Urteil des StGH Hessen vom 14.06.2006

StGH Hessen: gegen die guten sitten, lwg, hessen, zusammensetzung, einspruch, gleichheit, stimmabgabe, stimmzettel, erheblichkeit, wahlergebnis

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 1913
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 78 Abs 2 Verf HE, Art 73
Abs 2 Verf HE, Art 1 Verf HE, §
33 Abs 1 S 1 Nr 4 WahlG HE, §
1 Abs 1 WahlG HE
Leitsatz
1. § 52 StGHG, der die Möglichkeit schafft, Entscheidungen des Wahlprüfungsgerichts
beim Hessischen Landtag mit der Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Staatsgerichtshof
anzufechten, steht mit der Hessischen Verfassung in Einklang.
2. Das Begründungserfordernis des § 52 Abs.2 Satz 1 StGHG verlangt für die
Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde, dass sich dem tatsächlichen Vorbringen
eines Antragstellers die konkrete Möglichkeit eines für den Ausgang der Wahl
erheblichen Wahlfehlers im Sinne des Art. 78 Abs. 2 HV hinreichend deutlich
entnehmen lässt. Ein Antragsteller hat für die Zulässigkeit seiner
Wahlprüfungsbeschwerde die tatsächlichen Umstände eines (möglichen)
schwerwiegenden Wahlfehlers vorzubringen und dessen (mögliche) Erheblichkeit für den
Ausgang der Wahl und damit die Zusammensetzung des Parlaments darzulegen.
Tenor
Die Wahlprüfungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
Gründe
A
I.
Der Antragsteller wendet sich mit der Wahlprüfungsbeschwerde gegen den
Beschluss des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag vom 16. Juli 2003
WPG 16/1-2003 (StAnz. 2003, S. 3198). Mit diesem Beschluss erklärte das
Wahlprüfungsgericht die Wahl zum Hessischen Landtag vom 2. Februar 2003 für
gültig und wies damit den Einspruch des Antragstellers vom 21. März 2003 zurück.
Sein Einspruch enthielt im Wesentlichen folgende Begründung: § 33 Abs. 1 Satz 1
Nr. 4 des Gesetzes über die Wahlen zum Landtag des Landes Hessen (kurz:
Landtagswahlgesetz - LWG -) sei verfassungswidrig. Indem diese Vorschrift
anordne, dass Stimmzettel, die einen Zusatz oder Vorbehalt enthielten, als
ungültig zu betrachten seien, verstoße sie gegen den Grundsatz der Gleichheit der
Wahl (Art. 73 Abs. 2 der Verfassung des Landes Hessen, kurz: Hessische
Verfassung - HV -) bzw. den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 1 HV). Gleich könne
eine Wahl nur dann sein, wenn alle Wahlberechtigten, insbesondere auch die
Erstwähler, über die Regeln einer gültigen Stimmabgabe informiert worden seien.
Daran habe es aber gefehlt. Den Wahlberechtigten sei auch vor der Wahl kein
Muster des Stimmzettels übersandt worden. Davon abgesehen sei die Vorschrift
des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LWG ohnehin nicht gerechtfertigt, weil sie
Unsicherheiten bei der Feststellung des Wählerwillens nicht verhindern könne und
außer acht lasse, dass jeder Wähler bei eindeutiger Stimmabgabe unabhängig von
denkbaren Zusätzen gültig wählen wolle. Die Differenzierung nach unerheblichen
und nach solchen Zusätzen, die die Stimmabgabe ungültig machten, sei zu
unbestimmt. Den Wahlvorständen werde dadurch die Möglichkeit eröffnet, gleiche
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unbestimmt. Den Wahlvorständen werde dadurch die Möglichkeit eröffnet, gleiche
Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln. Darin liege ein Verstoß gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 1 HV.
Das Wahlprüfungsgericht beim Hessischen Landtag hielt in dem angefochtenen
Beschluss vom 16. Juli 2003 den Einspruch des Antragstellers für zulässig, aber
offensichtlich unbegründet. Aus dem einen Zusatz oder Vorbehalt auf dem
Stimmzettel betreffenden Vortrag des Antragstellers folge keine Unregelmäßigkeit
im Wahlverfahren. Das Wahlprüfungsgericht sei nicht dazu berufen, die
Verfassungswidrigkeit des § 33 Abs. 1 Nr. 4 LWG festzustellen. Es dürfe dem
Staatsgerichtshof auch nicht die Frage der Verfassungsmäßigkeit von
Wahlrechtsnormen vorlegen.
Gegen den ihm am 21. Juli 2003 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am
21. August 2003 Wahlprüfungsbeschwerde eingelegt.
Der Antragsteller begründet sie im Wesentlichen wie folgt: Da nach Art. 26 HV die
Grundrechte jeden Richter unmittelbar bänden, sei das Wahlprüfungsgericht
verpflichtet gewesen zu überprüfen, ob ein wahlrelevanter Verstoß gegen den
Gleichheitsgrundsatz des Art. 1 HV vorgelegen habe. Die Gleichheit der Wahl sei
aber auch in § 1 Abs. 1 LWG festgelegt. Ob diese Vorschrift eingehalten worden
sei, habe das Wahlprüfungsgericht zu Unrecht nicht geprüft.
Darüber hinaus hat der Antragsteller seiner Antragsschrift die bei dem
Wahlprüfungsgericht eingereichte Einspruchsschrift vom 21. März 2003 in Kopie
beigefügt.
Er beantragt, den Beschluss des Wahlprüfungsgerichts aufzuheben und das
Wahlprüfungsgericht zu der Prüfung zu verpflichten, ob bei der Landtagswahl vom
2. Februar 2003 ein wahlrelevanter Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des
Art. 1 HV und des § 1 Abs. 1 LWG vorlag.
II.
Der Ministerpräsident hält die Wahlprüfungsbeschwerde für zulässig, insbesondere
hinreichend substanziiert, aber für unbegründet.
Ihr lasse sich schon nicht entnehmen, dass die angeblichen Verstöße gegen die
Wahlrechtsgleichheit irgendeine Auswirkung auf das Ergebnis der Landtagswahl
2003 gehabt haben könnten. Art. 78 Abs. 2 HV liege das im Wahlprüfungsrecht
allgemein anerkannte Prinzip der potentiellen Kausalität zu Grunde. Dieses
erfordere nach praktischer Lebenserfahrung die konkrete Möglichkeit, ein
behaupteter Wahlfehler habe das Wahlergebnis in einer für die Zusammensetzung
des Parlaments bedeutsamen Weise beeinflusst. Davon könne aber nach dem
Vorbringen des Antragstellers keine Rede sein. Die Bezugnahme auf eine
beispielhafte Zusammenstellung von Zusätzen auf Stimmzetteln weise nur auf
angebliche Schwierigkeiten konkreter Rechtsanwendung hin. Dass diese
Schwierigkeiten aufgetreten wären und auch nur in einem einzigen Fall zu einer
fehlerhaften Stimmenauszählung geführt hätten, werde lediglich im Sinne einer
theoretischen Möglichkeit angedeutet.
III.
Die Landesanwältin bei dem Staatsgerichtshof hat sich der Stellungnahme des
Ministerpräsidenten angeschlossen. Aus der Wahlprüfungsbeschwerde ließen sich
keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der gerügte Wahlfehler irgendeine
Auswirkung auf die Zusammensetzung des Landtags gehabt hätte. Der
Antragsteller rüge insoweit lediglich die abstrakte Möglichkeit eines Wahlfehlers.
Darüber hinaus sei § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LWG nicht verfassungswidrig.
IV.
Der Präsident des Hessischen Landtages, dessen Fraktionen und Abgeordnete,
der Hessische Minister des Innern und für Sport sowie der Landeswahlleiter sind
am Verfahren beteiligt worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
B
I.
Die Wahlprüfungsbeschwerde ist unzulässig.
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Der Antragsteller hat die konkrete Möglichkeit eines erheblichen Wahlfehlers im
Sinne des Art. 78 Abs. 2 HV nicht in einer § 52 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über
den Staatsgerichtshof - StGHG - entsprechenden Weise dargetan.
1. Der Antragsteller hat mit der Wahlprüfungsbeschwerde von einem statthaften
Rechtsbehelf Gebrauch gemacht. Die diesbezügliche Regelung des § 52 StGHG
steht mit der Hessischen Verfassung in Einklang.Die Vorschrift wurde eingefügt,
nachdem das Bundesverfassungsgericht die Regelung des § 17
Wahlprüfungsgesetz alter Fassung, wonach das Urteil des Wahlprüfungsgerichts
mit seiner Verkündung rechtskräftig wurde, für nichtig erklärt hatte (BVerfG, Urteil
vom 08.02.2001 - 2 BvF 1/00 -, BVerfGE 103, 111 [125, 136 ff.]). Aus Art. 92 des
Grundgesetzes folge, dass die abschließende verbindliche Entscheidung über die
Gültigkeit einer Wahl nur von einem unabhängigen Gericht getroffen werden
könne. Diese Voraussetzung erfüllt das Wahlprüfungsgericht nicht, denn ihm
gehören gemäß Art. 78 Abs. 3 HV und § 1 Wahlprüfungsgesetz in der Fassung vom
5. November 2002 (GVBl. I S. 676) neben zwei Berufsrichtern - den Präsidenten
des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts - auch drei
Abgeordnete des Hessischen Landtages an (BVerfG, Urteil vom 08.02.2001,
a.a.O., S. 139 f.; ebenso: StGH, Beschluss vom 09.08.2000 - P.St. 1547 -, StAnz.
2000, S. 2922 [2923]). Damit hat das Bundesverfassungsgericht eine Anforderung
formuliert, die für den hessischen Landesgesetzgeber bindend ist, auch wenn sie
möglicherweise nicht den Vorstellungen des historischen
Landesverfassungsgebers entsprechen mag (vgl. Günther,
Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 52 Rdnr. 1). Der hessische
Gesetzgeber durfte in Übereinstimmung mit der Hessischen Verfassung durch §
52 StGHG ein zweistufiges Wahlprüfungsverfahren - Wahlprüfung durch das
Wahlprüfungsgericht, Beschwerde zum Staatsgerichtshof - einführen. Die
Ermächtigung dazu enthält Art. 131 Abs. 1 HV. Danach entscheidet der
Staatsgerichtshof über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, die Verletzung der
Grundrechte, bei Anfechtung des Ergebnisses einer Volksabstimmung sowie in den
in der Verfassung und den Gesetzen vorgesehenen Fällen. Art. 131 Abs. 1 HV
überlässt es dem einfachen Landesgesetz zu bestimmen, in welchen nicht in der
Verfassung selbst genannten Fällen der Staatsgerichtshof zu entscheiden hat
(StGH, Urteil vom 03.07.1968 - P.St. 486 -, StAnz. 1968, S. 1180 [1182]). Daraus
folgt zugleich die Befugnis, durch einfaches Gesetz zu bestimmen, wer berechtigt
sein soll, den Staatsgerichtshof in diesen weiteren Fällen anzurufen; die
Aufzählung von möglichen Antragsberechtigten in Art. 131 Abs. 2 HV ist nicht
abschließend (vgl. StGH, Urteil vom 03.07.1968, a.a.O.). Dementsprechend hat
der Gesetzgeber in § 19 Abs. 2 Nr. 11 StGHG ausdrücklich den Kreis der
Antragsberechtigten um die in § 52 StGHG genannten ergänzt.
2. Der Antragsteller hat seine Wahlprüfungsbeschwerde nicht in einer den
Anforderungen des § 52 Abs. 2 Satz 1 StGHG genügenden Weise begründet.
Dem ist nur genügt, wenn die Begründung vom Antragsteller substanziiert wird
(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24.11.1981 - 2 BvC 1/81 -, BVerfGE 59, 119 [124],
und vom 12.12.1991 - 2 BvR 562/92 -, BVerfGE 85, 148 [159 f.]; Schreiber,
Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Auflage 2002, § 49 Rdnr.
20, 17; Aderhold, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.),
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Auflage 2005, § 48 Rdnr. 33 m.w.N.).
Deshalb genügen Wahlbeanstandungen, die über nicht belegte Vermutungen oder
die bloße Andeutung der Möglichkeit von Wahlfehlern nicht hinausgehen und einen
konkreten, der Überprüfung zugänglichen Tatsachenvortrag nicht enthalten, nicht
den Darlegungserfordernissen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.12.1991, a.a.O., S.
159 f.). Das Substanziierungsgebot dient des Weiteren dazu, das Prüfprogramm
des Staatsgerichtshofs zu konkretisieren. Denn es ist praktisch unmöglich, die
Gültigkeit der Landtagswahl auf jeden theoretisch denkbaren und lediglich abstrakt
vorgetragenen Wahlfehler hin zu überprüfen.Der Antragsteller muss die
Voraussetzungen des Art. 78 Abs. 2 HV darlegen. Nach Art. 78 Abs. 2 HV machen
Unregelmäßigkeiten im Wahlverfahren und strafbare oder gegen die guten Sitten
verstoßende Handlungen, die das Wahlergebnis beeinflussen, eine Wahl ungültig,
wenn sie für den Ausgang der Wahl erheblich waren. Nach allgemeiner Auffassung
und der wahlprüfungsrechtlichen Praxis, in deren Tradition und Weiterentwicklung
Art. 78 Abs. 2 HV steht, liegt eine unzulässige, einen Wahlfehler begründende
Wahlbeeinflussung nur vor, wenn durch die in Rede stehende Einwirkung auf die
Wählerwillensbildung schwerwiegend gegen die Grundsätze der Freiheit oder der
Gleichheit der Wahl verstoßen wurde. Denn grundsätzlich soll das demokratisch
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Gleichheit der Wahl verstoßen wurde. Denn grundsätzlich soll das demokratisch
gewählte Parlament durch die Wahlprüfung in der Wahrnehmung seiner Aufgaben
nicht beeinträchtigt werden (vgl. BVerfG, Urteil vom 08.02.2001, a.a.O., S. 134).
Es kann hier dahingestellt bleiben, welche Anforderungen im Einzelnen an die
Begründungstiefe zu stellen sind. Das Begründungserfordernis des § 52 Abs. 2
Satz 1 StGHG fordert für die Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde
jedenfalls, dass sich dem tatsächlichen Vorbringen des Antragstellers die konkrete
Möglichkeit eines für den Ausgang der Wahl erheblichen Wahlfehlers im Sinne des
Art. 78 Abs. 2 HV hinreichend deutlich entnehmen lässt (vgl. BVerfG, Beschlüsse
vom 03.07.1985 - 2 BvC 2/85 -, BVerfGE 70, 271 [276] m.w.N., und vom
12.12.1991, a.a.O., S. 159 f.; Schreiber, a.a.O., § 49 Rdnr. 20; Storost, in:
Umbach/Clemens (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 48 Rdnr. 39;
Aderhold, a.a.O., § 48 Rdnr. 39; Günther, a.a.O., § 52 Rdnr. 14).
Ein Antragsteller hat für die Zulässigkeit seiner Wahlprüfungsbeschwerde die
tatsächlichen Umstände eines (möglichen) schwerwiegenden Wahlfehlers
vorzubringen und dessen (mögliche) Erheblichkeit für den Ausgang der Wahl und
damit die Zusammensetzung des Parlaments darzulegen.
Zu beiden Aspekten enthalten die vorliegende Beschwerdeschrift und die
Einspruchsschrift keinen diesen Anforderungen genügenden Vortrag.
Der Antragsteller stellt mit seinen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 33
Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 LWG keinen rechtlich relevanten, konkreten Bezug zu der mit
dem Einspruch angefochtenen Landtagswahl vom 2. Februar 2003 her.
Insbesondere schildert er keinen konkreten tatsächlichen Lebensvorgang, aus
dem sich ergibt, dass es zu dem von ihm behaupteten Wahlfehler gekommen sein
soll.
Auch trägt er nicht vor, inwiefern sich die von ihm behaupteten Wahlfehler konkret
auf die Mandatsverteilung ausgewirkt haben sollen, inwiefern diese also für den
Ausgang der Wahl erheblich im Sinne des Art. 78 Abs. 2 HV gewesen sein sollen.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 Abs. 1 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.