Urteil des StGH Hessen vom 10.10.2001

StGH Hessen: bindungswirkung, hessen, steuerhinterziehung, zustandekommen, rechtswegerschöpfung, verfassungsrecht, vergehen, abgabenordnung, strafprozessordnung, kassation

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 1629
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 44 Abs 1 S 1 StGHG HE, § 44
Abs 2 StGHG HE, § 264 Abs 1
StPO, § 358 Abs 1 StPO
(StGH Wiesbaden: Wegen fehlender
Rechtswegerschöpfung unzulässige Grundrechtsklage
gegen revisionsgerichtliche Zwischenentscheidung – hier:
zurückverweisendes Revisionsurteil im Strafprozess –
Kassationsbefugnis des StGH)
Leitsatz
1. Der Rechtsweg ist grundsätzlich nicht erschöpft, wenn die Sache durch ein
Revisionsgericht an die Vorinstanz zurückverwiesen wird.
2. Ein strafgerichtliches Revisionsurteil, das ein freisprechendes Urteil aufhebt und die
Sache an die Vorinstanz zur erneuten Entscheidung zurückverweist, stellt auch dann
keine unmittelbar mit der Grundrechtsklage angreifbare Zwischenentscheidung dar,
wenn es auf einer Auslegung des strafprozessualen Tatbegriffs beruht, die der
Grundrechtskläger als Verletzung seiner Grundrechte rügt.
3. Der Staatsgerichtshof kann im Rahmen einer Grundrechtsklage gegen eine
Endentscheidung in Gestalt einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung, die auf
der Bindungswirkung einer - nach Zustandekommen oder Inhalt -
grundrechtsverletzenden Zwischenentscheidung nach § 358 Abs. 1 StPO beruht, End-
und Zwischenentscheidung für kraftlos erklären.
Tenor
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
Gründe
A
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen ein Revisionsurteil des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main, mit dem ein ihn freisprechendes Urteil aufgehoben und die
Sache an das Amtsgericht Kassel zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen
wurde.
Das Amtsgericht Kassel sprach den Antragsteller mit Urteil vom 28. August, 2000
- 505 Js 13891.9/97-271 Ls - vom Vorwurf von Vergehen gegen die
Abgabenordnung frei. Die im Anklagesatz bezeichneten Taten der
Steuerhinterziehung habe der Antragsteller nicht begangen, eine in Betracht
kommende Steuerhinterziehung im Hinblick auf das Steuerjahr 1992 sei nicht
angeklagt worden. Auf Sprungrevision der Staatsanwaltschaft hob das
Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 16. Januar 2001 - 2 Ss 400/00
- das amtsgerichtliche Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kassel zurück. Zur
Begründung führte das Revisionsgericht im dem Antragsteller am 26. Januar 2001
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Begründung führte das Revisionsgericht im dem Antragsteller am 26. Januar 2001
zugegangenen Urteil im Wesentlichen aus, dass die in der Anklage bezeichnete
Tat entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Kassel auch die Hinterziehung von
Einkommen- und Umsatzsteuer für das Jahr 1992 umfasse.
Am 26. Februar 2001 hat der Antragsteller Grundrechtsklage erhoben.
Er rügt Verletzungen der Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie Art. 3
der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung - HV -) durch die
revisionsgerichtliche Auslegung des Begriffs der prozessualen Tat im Sinne des §
264 Abs. 1 der Strafprozessordnung - StPO -.
Die Grundrechtsklage gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main
sei zulässig, obwohl es sich nicht um die Endentscheidung in dieser Sache
handele. Infolge der Bindung des Tatrichters und aller weiteren Instanzen an die
rechtliche Bewertung im zurückverweisenden revisionsgerichtlichen Urteil sei eine
in dieser rechtlichen Bewertung liegende Grundrechtsverletzung im weiteren
fachgerichtlichen Verfahren nämlich nicht mehr korrigierbar. Würde die
Grundrechtsklage gegen die revisionsgerichtliche Zwischenentscheidung des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main nicht zugelassen, so müsste er wiederum
den Instanzenzug bis zum Oberlandesgericht ausschöpfen, obgleich dies im
Hinblick auf die im Streit stehende Auslegung des Begriffs der prozessualen Tat
aussichtslos wäre. Dies sei weder vom Subsidiaritätsgedanken geboten noch unter
dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie sinnvoll. Zudem stelle die Durchführung
einer erneuten öffentlichen Hauptverhandlung in seinem Fall, in dem es an einer
wirksamen Anklage und damit an einer elementaren Voraussetzung eines
rechtsstaatlichen Strafverfahrens fehle, einen von ihm nicht mehr
hinzunehmenden irreversiblen Grundrechtseingriff dar.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
1. festzustellen, dass das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
16. Januar 2001 - 2 Ss 400/00 - die Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2
sowie Art. 3 HV verletzt,
2. das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 16. Januar 2001 - 2 Ss
400/00 - für kraftlos zu erklären und die Sache an ein anderes Gericht desselben
Rechtszuges zurückzuverweisen.
II.
Landesregierung und Landesanwaltschaft halten die Grundrechtsklage wegen
fehlender Rechtswegerschöpfung für unzulässig. Das Urteil des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main enthalte für den Antragsteller keine endgültige Beschwer, die
ausnahmsweise eine Grundrechtsklage bereits gegen eine Zwischenentscheidung
zulasse. Mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts sei eine Verurteilung des
Antragstellers nicht präjudiziert. Sie schließe jedenfalls nicht aus, dass der
Antragsteller im Falle einer veränderten Verfahrens- und Rechtslage aufgrund
neuer tatrichterlicher Feststellungen, für die die Aufhebungsansicht des
Oberlandesgerichts keine Bedeutung habe, erneut freigesprochen werde. Zudem
gelte die Bindungswirkung nicht, wenn und soweit sie dem Tatrichter einen - vom
Antragsteller gerade behaupteten - Verstoß gegen Verfassungsrecht zumute.
Auch wäre das Oberlandesgericht als Revisionsgericht im Falle einer Verurteilung
des Antragstellers nicht gehindert, seine Ansicht zu überdenken und zu einer
anderen Entscheidung zu kommen.
B
I.
Die Grundrechtsklage ist unzulässig, weil der Antragsteller den Rechtsweg nicht
erschöpft hat und die Voraussetzungen, unter denen der Staatsgerichtshof vor
Erschöpfung des Rechtswegs entscheidet, nicht gegeben sind.
Ist für den Gegenstand einer Grundrechtsklage der Rechtsweg zulässig, so kann
die Grundrechtsklage nach § 44 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den
Staatsgerichtshof - StGHG - regelmäßig erst erhoben werden, wenn der Rechtsweg
erschöpft ist. Nach § 44 Abs. 2 StGHG entscheidet der Staatsgerichtshof vor
Erschöpfung des Rechtswegs nur, wenn die Bedeutung der Sache über den
Einzelfall hinausgeht oder wenn der antragstellenden Person ein schwerer und
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Einzelfall hinausgeht oder wenn der antragstellenden Person ein schwerer und
unabwendbarer Nachteil entstünde, falls sie zunächst auf den Rechtsweg
verwiesen würde.
Grundsätzlich ist der Rechtsweg nicht erschöpft, wenn die Sache durch ein
Revisionsgericht an die Vorinstanz zurückverwiesen wird (ständige Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts, vgl. etwa BVerfG <1. Kammer des 1. Senats>
NJW 2000, 3198). Dies gilt unabhängig von der Bindungswirkung, die einer
rechtlichen Beurteilung des Revisionsgerichts für das weitere fachgerichtliche
Verfahren zukommt. Rechtsausführungen in den Gründen der Entscheidung
schaffen für sich allein keine Beschwer im Rechtssinn. Ausschlaggebend ist
vielmehr, ob ein Antragsteller im Ergebnis mit seinem Begehren noch Erfolg haben
kann (vgl. BVerfG a.a.0.).
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat das den Antragsteller
freisprechende amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten
Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Es ist
deshalb trotz der Bindungswirkung des § 358 Abs. 1 StPO noch offen, ob es im
Ergebnis zu einer Verurteilung des Antragstellers wegen Steuerhinterziehung
kommt.
Der Grundrechtsklage kommt auch weder eine über den Einzelfall hinausgehende
Bedeutung zu noch entsteht dem Antragsteller ein schwerer und unabwendbarer
Nachteil durch seine Verweisung auf den Rechtsweg. Die als
Grundrechtsverletzung gerügte revisionsgerichtliche Auslegung des Begriffs der
prozessualen Tat im angegriffenen Urteil beinhaltet - anders als etwa die
Zurückverweisung auf der Grundlage einer gegen die Garantie des gesetzlichen
Richters verstoßenden Norm (BVerfGE 20, 336 <342>) oder ein Urteil, das über
den Schuldspruch endgültig entscheidet und lediglich zur Entscheidung über das
Strafmaß zurückverweist (BVerfGE 75, 369 <375>; 82, 236 <258>) -
insbesondere keine nachhaltige und irreversible Rechtsverletzung, die ein
Vorgehen schon gegen diese Zwischenentscheidung erforderlich machen würde.
Denn im Fall einer infolge der Zurückverweisung denkbaren Verurteilung ist es
dem Antragsteller nach Durchlaufen des fachgerichtlichen Instanzenzugs möglich,
die endgültige letztinstanzliche Entscheidung mit der Grundrechtsklage
anzugreifen. Im Rahmen einer solchen Grundrechtsklage könnte der Antragsteller
auch die ihn vermeintlich in seinen Grundrechten verletzende Interpretation des
Begriffs der prozessualen Tat zum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle
machen, soweit seine Verurteilung darauf beruht. Das Abwarten der - ihm
möglicherweise nachteiligen - strafgerichtlichen Endentscheidung ist dem
Antragsteller auch zumutbar. Die erneute Durchführung einer Hauptverhandlung
allein greift - selbst wenn es infolge rechtsirriger Auslegung des Tatbegriffs des §
264 StPO durch das Oberlandesgericht an einer ordnungsgemäßen Anklage fehlen
sollte - nicht derart schwer in den Rechtskreis des Antragstellers ein, dass eine
Vorabentscheidung des Staatsgerichtshofs erforderlich wäre.
Im Falle einer Kassation des endgültigen letztinstanzlichen Urteils durch den
Staatsgerichtshof träte für das Fachgericht, an das der Staatsgerichtshof die
Sache zurückverweist, auch kein unauflösbarer Widerstreit zwischen der
Bindungswirkung der revisionsgerichtlichen Zurückverweisung nach § 358 Abs. 1
StPO und der Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nach §
47 Abs. 1 StGHG ein.
Zum einen findet die Bindungswirkung des § 358 Abs. 1 StPO dort ihre Grenze, wo
sie dem verpflichteten Gericht einen offensichtlichen Verfassungsverstoß zumuten
würde (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. 2001, § 358 Rdnr. 8 m.w.N.).
Hat der Staatsgerichtshof aber in derselben Sache eine fachgerichtliche
Rechtsauffassung als grundrechtsverletzend verworfen, ist deren
Verfassungswidrigkeit für das erneut erkennende Fachgericht offensichtlich, seine
Bindung an die frühere Zwischenentscheidung, in der diese - nach
Zustandekommen oder Inhalt verfassungswidrige - Rechtsauffassung vertreten
wurde, mithin entfallen. Auf die Frage, ob das Revisionsgericht im Strafprozess in
ein- und demselben Verfahren an eine zunächst vertretene, im Fortgang des
Verfahrens aber als unzutreffend erkannte Rechtsauffassung gebunden ist (vgl.
dazu BGHSt 33, 356 ), kommt es für die Entscheidung über die
Grundrechtsklage sonach nicht an.
Der Staatsgerichtshof kann zudem im Rahmen einer Grundrechtsklage gegen eine
Endentscheidung in Gestalt einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung,
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Endentscheidung in Gestalt einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung,
die auf der Bindungswirkung einer - nach Zustandekommen oder Inhalt -
grundrechtsverletzenden Zwischenentscheidung nach § 358 Abs. 1 StPO beruht,
End- und Zwischenentscheidung für kraftlos erklären und so der Bindungswirkung
die Grundlage nehmen. § 44 Abs. 1 Satz 2 StGHG, nach dem der
Staatsgerichtshof nur prüft, ob die Entscheidung des höchsten in der Sache
zuständigen Gerichts auf der Verletzung eines von der Verfassung des Landes
Hessen gewährten Grundrechts beruht, steht dieser Kassationsbefugnis nicht
entgegen. Das Endurteil enthält wegen der Bindungswirkung der
Zwischenentscheidung notwendig deren bindende rechtliche Erkenntnisse. Die
Zwischenentscheidung ist damit zugleich mit der Endentscheidung aufhebbar.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.