Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: hessen, ermächtigung, verkündung, jugend, rechtsverordnung, öffentliche sicherheit, rechtsstaatsprinzip, abweichende meinung, republik, exekutive

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 533
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
Art 120 Verf HE
Leitsatz
1. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist die
Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, es sei denn, diese
Rechtsauffassung ist auf den ersten Blick als unhaltbar zu erkennen.
2. Rechtsverordnungen von Landesorganen, die auf einer bundesgesetzlichen
Ermächtigung beruhen, gehören dem Landesrecht, nicht aber dem Bundesrecht an.
3. Die Unbestimmtheit einer Norm kann gegen dass Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
Das Rechtsstaatsprinzip ist insoweit mit gleichem Inhalt sowohl Bestandteil des
Grundgesetzes als auch der Hessischen Verfassung.
Jedenfalls Normen des Strafrechts können in einem Rechtsstaat nur Bestand haben,
wenn sie so hinreichend bestimmt sind, dass jedermann vorhersehen kann, welches
Handeln mit Strafe bedroht ist, und sein Verhalten entsprechend einrichten kann.
4. Die in Art. 120 HV enthaltene Verkündungsvorschrift bezieht sich nur auf Gesetze im
formellen Sinne. Es besteht in Hessen auch kein Verfassungsgrundsatz, wonach eine
rechtswirksame Verkündung von Rechtsverordnungen nur im Gesetz- und
Verordnungsblatt erfolgen kann.
5. Die Verkündung einer Rechtsnorm hat den Zweck, ihren Wortlaut dem Bürger so
zugänglich zu machen, dass er von ihm sicher und ohne unzumutbare Erschwernis
Kenntnis nehmen kann. Diesen Anforderungen genügt es im vorliegenden Fall, wenn die
Sperrbezirksverordnung im Staatsanzeiger für das Land Hessen verkündet ist.
Tenor
1. § 1 Nr. 1 der Verordnung des Regierungspräsidenten in Wiesbaden zum Schutze
der Jugend und des öffentlichen Anstandes in Frankfurt (Main) vom 28. Dezember
1960 (StAnz. 1961, 78) verstößt nicht gegen die Verfassung des Landes Hessen.
2. Die Entscheidung ergeht gebührenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
1. In einem beim Amtsgericht Frankfurt (Main) anhängigen Strafverfahren - Az. ... -
wurde Frau... beschuldigt, in der Nacht vom ... zum ... auf der Kaiserstraße in
Frankfurt (Main) der Gewerbsunzucht nachgegangen zu sein. In der
Hauptverhandlung vom 15. November 1967 beschloß das Amtsgericht unter
Bezugnahme auf Art. 133 der Hessischen Verfassung (HV) und § 41 des Gesetzes
über den Staatsgerichtshof (StGHG),
eine Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshofes darüber
herbeizuführen, ob § 1 der Verordnung des Regierungspräsidenten in Wiesbaden
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herbeizuführen, ob § 1 der Verordnung des Regierungspräsidenten in Wiesbaden
vom 28. Dezember 1960 (StAnz. 1961, 78), soweit im Bahnhofsviertel der Stadt
Frankfurt (Main) die Ausübung der Gewerbsunzucht verboten wird, rechtswirksam
ist.
Der Oberlandesgerichtspräsident legte die Akten dem Staatsgerichtshof vor mit
dem Antrag, über die Gültigkeit der genannten Rechtsverordnung zu entscheiden.
Zur Begründung des Vorlagebeschlusses hat das Amtsgericht ausgeführt:
Der gegen die Angeklagte erhobene Vorwurf sei erwiesen. Da die Kaiserstraße im
sogenannten Bahnhofsviertel der Stadt Frankfurt liege, habe die Angeklagte sich
gemäß § 361 Nr. 6c StGB i. V. m. § 1 der genannten Verordnung strafbar
gemacht, falls die Verordnung rechtswirksam sei. Insoweit beständen jedoch
Zweifel. § 1 der Verordnung erkläre verschiedene Gebiete der Stadt Frankfurt
(Main) zum Dirnensperrbezirk, darunter auch das Bahnhofsviertel. Die Grenzen
dieses Viertels seien jedoch in mehrfacher Hinsicht lückenhaft angegeben worden.
Soweit die Verordnung als Grenze aufführe das
"Mainufer einschließlich Nizza bis Grenze Westhafen"
sei zu beanstanden, daß der Begriff "Nizza" in amtlichen Straßenverzeichnissen
nicht vorkomme und daß auch katastermäßig ein Gelände unter diesem Namen
nicht geführt werde. Die Befragung ortskundiger Bürger habe nicht zu einer
eindeutigen Klärung des Begriffs "Nizza" geführt. Insbesondere sei offen geblieben,
wie weit in östlicher Richtung die Grünanlagen am Mainufer, die häufig, als "das
Nizza" bezeichnet würden, dem Sperrbezirk Bahnhofsviertel zuzurechnen seien.
Soweit das Oberlandesgericht in einem anderen Strafverfahren mit seinem Urteil
vom 20. September 1967 (3 Ss 759/67) davon ausgegangen sei, daß die Lücken
zwischen den zur Begrenzung des Bahnhofsviertels in der Verordnung genannten
Straßen (z. B. die Lücke zwischen der Ottostraße und dem Platz der Republik)
durch gedachte gerade Linien zu schließen seien, könne dem nicht gefolgt werden,
denn es gebe keinen anerkannten Rechtssatz, der besagen würde, daß Lücken in
der Grenzziehung bei der Bestimmung des Geltungsbereichs von Rechtsnormen
durch die gedachte kürzeste Verbindungslinie zwischen vorgegebenen Endpunkten
zu schließen seien. Dies sei insbesondere nicht aus dem Begriff "Bezirk" zu folgern,
weil dieser rein begrifflich "das von einer Kreislinie Umgebene" sei. Aus Gründen
der Rechtssicherheit könne nicht auf die genaue Bestimmung des
Geltungsbereichs einer Verordnung verzichtet werden. Wenn diese Forderung nicht
erfüllt sei, liege ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vor, wie es in den Art.
20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG, aber auch in Art. 2, 17 und 19 ff HV zum Ausdruck
komme. Wegen der lückenhaften Grenzziehung und der unzureichenden
Bestimmung des Geltungsbereichs der genannten Verordnung sei § 1 der
Verordnung verfassungswidrig.
2. Den Mitgliedern der Landesregierung, dem Landtage des Landes Hessen und
den Beteiligten am Ausgangsstrafverfahren ist gemäß Art. 131 HV, § 42 StGHG
Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden.
Die übrigen Mitglieder der Landesregierung und der Regierungspräsident in
Wiesbaden (jetzt Darmstadt) haben über den Hessischen Ministerpräsidenten dem
Staatsgerichtshof angezeigt, daß sie sich nicht zur Sache äußern wollen. Der
Präsident des Hessischen Landtags hat unter Hinweis darauf, daß der Landtag an
den Vorarbeiten für die genannte Verordnung nicht beteiligt war, mitgeteilt, es
gebe weder eine Möglichkeit noch einen Anlaß zur Äußerung.
3. Der Hessische Ministerpräsident hat beantragt, der (Staatsgerichtshof möge
feststellen:
Die Vorlage des Amtsgerichts Frankfurt (Main) vom 15. November 1967 - ... -
ist unzulässig,
hilfsweise:
§ 1 Nr. 1 der Verordnung des Regierungspräsidenten in Wiesbaden zum
Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstands in Frankfurt (Main) vom 28.
Dezember 1960 (StAnz. 1961, 78) verstößt nicht gegen die Verfassung des
Landes Hessen.
Zur Begründung hat er ausgeführt:
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Die Auslegung, die das vorlegende Gericht der zu prüfenden Norm gegeben habe,
sei offensichtlich unhaltbar. Bei richtiger Auslegung sei dagegen die Norm nicht
entscheidungserheblich. Die Worte "einschließlich Nizza" seien zur Abgrenzung des
Sperrbezirks nicht notwendig, da die Grenze im Süden jedenfalls durch das
Mainufer gebildet werde und - was auch immer unter dem Begriff "Nizza" zu
verstehen sei - dieses Gelände jedenfalls nicht über das in der Verordnung
ausdrücklich als Grenze genannte "Mainufer" herausreiche. Auf die Frage, ob das
"Nizza" ostwärts über die Untermainanlage hinaus zum Sperrbezirk
"Bahnhofsviertel" gehöre, könne es rechtlich nicht ankommen, weil dieses Gebiet
jedenfalls innerhalb der Begrenzung des Sperrbezirks "Innerer Anlagenring" in § 1
Nr. 2 der Verordnung liege. An der Südwestecke des Sperrbezirks könne ebenfalls
von einer Unklarheit oder Lücke nicht gesprochen werden. Die Grenzbeschreibung
"Mainufer einschließlich Nizza bis Grenze Westhafen - Schleusenstraße" stelle im
Zusammenhang mit den örtlichen Gegebenheiten (Einzäunung des
Westhafengebietes nebst entsprechender Beschilderung) eindeutig klar, daß die
Bezirksgrenze in Verlängerung der Schleusenstraße bis zur Grenze des
Westhafens verlaufe. Auch zwischen dem Ende der Otto-Straße und dem Platz der
Republik gebe es keine Lücke, denn die dazwischenliegenden 70 Meter der Mainzer
Landstraße gehörten schon deshalb auch zum Sperrbezirk, weil die Mainzer
Landstraße selbst in der Verordnung als Grenze des Sperrbezirks angeführt werde.
Da die Angeklagte des Ausgangsverfahrens unstreitig inmitten des Sperrbezirks
tätig geworden sei, sei die Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich im Sinne von
Art. 133 HV.
Auch beruhe die zur Prüfung gestellte Norm auf bundesgesetzlicher Ermächtigung,
sei damit selbst dem Bundes-, nicht aber dem Landesrecht zuzurechnen und
daher der Prüfung durch den Staatsgerichtshof entzogen.
Auf jeden Fall jedoch sei die zur Prüfung gestellte Verordnung nicht
verfassungswidrig. Das gelte selbst dann, wenn für einige kleine Gebiete an der
Grenze des Bahnhofsviertels tatsächlich Zweifel über ihre Einbeziehung in das
Sperrgebiet bestehen sollten.
4. Der Landesanwalt hält ebenfalls die Vorlage in erster Linie für unzulässig. Zwar
sei die zur Prüfung gestellte Norm nicht dem Bundes-, sondern - in
Übereinstimmung mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23.
März 1965 (BVerfGE 18, 407) - dem Landesrecht zuzurechnen und damit der
Prüfung durch den Staatsgerichtshof nicht entzogen. Jedoch folge die
Unzulässigkeit der Vorlage aus der verfassungsmäßigen Aufgabenteilung zwischen
dem Landesverfassungsgericht einerseits und den Gerichten des zuständigen
Gerichtszweiges andererseits. Das vorlegende Gericht habe nicht hinreichend
geprüft, ob die genannte Verordnung bei gehöriger Auslegung der für die
Bezirksgrenzen verwendeten Bezeichnungen nicht durchaus allen Anforderungen
an die Bestimmtheit einer Verbotsnorm entspreche. An der rechtsstaatlich
gebotenen Bestimmtheit könne es nur dann fehlen, wenn sich der konkrete Inhalt
einer Norm nicht unter Verwendung der anerkannten Auslegungsregeln ermitteln
lasse. Indes habe das Oberlandesgericht Frankfurt (Main) bereits in zwei Urteilen
die Möglichkeit nachgewiesen, die Grenzen des Sperrbezirks "Bahnhofsviertel"
durch Auslegung zu ermitteln (Urteile vom 9. August 1967 - 3 Ss 483/67 - und
vom 31. Mai 1967 - 3 Ss 759/67 -). Wenn das Amtsgericht im Vorlagebeschluß
diese Auslegung der Verordnung durch das zuständige Revisionsgericht kritisiere,
werde der Staatsgerichtshof unzulässigerweise in die Rolle eines
"Superrevisionsgerichts" gedrängt. Überdies komme es für die Entscheidung im
Ausgangsverfahren auf die angeblichen Lücken in der Grenzziehung nicht an.
5. Der Leiter der Amtsanwaltschaft Frankfurt (Main) hat darauf hingewiesen, daß
bisher in keinem Fall, und zwar weder von einer Angeklagten noch von einem
Verteidiger noch von einem Richter, in einem Strafverfahren die Auffassung
vertreten worden sei, die Grenzen des Dirnensperrbezirks seien nicht hinreichend
deutlich in der genannten Verordnung bestimmt.
6. Dem Staatsgerichtshof haben die Akten der Strafverfahren gegen Frau..., ferner
Meßtischblätter des Stadtgebietes von Frankfurt (Main) und des
Westhafengebietes vorgelegen.
II.
Die Anrufung des Staatsgerichtshofes durch den Vorlagebeschluß ist zulässig.
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1. Das Amtsgericht Frankfurt (Main) steht in dem Strafverfahren... vor der
Entscheidung, ob es die Angeklagte wegen einer Übertretung gemäß § 361 Nr. 6c
StGB zu verurteilen hat. Diese Vorschrift lautet jetzt:
"Mit Haft wird bestraft, wer gewohnheitsmäßig zum Erwerbe Unzucht treibt und
diesem Erwerbe in einer Gemeinde oder in einem Bezirk einer Gemeinde
nachgeht, in denen die Ausübung der Gewerbsunzucht durch Rechtsverordnung
verboten ist."
Diese Fassung des § 361 Nr. 6c StGB beruht auf dem 5.
Strafrechtsänderungsgesetz vom 24. Juni 1960 (BGBl. I, 477). Art. 2 dieses
Änderungsgesetzes lautet:
"Verbot der Gewerbsunzucht.
Die Landesregierung kann die Ausübung der Gewerbsunzucht
1. in Gemeinden unter 20.000 Einwohnern für das ganze Gebiet der Gemeinde,
2. in Gemeinden von 20.000 bis zu 50.000 Einwohnern für das ganze Gebiet
der Gemeinde oder für einzelne Bezirke und
3. in Gemeinden über 50.000 Einwohnern für einzelne Bezirke
durch Rechtsverordnung zum Schutze der Jugend oder des öffentlichen
Anstandes verbieten (§ 361 Nr. 6c des Strafgesetzbuches). Sie kann diese
Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf die höhere Verwaltungsbehörde
übertragen.
Wohnungsbeschränkungen auf bestimmte Straßen oder Häuserblöcke zum
Zwecke der Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht (Kasernierungen) sind
verboten."
Von dieser ihr durch den Bundesgesetzgeber erteilten Ermächtigung hat die
Hessische Landesregierung mit der "Verordnung zur Übertragung der
Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen auf Grund des Fünften
Strafrechtsänderungsgesetzes vom 14. Oktober 1960" (GVBl. I, 211) Gebrauch
gemacht und die Ermächtigung den Regierungspräsidenten übertragen. Sodann
hat der Regierungspräsident in Wiesbaden am 28. Dezember 1960 die folgende
"Verordnung zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes in Frankfurt
(Main)" erlassen:
"Auf Grund des Art. 2 des Fünften Strafrechtsänderungsgesetzes vom 24. Juni
1960 (BGBl. I, S. 477) in Verbindung mit § 1 der Verordnung zur Übertragung der
Ermächtigung zum Erlaß der Rechtsverordnungen auf Grund des Fünften
Strafrechtsänderungsgesetzes vom 14.10.1960 (GVBl. S. 211) wird verordnet:
§ 1
Zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes wird verboten, in
Frankfurt (Main) auf Straßen und Plätzen sowie in den öffentlichen Anlagen
folgender Bezirke (Sperrbezirke) der Gewerbsunzucht nachzugehen:
1. Bahnhofsviertel
Zum Bahnhofsviertel im Sinne dieser Verordnung gehört das Gebiet zwischen
Hauptbahnhof, Mainzer Landstraße, Taunusanlage und Mainufer. Im einzelnen ist
dieses Gebiet durch den Verlauf folgender Straßen und Plätze abgegrenzt:
Platz der Republik - Mainzer Landstraße - Taunusanlage - Gallusanlage -
Untermainanlage - Mainufer einschließlich Nizza bis Grenze Westhafen -
Schleusenstraße - Gutleutstraße - Karlsruher Straße - Am Hauptbahnhof (einschl.
Hauptbahnhof und Hauptbahnhofsvorplatz) - Poststraße - Ottostraße.
Die genannten, das Bahnhofsviertel abgrenzenden Straßen und Plätze sind Teil
des Sperrbezirks.
2. Innerer Anlagenring
Zum inneren Anlagenring im Sinne dieser Verordnung gehören die
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Zum inneren Anlagenring im Sinne dieser Verordnung gehören die
Grünanlagen, die sich - einschließlich der sie begrenzenden Straßen und Plätze -
ringförmig von der Untermainanlage über Opernhaus, Eschenheimer Tor und
Rechneigraben bis zum Mainufer um die Innenstadt erstrecken.
Die äußere Grenze dieses Ringes hat, an das Bahnhofsviertel anschließend,
folgenden Verlauft:
Mainufer - Untermainanlage - Gallusanlage - Taunusanlage - Bockenheimer
Anlage - Eschenheimer Anlage - Friedberger Anlage - Obermainanlage - Mainufer.
Die innere Grenze bilden folgende Straßen und Plätze:
Neue Mainzer Straße - Bockenheimer Tor - Hochstr. - Eschenheimer Tor -
Bleichstraße - Seiler Straße - Lange Straße - Schöne Aussicht - Mainkai -
Untermainkai.
Die genannten, den inneren Anlagenring abgrenzenden Straßen und Plätze
sind Teil des Sperrbezirks.
3. Sonstige Sperrbezirke:
Babenhäuser Landstraße bis zur Stadtgrenze;
Braunfelsstraße;
Dantestraße;
Darmstädter Landstraße vom oberen Schafhofweg bis zur Stadtgrenze;
Emil-Sulzbach-Straße zwischen Rheingauallee und Hamburger Allee; Flughafen
Rhein-Main: Das Gelände von 300 m Breite und 200 m Tiefe vor dem
Verwaltungsgebäude des Flughafens Frankfurt (Main), begrenzt durch die
Verlängerung der Kapitän-Lehmann-Straße im Westen und den Autobahnzubringer
im Norden;
Flughafenstraße bis zur Stadtgrenze;
Forsthausstraße zwischen Stresemannallee und Oberforsthaus;
Friedensbrücke;
Friedrich-Ebert-Anlage;
Hamburger Allee zwischen Friedrich-Ebert-Anlage und
Varrentrappstraße;
Isenburger Schneise;
Kapitän-Lehmann-Straße einschl. Verkehrskreisel;
Mörfelder Landstraße von der Richard-Strauß-Allee bis zur Stadtgrenze einschl.
der Auffahrten und Abfahrten zur bzw. von der Autobahn Frankfurt (Main)-
Würzburg; Niederräder Landstraße zwischen Mörfelder Landstraße und
Rennbahnstraße;
Oberforsthaus: Das Gelände zwischen Forsthausstraße, Isenburger Schneise,
Am Oberforsthaus und Mörfelder
Landstraße;
Ostbahnhof, einschl. Bahnhofsvorplatz;
Otto-Fleck-Schneise;
Rheingauallee;
Schwanheimer Bahnstraße;
Senckenberganlage;
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Stresemannallee zwischen Friedensbrücke und Forsthausstraße;
Varrentrappstraße zwischen Rheingauallee und Hamburger Allee;
Wiesbadener Straße zwischen Rheingauallee und Bahnunterführung Frankfurt
(Main) - Bad Homburg;
Zeppelinallee zwischen Bockenheimer Landstraße und Miquelallee;
Unbenannte Straße zwischen der Verlängerung der Hugenottenallee in Neu-
Isenburg und der Isenburger Schneise;
Bei folgenden der genannten Straßen erstreckt sich der Sperrbezirk jeweils auf
einen Randstreifen von 100 m Tiefe links und rechts der Straße:
Babenhäuser Landstraße;
Darmstädter Landstraße;
Flughafenstraße;
Forsthausstraße;
Isenburger Schneise;
Kapitän-Lehmann-Straße;
Mörfelder Landstraße;
Otto-Fleck-Schneise;
Schwanheimer Bahnstraße;
§ 2
Diese Verordnung tritt am vierzehnten Tag nach ihrer Verkündung in Kraft."
Die Verordnung ist im Staatsanzeiger für das Land Hessen (StAnz.) 1961 S. 78
verkündet worden.
Da nach den Feststellungen des Vorlagebeschlusses die Angeklagte des
Ausgangsverfahrens gewohnheitsmäßig zum Erwerbe Unzucht treibt und diesem
Erwerbe in der Nacht vom ... zum ... auf der Kaiserstraße in Frankfurt (Main)
nachgegangen ist, und da die Kaiserstraße inmitten des Sperrbezirks
"Bahnhofsviertel" liegt, hängt die Bestrafung der Angeklagten davon ab, daß die
Verordnung vom 28. Dezember 1960 rechtswirksam ist. Auf die Gültigkeit der
Verordnung vom 28. Dezember 1960 kommt es somit bei der Entscheidung im
Ausgangsverfahren an. Damit ist die Zulässigkeitsvoraussetzung, die Art. 133 HV
für ein konkretes Normenkontrollverfahren aufstellt, gegeben.
Dagegen ist es für die Entscheidungserheblichkeit ohne Bedeutung, daß das
vorlegende Gericht die Unwirksamkeit der Verordnung vom 28. Dezember 1960
nur deshalb angenommen hat, weil die Grenzen des Sperrgebiets nicht
hinreichend klar beschrieben sein sollen, während die Angeklagte nicht an der
Grenze, sondern zweifelsfrei in der Mitte des Sperrbezirks angetroffen worden ist.
Wären nämlich die Grenzen des Sperrgebiets in einer mit dem Wesen des
Rechtsstaats nicht zu vereinbarenden Weise unklar und unbestimmt, dann wäre in
Übereinstimmung mit dem Vorlagebeschluß die Sperrgebiets-Verordnung in ihrer
Gesamtheit unwirksam mit der Folge, daß es an einer wirksamen Ausfüllung der
Blankett-Norm des § 361 Nr. 6c StGB fehlen würde. Im übrigen ist für die
Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit die Rechtsauffassung des vorlegenden
Gerichts maßgebend, es sei denn, diese Rechtsauffassung sei auf den ersten Blick
als unhaltbar zu erkennen (Hess. StGH, Urteil vom 4. Dezember 1968, P. St. 514
und 520, StAnz, 1969, S. 33).
2. Der Zulässigkeit der Vorlage steht auch nicht entgegen, daß es sich bei der
Sperrgebietsverordnung um eine Regelung handelt, die auf bundesgesetzlicher
Ermächtigung beruht. Nur dann, wenn die Sperrgebietsverordnung damit dem
Bundesrecht zuzuordnen gewesen wäre, ginge sie der Hessischen Verfassung vor
und könnte daher nicht an der Hessischen Verfassung gemessen werden
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und könnte daher nicht an der Hessischen Verfassung gemessen werden
(ständige Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes seit Beschluß vom 26. Oktober
1956 - P. St. 208, DÖV 1957, S. 189). Nachdem jedoch das
Bundesverfassungsgericht mit überzeugenden Gründen entschieden hat, daß
Rechtsverordnungen von Landesorganen, die auf einer bundesgesetzlichen
Ermächtigung beruhen, dem Landesrecht, nicht aber dem Bundesrecht zugehören
(BVerfGE 18, 407), hat der Staatsgerichtshof seine frühere abweichende Meinung
aufgegeben (Urteil vom 3. Dezember 1969, P. St. 569). Für den hier zu
entscheidenden Fall kommt hinzu, daß es bei jener Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts um einen Vorlagebeschluß des Bayerischen
Verfassungsgerichtshofes ging, der ebenfalls eine zu § 361 Nr. 6c StGB ergangene
Verordnung zum Gegenstand hatte. Mögen auch über den Umfang der
Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 des Gesetzes über das
Bundesverfassungsgericht unterschiedliche Auffassungen bestehen, so spricht
doch viel dafür, daß der Staatsgerichtshof jedenfalls bei der hier zu treffenden
Entscheidung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gebunden ist.
Selbst wenn jedoch eine solche Bindungswirkung fehlte, wäre die erneute Vorlage
an das Bundesverfassungsgericht mit dem Gedanken der Rechtseinheit und
Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. Wenn nämlich eine Rechtsfrage in Lehre
und Rechtsprechung von allen Seiten beleuchtet worden ist und weitere, neue
Aspekte nicht mehr zu erwarten sind, hat ein Gericht seine wissenschaftliche
Überzeugung zugunsten einer die Rechtseinheit und Rechtssicherheit
berücksichtigenden richterlichen Überzeugung zurückzustellen.
3. Die Sperrgebietsverordnung gehört zu den Rechtsverordnungen, die vom
Staatsgerichtshof allein daraufhin überprüft werden dürfen, ob sie mit der
Hessischen Verfassung im Einklang stehen. Die Hessische Verfassung selbst
definiert nicht den Begriff "Rechtsverordnung" im Sinne des Art. 132 HV. Sie
unterscheidet lediglich zwischen Rechtsverordnungen und
Verwaltungsverordnungen (Art. 107 HV). Da die Hessische Verfassung nur die
erstgenannten Normen einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle unterwirft,
war zu prüfen, ob es sich bei der Sperrbezirksverordnung um eine
Rechtsverordnung im Sinne von Art. 132 HV handelt. Hierzu bestand um so mehr
Veranlassung, als die Sperrbezirksverordnung nach der Rangstellung des
Verordnunggebers innerhalb der Exekutive nicht sogleich als eine der
gesetzesvertretenden Verordnungen zu erkennen ist, hinsichtlich deren der
Staatsgerichtshof im Urteil vom 3. Dezember 1969 - P. St. 569 - entschieden hat,
daß sie Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle sein können.
Daß die Sperrbezirksverordnung, wenn zwar auch nicht bei isolierter Betrachtung,
so doch in Verbindung mit dem 5. Strafrechtsänderungsgesetz und mit § 361 Nr. 6
c StGB Außenwirkungen in dem Sinne entfaltet, daß sie für Bürger unmittelbare
Verhaltensvorschriften und insbesondere Verbote setzt, reicht allein nicht aus. Im
modernen Verwaltungsstaat mit einer alle Lebensbereiche der menschlichen
Gesellschaft durchdringenden Tätigkeit der Exekutive, beispielsweise auf dem
Gebiet der Daseinsvorsorge, kommt selbst solchen Bestimmungen, die zunächst
lediglich die Organisation der Verwaltung selbst betreffen, für alle Bürger eine
Außenwirkung zumindest in dem Sinne zu, daß für die Bürger verbindlich
Zuständigkeiten begründet und Verfahrensweisen vorgeschrieben werden. Auch
kann nicht allein entscheidend sein, daß die Sperrbezirksverordnung auf
gesetzlicher Ermächtigung beruht, denn es wäre mit der in der Verfassung
verankerten Stellung des Staatsgerichtshofes als Garant der Verfassung
unvereinbar, wenn der gesamte Bereich der originären Regelungsbefugnis der
Exekutive der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von vornherein völlig entzogen
wäre.
Bei seinem Bemühen um ein brauchbares Abgrenzungskriterium hat der
Staatsgerichtshof im Urteil vom 3. Dezember 1969 - P. St. 569 - entschieden,
seiner Kontrollbefugnis seien jedenfalls diejenigen Normen unterworfen, die sowohl
nach der Rangstellung des Verordnunggebers innerhalb der Exekutive als auch
nach ihrem Wirkungskreis einem Gesetz ebenbürtig seien. Hierzu seien die
gesetzesvertretenden Verordnungen nach Art. 118 HV und auch die in Art. 107 HV
aufgeführten Ausführungsverordnungen zu zählen, die als Rechtsverordnungen
herkömmlicher Art, also als Normen mit primärer Außenwirkung, ergehen und
deren enge Beziehung zum Gesetz darin besteht, daß sie den im auszuführenden
Rechtssatz enthaltenen Rechtsgedanken ausbauen.
Wendet man diese Kriterien auf die Sperrbezirksverordnung an, so spräche
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Wendet man diese Kriterien auf die Sperrbezirksverordnung an, so spräche
allerdings die Rangstellung des Verordnunggebers innerhalb der Exekutive gegen
die Zulässigkeit der Vorlage. Während Verordnunggeber der in Art. 107, 118 HV
genannten Rechtsverordnungen die Landesregierung und die Minister, also die
ranghöchsten Organe der vollziehenden Gewalt sind und diese insoweit im
Vergleich mit dem Gesetz hinsichtlich des erlassenden Organs ebenbürtig sind, ist
die Sperrbezirksverordnung vom Regierungspräsidenten erlassen worden. Indes
konnte der Regierungspräsident hier nur deshalb tätig werden, weil der
Gesetzgeber selbst die Landesregierung zur Weiterübertragung der Ermächtigung
auf die höhere Verwaltungsbehörde ermächtigt hat. Hat der Gesetzgeber
unmittelbar im Interesse einer möglichst sachgerechten Regelung die
Normsetzung durch eine sachnahe Verwaltungsbehörde eröffnet, dann kann eine
solche Delegation den Rang der Norm nicht vermindern.
Was schließlich den Wirkungskreis der Sperrbezirksverordnung betrifft, so spricht
dieser von vornherein für eine Zulässigkeit der Vorlage, denn es handelt sich bei
der Sperrbezirksverordnung um materielles Strafrecht, das über die Grenzen des
Regierungsbezirks und des Landes hinaus gegenüber jedem Rechtsgenossen
Wirksamkeit entfaltet. Dagegen ist sie keine Satzung oder Polizeiverordnung mit
örtlich beschränktem Wirkungsbereich. Dem steht nicht entgegen, daß die
Sperrbezirksverordnung sich als eine Verordnung zum Schutze der Jugend und des
öffentlichen Anstandes bezeichnet und daß die in ihr beschriebenen Sperrbezirke
lediglich Teile der Stadt Frankfurt (Main) betreffen.
4. Die Vorlage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil das Amtsgericht an die
Bezeichnung der Sperrbezirksgrenzen offensichtlich übertriebene Anforderungen
stellt. Zwar weisen der Hessische Ministerpräsident und der Landesanwalt mit
Recht darauf hin, daß ein Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit einer
Norm nicht auf der Grundlage einer unrichtigen Auslegung dieser Norm durch das
vorlegende Gericht prüfen kann, weil es dann nicht über einen wirklich gegebenen,
sondern über einen fiktiven rechtlichen Tatbestand entscheiden würde (BVerfGE 7,
50). Indes handelt es sich im Falle der unrichtigen Auslegung der zur Prüfung
gestellten Norm nicht um ein Problem der Zulässigkeit der Vorlage, sondern um
ein Problem ihrer Begründetheit, denn nur dann, wenn das Verfassungsgericht in
die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm eintritt, stellt sich die Frage des
wirklichen Sinngehaltes der zu prüfenden Norm.
5. Schließlich steht der Zulässigkeit der Vorlage nicht - wie der Ministerpräsident
meint - entgegen, daß das Amtsgericht in eigener Zuständigkeit die
Unvereinbarkeit der Sperrbezirksverordnung mit dem Grundgesetz hätte
aussprechen und die Angeklagte im Ausgangsverfahren mit dieser Begründung
hätte freisprechen können.
Die Unbestimmtheit einer Norm kann gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen.
Das Rechtsstaatsprinzip ist insoweit mit gleichem Inhalt sowohl Bestandteil des
Grundgesetzes als auch der Hessischen Verfassung (Zinn-Stein, Komm. z. HV,
1954, Anm. 9 zu Art. 26). Läge ein Verstoß nur gegen das Grundgesetz vor, wäre
ein Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht unzulässig gewesen, weil
sich die Pflicht zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG nur auf formelle Gesetze, nicht
aber auf Rechtsverordnungen erstreckt (Lechner, Komm. z. BVerfGG, 2. Aufl. Anm.
4 b zu § 13 Nr. 11 mit zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung).
Liegt aber außerdem ein Verstoß gegen die Hessische Verfassung vor, so hat das
Gericht die Sache dem Staatsgerichtshof vorzulegen (Art. 133 HV).
III.
Die Sperrbezirksverordnung ist mit der Hessischen Verfassung vereinbar.
1. Die Vorlage ist nicht schon deshalb unbegründet, weil die Verordnung vom 28.
Dezember 1960 nicht im Gesetz- und Verordnungsblatt, sondern im Staats-
Anzeiger für das Land Hessen verkündet ist.
a) Läge hierin ein Verkündungsfehler, so wäre die Sperrbezirksverordnung nicht
existent, denn rechtsstaatliche Grundsätze erfordern für das rechtswirksame
Zustandekommen einer Rechtsverordnung, daß sie gehörig verkündet wird. Es ist
jedoch nicht Aufgabe des Staatsgerichtshofs, über einen fiktiven Tatbestand,
nämlich über die Verfassungsmäßigkeit einer nicht-existenten Norm zu
entscheiden (vgl. Leibholz-Rupprecht. Komm. z. BVerfGG, § 81 Anm. 2).
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b) Die Frage, ob die Sperrbezirksverordnung gesetzmäßig verkündet ist, ist an sich
nicht vom Staatsgerichtshof zu beantworten. Wie der Staatsgerichtshof im Urteil
vom 3. Dezember 1969 - P. St. 569 - erkannt und näher begründet hat, bezieht
sich die in Art. 120 HV enthaltene Verkündungsvorschrift nur auf Gesetze im
formellen Sinne; auch besteht in Hessen nicht ein Verfassungsgrundsatz, daß die
rechtswirksame Verkündung von Rechtsverordnungen nur im Gesetz- und
Verordnungsblatt erfolgen könne. Vielmehr habe die Verfassung dem Gesetzgeber
lediglich auferlegt, im Wege der einfachen Gesetzgebung den Ort der
Veröffentlichung von Rechtsverordnungen zu bestimmen. Diese Pflicht habe der
Gesetzgeber in Hessen bisher versäumt; indes habe das nur zur Folge, daß die
von der Exekutive erlassenen Rechtsverordnungen möglicherweise wirkungslos
blieben, weil der Bürger möglicherweise keine Kenntnis von dem zuständigen
Veröffentlichungsblatt erlangen könne, in dem die Rechtsverordnung zu finden sei.
Es handele sich damit aber nicht um eine Frage der Verfassungsmäßigkeit,
sondern um eine Frage der Gesetzmäßigkeit der Rechtsverordnung. Auch die
Existenz zweier alternativ nebeneinander gestellter Veröffentlichungsmöglichkeiten
ohne gesetzliche Abgrenzung dieser beiden Möglichkeiten gegeneinander werfe
nur die Frage der Gesetzmäßigkeit, nicht aber die Frage der Verfassungsmäßigkeit
auf.
Ausgehend hiervon wäre es Aufgabe des vorlegenden Gerichts gewesen, die
Sperrbezirksverordnung auf ihre gehörige Verkündung zu prüfen; indes enthält der
Vorlagebeschluß hierzu nichts, vermutlich deshalb, weil die Problematik, die sich
aus dem Fehlen einer gesetzlichen Regelung der Verkündung von
Rechtsverordnungen in Hessen ergibt, erst in neuerer Zeit durch mehrere
Gerichtsentscheidungen bewußt gemacht worden ist (Hess. VGH, Beschluß vom
12. August 1965, StAnz. 1966, 185, berichtigt S. 891; Urteil vom 6. September
1967, DVBl. 1968, 259; Urteil vom 29. Mai 1969 - 5 OE 135/67 -).
In einer solchen Verfahrenslage sieht sich der Staatsgerichtshof im Zuge einer
Vorfragenprüfung genötigt, unter Überschreitung seines im allgemeinen auf die
Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen beschränkten Aufgabenkreises
dazu Stellung zu nehmen, ob die Sperrbezirksverordnung ordnungsgemäß
verkündet ist, denn allgemein dürfen und müssen Gerichte in einem vor ihnen
zulässigerweise anhängig gemachten Verfahren über die für ihre Entscheidung
erheblichen und sonst in die Zuständigkeit anderer Gerichte und Behörden
fallenden Vorfragen, die nicht Gegenstand der Endentscheidung selbst sind, in
eigener Zuständigkeit entscheiden, solange nicht ausdrücklich auch für die
Entscheidung einer solchen Vorfrage die ausschließliche Zuständigkeit eines
anderen Gerichts oder einer anderen Behörde begründet ist (vgl. z. B. BAG AP Nr.
1 zu § 3 AVG).
c) Gegen die Gesetzmäßigkeit der Verkündung der Sperrbezirksverordnung
bestehen keine Bedenken.
Die Verkündung einer Rechtsnorm hat den Zweck, ihren Wortlaut dem Bürger so
zugänglich zu machen, daß er von ihm sicher und ohne unzumutbare Erschwernis
Kenntnis nehmen kann (BVerwG, Urteil vom 29. August 1961, DVBl. 1962, 137).
Diesen Anforderungen genügt es im vorliegenden Fall, wenn die
Sperrbezirksverordnung im Staats-Anzeiger für das Land Hessen verkündet ist.
Der Staats-Anzeiger wird seit 1946 gemäß einem in seiner vierten Ausgabe
abgedruckten Beschluß der Landesregierung vom 19. September 1946 (StAnz. S.
25) als amtliches Verkündungsorgan der obersten Landesbehörden
herausgegeben. In diesem Beschluß heißt es weiter, alle amtlichen Anordnungen
der obersten Landesbehörden sowie die Rundverfügungen der
Regierungspräsidenten würden in diesem Verordnungsblatt veröffentlicht.
Wie sich jedoch bei der Durchsicht bereits des ersten Jahrganges des Staats-
Anzeigers ergibt, veröffentlichten die Regierungspräsidenten von Anfang an in
diesem Verkündungsblatt nicht lediglich verwaltungsinterne Verordnungen,
sondern sogleich auch Verordnungen mit Außenwirkung (vgl. z. B. die Anordnung
des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 30. September 1946 betr. die
Überwachung elektrischer Anlagen; StAnz. S. 49). In dieser Weise wurde in der
Folgezeit auch weiterhin verfahren.
Danach hat sich also eine gewohnheitsrechtliche Verkündungspraxis der
Regierungspräsidenten dahin entwickelt, daß sie Verordnungen aller Art - mit und
ohne Außenwirkung - in diesem Verkündungsblatt veröffentlicht haben.
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Nachdem die Hessische Landesregierung mit ihrer im Gesetz- und
Verordnungsblatt verkündeten Verordnung vom 14. Oktober 1960 den Erlaß von
"Rechtsverordnungen zum Schutze der Jugend und des öffentlichen Anstandes" zu
Art. 2 Abs. 1 des Fünften Strafrechtsänderungsgesetzes vom 24. Juni 1960 auf die
Regierungspräsidenten übertragen hatte, lag es für jeden Bürger, dem es darauf
ankam, den Inhalt solcher "Rechtsverordnungen zum Schutze der Jugend und des
öffentlichen Anstandes" zu erfahren, nahe, in demjenigen Verkündungsorgan zu
suchen, das seit mehr als 14 Jahren als das Verkündungsorgan der
Regierungspräsidenten erschien. Eine solche Überlegung wäre für den Bürger, der
die ausführende Norm sucht, zwar entbehrlich gewesen, wenn in Hessen eine
gesetzliche Regelung über die Verkündung von Rechtsverordnungen bestehen und
diese den Staats-Anzeiger ausdrücklich als Verkündungsorgan für
Rechtsverordnungen der Regierungspräsidenten bezeichnen würde. Diese
Unterlassung stellt den Bürger nicht vor eine unzumutbar schwierige Überlegung,
zumal da eine "Verordnung zum Schutze der Jugend und des öffentlichen
Anstandes" wegen ihrer Überschrift in die Sachnähe derjenigen Verordnungen
verwies, für welche ein Gesetz den Staats-Anzeiger ausdrücklich als
Verkündungsorgan vorschreibt, denn für Polizeiverordnungen der
Regierungspräsidenten bestimmt § 43 des Hessischen Gesetzes über die
öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 17. Dezember 1964 (GVBl. I S. 209) die
Veröffentlichung im Staats-Anzeiger für das Land Hessen.
2. Die Sperrbezirksverordnung ist entgegen der im Vorlagebeschluß vertretenen
Auffassung nicht nur nicht unzureichend bestimmt; sie läßt sogar hinsichtlich der
Bestimmung der Grenzen des Sperrbezirks "Bahnhofsviertel" - und nur insoweit
brauchte der Staatsgerichtshof nach Lage des Ausgangsverfahrens zu
entscheiden keine Frage offen.
a) Das Rechtsstaatsprinzip liegt der Gesamtkonzeption der Hessischen
Verfassung zugrunde (P. St. 162 und 295), mag es auch an einer ausdrücklichen
Bestimmung insoweit fehlen. Indes ist die Verfassung der Gliedstaaten nicht allein
in der Landesverfassungsurkunde enthalten; vielmehr wirken in sie auch die
Bestimmungen der Bundesverfassung hinein und erst beide Elemente zusammen
machen die Verfassung des Gliedstaates aus (BVerfGE 1, 208 [232]; BVerfG, Urteil
vom 22. Juli 1969. DÖV 1969, 633 [634]). Das Grundgesetz aber erhebt in Art. 20
Abs. 3 und 28 Abs. 1 das Rechtsstaatsprinzip zu einem verfassungsfesten (Art. 79
Abs. 3) Grundsatz. An diesem Rechtsstaatsprinzip ist die Sperrbezirksverordnung
zu prüfen (Zinn-Stein, Komm. zur HV, Art. 131 - 133, Erl. B I 4 und B II 3).
b) Dem Vorlagebeschluß ist darin beizupflichten, daß zumindest Normen des
Strafrechts in einem Rechtsstaat nur Bestand haben können, wenn sie so
hinreichend bestimmt sind, daß "jedermann vorhersehen kann, welches Handeln
mit Strafe bedroht ist, und sein Verhalten entsprechend einrichten kann" (BVerfG,
Beschluß vom 26. Februar 1969, JZ 1969, 505; Beschluß vom 14. Mai 1969, JZ
1969, 800). Welches Verhalten mit Strafe bedroht ist, läßt sich aber auch dann
nicht vorhersehen, wenn das Gesetz ein Verhalten in einem örtlichen Bezirk unter
Strafe stellt, jedoch diesen Bezirk nicht so genau begrenzt, daß beim Bürger
darüber Zweifel entstehen müssen, ob er sich innerhalb oder außerhalb des
Bezirks befindet.
c) Die Sperrbezirksverordnung läßt hinsichtlich des Bahnhofsviertels solche Zweifel
jedoch nicht entstehen. Dabei kann es sogar dahingestellt bleiben, ob - wie das
Bundesverfassungsgericht entschieden hat - die verfassungsrechtliche Prüfung
von einer "sinn- und sachgerechten" Auslegung der zu prüfenden Norm
auszugehen hat (BVerfGE 14, 245 [253]) oder ob der Hinweis auf
Sachgerechtigkeit dubios, der Hinweis auf Sinngerechtigkeit aber überflüssig ist,
weil überhaupt keine Unbestimmtheit vorliegt, wenn sinngerechte Auslegung
möglich ist (Schroeder in JZ 1969, 779), denn im vorliegenden Fall bedarf es nicht
einmal einer Auslegung nach den anerkannten Regeln rechtswissenschaftlicher
Methodenlehren, um die Grenzen des Bahnhofsviertels aus der
Sperrbezirksverordnung zu ermitteln. Vielmehr genügt die Anwendung des
Wortlautes der Verordnung. Das gilt für alle Punkte, an denen der Vorlagebeschluß
Lücken in den Grenzen entdeckt zu haben glaubt:
Was zunächst die angebliche Lücke zwischen der Otto-Straße und dem Platz der
Republik betrifft, so mündet die Otto-Straße zwar nicht unmittelbar in den Platz der
Republik, sondern 70 Meter westlich dieses Platzes in die Mainzer Landstraße. Die
Mainzer Landstraße zählt aber zu den "genannten, das Bahnhofsviertel
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Mainzer Landstraße zählt aber zu den "genannten, das Bahnhofsviertel
abgrenzenden Straßen und Plätzen", die von der Verordnung ausdrücklich als "Teil
des Sperrbezirks" bezeichnet werden. Ein Zweifel daran, daß die 70 Meter der
Mainzer Landstraße zwischen Otto-Straße und Platz der Republik Teil des
Sperrbezirks sind, ist nicht begründet.
Was sodann die Südgrenze betrifft, so wird sie durch das Mainufer gebildet. Nur
wenn der Vorlagebeschluß hätte ausführen können, in Frankfurt (Main) sei die
Auffassung denkbar, das "Nizza" könne ein Gebiet südlich des Mainufers, also etwa
die Fläche des Flusses oder gar ein Streifen auf der Südseite des Flusses
bedeuten, wären Zweifel an der Südgrenze begründet. Ohne solche Ausführungen
jedoch fehlt es an der schlüssigen Darlegung einer zweifelhaften Südgrenze des
Sperrbezirks.
Auch fehlt es an der Darlegung einer zweifelhaften Ostgrenze des Sperrbezirks,
denn nach dem klaren Wortlaut der Verordnung schließt sich der Sperrbezirk
"Innerer Anlagenring" an den Sperrbezirk "Bahnhofsviertel" an. Auch dort bildet das
Mainufer die Südgrenze, während die Ostgrenze des Sperrbezirks "Innerer
Anlagenring" durch die im Straßenverzeichnis nachgewiesene Obermainanlage, die
Innengrenze des Ringes aber durch "Mainkai" und "Schöne Aussicht" (beide
ebenfalls im Straßenverzeichnis genannt und im Straßenverlauf beschildert)
eindeutig bezeichnet wird. Daß das Gebiet "Nizza" möglicherweise von zwei
Sperrbezirken erfaßt wird, ist rechtsstaatlich unerheblich. Daß das "Nizza"-Gebiet
über die Innengrenze des Ringes hinausragen könnte, ist ebenfalls nicht
vorgetragen.
Was schließlich die Südwestecke des "Bahnhofsviertels" betrifft, so ist eine Lücke
zwischen der durch Umzäunung und Beschilderung gebildeten Westhafengrenze
und der als Sperrbezirksgrenze in der Verordnung bezeichneten "Schleusenstraße"
zwar vorhanden. Diese Lücke hat eine Breite von kaum zwanzig Metern. Wer sich
aber an Ort und Stelle befindet und vor die Aufgabe gestellt wird, sich unbefangen
zum Grenzverlauf zu äußern, tut als vernünftiger Bürger das, was das
Oberlandesgericht in seinen beiden Urteilen vom 9. August 1967 und vom 20.
September 1967 für richtig gehalten hat: Er zieht eine gerade Linie von der
Westseite der Schleusenstraße bis zur Westhafen-Umzäunung. Hierzu bedarf es
immer noch keiner Auslegung, sondern nur einer schlichten Anwendung der
Verordnung. Die Auffassung des Vorlagebeschlusses, es fehle an einem
Rechtssatz, der besagen würde, daß eine "Lücke" solcher Art durch eine Gerade zu
schließen sei, begrifflich sei der Bezirk vielmehr "das von einer Kreislinie
Umgebene", ist lebensfremd.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.