. Aufl., § 383 StPO Erl. 11). Die
gesetzliche Regelung des § 383 II StPO könne gegen Art. 3 oder 20 HV nicht
verstoßen, weil gültiges Bundesrecht nach Art. 31 GG allem Landesrecht, auch
dem Landesverfassungsrecht, vorgehe; die Gültigkeit von Bundesrecht könne
nicht an der Landesverfassung gemessen werden. Das Gleiche gelte für die Frage,
ob das Landgericht die Vorschrift des § 383 II StPO verfassungskonform ausgelegt
habe. Auch auf die Auslegung des Bundesrechts könnten die nach Art. 142 GG
fortgeltenden Landesgrundrechte nicht unmittelbar einwirken. Vielmehr seien
Maßstab für die verfassungsmäßige Auslegung eines Bundesgesetzes nur die
Normen, des Grundgesetzes, nicht die der Hessischen Verfassung. Diese
Auffassung findet der Landesanwalt in den Entscheidungen des Bayerischen
Verfassungsgerichtshofs vom 24.6.1958 (VerfGH 11, 90 = VerwRspr. Bd. 10 Nr.
227) und vom 3.7.1961 (NJW 1961, 1619 f.) bestätigt. Für eine
Verfassungsbeschwerde, die darauf gestützt ist, daß eine bundesrechtliche
Verfahrensvorschrift oder deren Auslegung Grundrecht verletze, sei also das
Bundesverfassungsgericht, nicht der Hessische Staatsgerichtshof zuständig.
Auch der Hessische Ministerpräsident weist darauf hin, daß § 383 II StPO
nachkonstitutionelles Bundesrecht sei (Art. 3 I 164 des Gesetzes vom 12.9.1950
BGBl. I, S. 455), das nach Art. 31 GG der Hessischen Verfassung vorgehe. Ein
Gericht, das diese bundesrechtliche Norm auslege, bewege sich dabei im Bereiche
des der Hessischen Verfassung vorrangigen Bundesrechts, so daß der Hessische
Staatsgerichtshof die Auslegung des § 383 II StPO ebensowenig an der Hessischen
Verfassung messen könne wie die Vorschrift selbst.
Dagegen bringt die Antragstellerin wiederum vor, es gehe nicht darum, daß die
Gültigkeit von Bundesrecht an der Landesverfassung gemessen werden solle,
sondern darum, daß das Landgericht bei seiner Auslegung des § 383 II StPO die
Schranken nicht beachtet habe, welche die Hessische Verfassung ziehe. Aus der
Feststellung des Landgerichts, daß es nicht möglich sei, die Antragstellerin zu
verurteilen, folge zwingend, daß diese hätte freigesprochen werden müssen. Das
Recht auf Freispruch könne und dürfe nicht mit der Begründung verweigert werden,
daß die Unschuld der Antragstellerin nicht festgestellt werden könne Weder nach
Bundesrecht noch nach Landesrecht müsse ein Angeklagter beweisen, daß er
unschuldig sei. Art. 20 II HV sage das gerade Gegenteil. Auch die Würde des
Menschen, das mit Art. 1 I GG über einstimmende, also nach Art. 142 GG
fortgeltende Grundrecht des Art. 3 HV verbiete es, die Antragstellerin wie eine
Schuldige zu behandeln, wenn ihre Schuld nicht festgestellt sei. Die Einhaltung
dieser Schranke bei der Anwendung des Rechts durch Hessische Gerichte zu
überwachen, sei Aufgabe des Hessischen Staatsgerichtshofs.
III.
Die Antragstellerin hat den Rechtsweg erschöpft und die Frist des § 48 III Satz 1
StGHG eingehalten. Nur gegen die Entscheidung des Landgerichts, nicht auch
gegen die des Amtsgerichts kann sich ihr Antrag richten (§ 48 III Satz 2 StGKG ).
Der Antrag kann aber keinen Erfolg haben.
1. Ob die Vorschrift des § 383 II StPO mit Art. 3 oder 20 HV vereinbar ist, kann der
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1. Ob die Vorschrift des § 383 II StPO mit Art. 3 oder 20 HV vereinbar ist, kann der
Staatsgerichtshof nicht prüfen. Die sog. abstrakte Normenkontrolle setzt einen
Antrag nach Art. 131 II HV voraus, zu dem die Antragstellerin nicht befugt ist. Auch
ist die Strafprozessordnung Bundesrecht (Art. 3 I 164 des Gesetzes vom
12.9.1950 - BGBl. 1950 I S. 445), das der Hessischen Verfassung im Range
vorgeht (Art. 31 GG).
2. Der Nachprüfung einer gerichtlichen Entscheidung durch den Staatsgerichtshof
im Rahmen des Art. 131 III HV, §§ 45 ff. StGHG sind enge Grenzen gesetzt. Es ist
nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs, Entscheidungen der Gerichte allgemein auf
die Richtigkeit der getroffenen Feststellungen und der Anwendung des Rechts auf
den konkreten Fall zu überprüfen; so die ständige Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofs, des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 4,1; 4,294; 6,7;
11,343) und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (zuletzt BayVerfGH 12,
128).
Nach § 383 II StPO kann das Gericht ein Privatklageverfahren einstellen, wenn die
Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tat unbedeutend sind. Über die
Auslegung dieser Bestimmung herrscht Streit. Während die herrschende
Auffassung dahin geht, daß nach dieser Bestimmung ein Privatklageverfahren
auch dann eingestellt werden kann, wenn eine Schuld nur als möglich in Frage
kommt, aber für den Fall, daß sie festgestellt wäre, gering bewertet, werden,
müßte (vgl. Löwe-Rosenberg, StPO, 20, Aufl., Anm. 11 b zu § 383; K.M.R., StPO,
3.Aufl., Anm. 6 a zu § 383; Schwarz, StPO, 21. Aufl, Anm. 3 zu § 383), ist nach
anderer Auffassung die Einstellung nach § 383 nicht zulässig, wenn die Schuld
nach dem Satze "in dubio pro reo" nicht feststellbar ist (so Eberhard Schmidt,
Lehrkommentar zur StPO 1957, Anm. 12 zu § 383). Der Staatsgerichtshof ist
jedoch keine Revisionsinstanz, die zu entscheiden hätte, welcher dieser
Auslegungen der Vorzug zu geben ist.
Nach § 471 III Ziff. 2. StPO kann das Gericht die Kosten des Verfahrens und die
notwendigen Auslagen der Beteiligten angemessen; verteilen oder nach
pflichtgemäßen Ermessen einem der Beteiligten auferlegen, wenn es das
Verfahren nach § 383 II eingestellt hat. Der Staatsgerichtshof hat nicht
nachzuprüfen, ob das Landgericht von seinem Ermessen richtig Gebrauch
gemacht hat.
Aber auch soweit die Antragstellerin vorbringt, sie sei durch die Entscheidung des
Landgerichts in den Grundrechten der Art. 3 und 20 II HV verletzt, ist eine
Nachprüfung der angegriffenen Entscheidung durch den Staatsgerichtshof nicht
möglich. Denn diese Entscheidung beruht auf verfahrensrechtlichen Vorschriften,
die Bundesrecht sind. Bundesrecht geht aber nach Art. 31 GG dem Landesrecht,
auch dem Landesverfassungsrechte, vor, so daß die nach Art. 142 GG
fortgeltenden Landesgrundrechte auf die Auslegung des Bundesrechts nicht
einwirken können.
Zwar hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom
24.6.1958 (VerfGH 11,90 = VerwRspr. Bd. 10 Nr. 227) die Auffassung vertreten,
daß eine Verfassungsbeschwerde nach Art. 66,120 der Bayerischen Verfassung
(BV) nicht schon deshalb unzulässig sei, weil sie gegen, eine auf
Bundesverfahrensrecht beruhende gerichtliche Entscheidung gerichtet ist. Doch
handelte es sich in jener Entscheidung darum, daß die Verletzung des Anspruchs
auf rechtliches Gehör gerügt worden war, der Art. 91 I BV in gleicher Weise wie in
Art. 103 I GG gewährleistet ist. Wenn es aber, wie im vorliegenden Falle, lediglich
um die Frage geht, ob ein landesrechtlicher Verfassungsgrundsatz einer
bestimmten Auslegung bundesrechtlicher Verfahrensvorschriften entgegensteht,
hat auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung
entschieden, daß bei der Auslegung einer bundesrechtlichen Regelung der
Landesverfassung eine unmittelbare Bedeutung nicht zukommt, so daß
gegenüber der Anwendung von Bundesrecht die Prüfung, ob Normen der BV außer
acht gelassen worden sind, schon deshalb entfällt, weil das Bundesrecht wegen
seines höheren Ranges von der Bayerischen Verfassung nicht beeinflusst sein
kann.
Der Antrag ist sonach unzulässig und nach § 21 I StGHG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.