Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: deklaratorische wirkung, einstweilige verfügung, grundrecht, hessen, einspruch, bundesgesetz, werbung, verfassungsschutz, stadt, zeitung

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 94
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 5 GG, Art 18 GG, Art 31
GG, Art 11 Verf HE, Art 17 Verf
HE
Leitsatz
1. Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung wird in Art. 11 HV und Art. 5 GG
inhaltsgleich gewährt.
2. Nach Art. 31 GG verfallen Landesgesetze, die mit dem Bundesrecht inhaltlich
übereinstimmen, nicht minder als solche, welche dem Bundesgesetz widersprechen,
der Aufhebung. Die Ausnahmevorschrift des Art. 142 GG setzt die sich auf das
Landesgrundrecht beziehenden Vorschriften nach Art. 31 GG nur insoweit außer Kraft,
als die der Regelung des Grundgesetzes widersprechen. Ein solcher Widerspruch
besteht zwischen Art. 17 Abs. 2 HV und Art. 18 Satz 2 GG.
3. Art. 17 Abs. 2 HV ist gemäß Art. 31 GG aufgehoben. Eine Zuständigkeit des
Staatsgerichtshofs ist nicht mehr begründet.
Tenor
Der Staatsgerichtshof erklärt sich für unzuständig.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
Die Bundesregierung stellte durch Beschluss vom 24.IV.51 fest, dass die
Volksbefragung gegen Remilitarisierung und für Friedensschluss im Jahre 1951
einen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes darstelle und dass
Vereinigungen, die die Volksbefragung durchführen, sich gegen die
verfassungsmäßige Ordnung richten und daher durch Art. 9 Abs. II Grundgesetzes
(GG) kraft Gesetzes verboten seien.
Gemäß § 5 des Gesetzes über Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in
Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27.IX.50 (BGBl. S. 682) ersuchte
die Bundesregierung die Landesregierungen, jede Betätigung solcher
Vereinigungen für die Volksbefragung zu unterbinden.
Aufgrund des Beschlusses der Bundesregierung verbot der Hessische Minister des
Innern durch Erlass vom 26.IV.51 die Volksbefragung und jegliche Werbung für die
Volksbefragung im Lande Hessen. Wie sich aus den Zeitungsausgaben der
Antragsgegnerin zu 1) Nr. 109 – 113 des Jahres 1951 ergibt, hat die
Antragsgegnerin zu 1), deren Zeitung im Betrieb der Antragsgegnerin zu 2)
hergestellt wird, entgegen diesem Verbot die Werbung für die Volksbefragung
festgesetzt.
Der Antragsteller hat darauf durch Verfügung vom 22.V.51 das Blatt der
Antragsgegnerin zu 1) auf die Dauer von drei Monaten verboten und die zum
Druck der Zeitung bestimmten Räume und Maschinen der Antragsgegnerin zu 2)
versiegelt.
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Gegen diese Verfügung haben die Antragsgegner bei dem Einspruchsausschuss
der Stadt ... Einspruch eingelegt mit dem Antrage, die angefochtene Verfügung
aufzuheben. Eine Entscheidung über den Einspruch ist bisher nicht ergangen.
Gleichzeitig hat die Anfechtungsklägerin bei dem Verwaltungsgericht in ... Klage
erhoben und beantragt, vorläufig – d. h. vor Entscheidung über den Einspruch
durch den Einspruchsausschuss der Stadt ... – eine Stoppverfügung gemäß § 51
des hessischen Verwaltungsgerichtsgesetzes bzw. eine einstweilige Verfügung zu
erlassen.
Nunmehr hat der Antragsteller bei dem Staatsgerichtshof den aus dem Tenor
ersichtlichen Antrag gestellt und auf die Begründung des Beschlusses der
Bundesregierung vom 24.IV.51. und des Erlasses des hessischen Ministers des
Innern vom 26.IV.51 Bezug genommen.
Das Verwaltungsgericht ... hat in dem schwebenden Anfechtungsverfahren am
14.VI.51 beschlossen, das im Tenor angeführte Gutachten des Staatsgerichtshofs
einzuholen.
Die Antragsberechtigung des Antragstellers ergibt sich aus § 45 Abs. 1 StGHG.
Auch die in § 45 Abs. 1 Satz 2 geforderte Antragsvoraussetzung, dass ein
Verwaltungsakt der antragstellenden Behörde unter Berufung auf eines der in § 45
Abs. 1 StGHG aufgeführten Grundrechte – hier das Grundrecht der freien
Meinungsäußerung, wie es in Art. 11 HV und inhaltsgleich in Art. 5 GG gewährt wird
– angefochten wird, ist erfüllt.
Indes verneint der Staatsgerichtshof seine Zuständigkeit, über die gestellten
Anträge zu befinden.
Nach Art. 17 Abs. 1 HV kann sich auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung
sowie auf andere in dieser Vorschrift genannte Grundrechte "nicht berufen", wer
den verfassungsmäßigen Zustand angreift oder gefährdet. Bei solchem
Missbrauch wird also der Verfassungsschutz hinfällig, eine Rechtsfolge, welche der
"Verwirkung" des Grundrechts, wie Art. 18 GG sie im gleichen Falle
missbräuchlicher Ausnutzung vorsieht, wesensgleich ist (vgl. v. Mangoldt, Das
Bonner Grundgesetz, Kommentar Anm. 2 zu Art. 18).
Lassen aber die Grenzen, die nach Art. 17 Abs. 1 HV und 18 GG für das
inhaltsgleiche Grundrecht der freien Meinungsäußerung dem Verfassungsschutz
gesetzt sind, keine unterschiedliche Behandlung erkennen, so hängt die hier in
Frage kommende, aus Art. 17 Abs. 2 HV abgeleitete Zuständigkeit des
Staatsgerichtshofs allein davon ab, inwieweit Art. 31 GG zur Anwendung kommen
muss.
Nach dieser Vorschrift verfallen Landesgesetze, die mit dem Bundesgesetz
inhaltlich übereinstimmen, nicht minder als solche, welche dem Bundesgesetz
widersprechen, der Aufhebung (vgl. Bonner Kommentar Anm. II 1 b zu Art. 142
GG). — Die Ausnahmevorschrift des Art. 142 GG setzt aber, wie mittels
Umkehrschlusses zu folgern ist, die auf das Landes grundrecht sich beziehenden
Vorschriften gemäß Art. 31 GG nur insoweit außer Kraft, als sie der Regelung des
GG widersprechen . (Vgl. Bonner Kommentar Anm. II 2 a zu Art. 142 GG).
Ein solcher Widerspruch liegt offensichtlich zwischen den
Grundrechtsbestimmungen des Art. 17 Abs. 2 HV einerseits und des Art. 18 Satz
2 GG andererseits vor.
Nach ersterer Vorschrift befindet über den Tatbestand missbräuchlicher
Ausnutzung der einschlägigen Grundrechte allein der Staatsgerichtshof, nach
letzterer allein das Bundesverfassungsgericht.
Ob die verfassungsrichterliche Entscheidung hierbei konstitutive oder nur
deklaratorische Wirkung hat, kann auf sich beruhen. Jedenfalls ist eine
Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs nicht begründet, vielmehr Art. 17 Abs. 2 HV
gemäß Art. 31 GG aufgehoben (ebenso Süsterhenn-Schäfer, Kommentar der
Verfassung für Rheinland-Pfalz Anm. 2 c zu Art. 133).
Danach rechtfertigt sich die getroffene Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.