Urteil des SozG Würzburg vom 06.07.2010

SozG Würzburg: zahnärztliche behandlung, versorgung, klagebefugnis, zahnfehlstellung, krankheit, leistungsausschluss, terminologie, verfassungsrecht, analogie, behinderung

Sozialgericht Würzburg
Urteil vom 06.07.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Würzburg S 4 KR 217/09
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger einen Anspruch auf Kostenerstattung für eine kieferorthopädische
Behandlung hat.
Der 1990 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Am 30.03.2009 haben die Kieferorthopäden Dres.
R. einen kieferorthopädischen Behandlungsplan erstellt. Ausgehend von einer Nichtanlage der Zähne 25, 35 und 45
bei weiteren Erkrankungen (Williams-Beuren-Syndrom, operierter Aortenstenose, Zungenfehlfunktion) solle ein
Lückenschluss und Schließen des offenen Bisses erreicht werden. Die voraussichtlichen Gesamtkosten wurden mit
5.025,91 Euro angenommen. Dieser Behandlungsplan wurde am 03.04.2009 bei der Beklagten zur Genehmigung
eingereicht.
Mit Bescheid vom 15.04.2009 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab, da die kieferorthopädische Behandlung
von Personen, die bereits das 18. Lebensjahr vollendet haben, grundsätzlich nicht zum Leistungsumfang der
gesetzlichen Krankenversicherung gehöre; auch liege nicht der im Gesetz zugelassene Ausnahmefall vor.
Hiergegen legte der Betreuer des Klägers mit Schreiben vom 19.04.2009 Widerspruch ein. Er machte geltend, dass
der Kläger seit Geburt einen GdB von 100 aufweise, was durch die Diagnose eines Williams-Beuren-Syndroms
begründet sei. Für den Kläger sei eine Betreuung eingerichtet und es liege Pflegestufe II vor. In der Vergangenheit sei
wegen dieser Grunderkrankung eine kieferorthopädische Behandlung ärztlicherseits als nicht besonders
erfolgversprechend abgelehnt worden. Erst im Juni 2008 habe der Betreuer des Klägers Hinweise erhalten, dass eine
solche Behandlung – gerade auch wegen des fortgeschrittenen Alters des Klägers - nunmehr Sinn mache. Beigefügt
war ein Attest der Zahnärztin Dr. W.-L. vom 17.04.2009, in dem die dringende Notwendigkeit der Behandlung
unterstrichen wurde.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2009 den Widerspruch zurück: Der angefochtene Bescheid
sei nicht zu beanstanden, da die Beklagte durch die gesetzlichen Bestimmungen an einer Leistungsbewilligung
gehindert sei.
Daraufhin erhob der Kläger durch seine Bevollmächtigten am 25.06.2009 per Telefax Klage zum Sozialgericht
Würzburg. Es wurde im Weiteren geltend gemacht, dass hier eine besondere Situation vorliege, weil der Kläger als
Behinderter nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt kieferorthopädisch habe behandelt werden können, ohne dass
weitere Schäden an den Zähnen aufgetreten wären. Auch habe erst ein im Umgang mit Behinderten erfahrener
Kieferorthopäde gefunden werden müssen. Wegen der Dringlichkeit der jetzigen Durchführung sei mit der Behandlung
im September 2009 begonnen worden und es würden sich bereits erhebliche Erfolge zeigen.
Der Kläger beantragt, 1. Der Bescheid vom 15.04.2009 und der Widerspruchbescheid vom 15.06.2009 werden
aufgehoben. 2. Die Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung werden übernommen. 3. Die zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen Kosten und Auslagen werden erstattet.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akte der Beklagten Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht erhoben
(§§ 51, 54, 57, 87, 90 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Die Klage ist jedoch nicht begründet, weil der Kläger gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf diese Behandlung
hat.
Nach § 2 Abs. 2 S. 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) erhalten die gesetzlich Krankenversicherten die
Leistungen als Sachleistungen. Dass der Kläger mit der Behandlung bereits begonnen hat und somit eine
Sachleistung der Beklagten nicht mehr in Betracht kommt, lässt die Klagebefugnis aber nicht entfallen, da der Kläger
nach § 13 Abs. 3 S. 1 2. Alt. SGB V einen Anspruch auf Kostenerstattung haben würde, wenn die Beklagte die
Leistung (bereits vorher) zu Unrecht abgelehnt gehabt hätte.
§ 27 Abs. 1 S. 1 SGB V bestimmt, dass Versicherte einen Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn diese
notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder
Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. zahnärztliche Behandlung (§ 27 Abs. 1 S. 2
Nr. 2 SGB V). Der Umfang der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung wird in § 28 SGB V näher bestimmt. § 29
SGB V regelt dann die Details zur kieferorthopädischen Behandlung: Danach haben Versicherte Anspruch auf
kieferorthopädischen Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder
Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu
beeinträchtigen droht. Die objektiv überprüfbaren Indikationsgruppen werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss in
Richtlinien festgelegt (§ 29 Abs. 4 SGB V).
Diese Regelung des § 29 SGB V kommt jedoch nur zur Anwendung, wenn die zahnärztliche Behandlung nach § 28
SGB V grundsätzlich eröffnet ist.
§ 28 Abs. 2 S. 6 SGB V legt jedoch einschränkend fest, dass zur – beanspruchbaren - zahnärztlichen Behandlung
nicht die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten gehört, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr
bereits vollendet haben. Dies ist eine generelle Ausschlussregelung für einen bestimmten Personenkreis. Nachdem
der Kläger bereits zum Zeitpunkt der Leistungsbeantragung und ebenso zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns
offensichtlich das 18. Lebensjahr vollendet hatte, ist er von diesem generellen Leistungsausschluss betroffen.
Auch die Ausnahmeregelung des § 28 Abs. 2 S. 7 SGB V, wonach die Ausschlussregelung nicht für Versicherte mit
schweren Kieferanomalien gilt, wenn diese ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und
kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert, eröffnet im vorliegenden Fall keinen Leistungsanspruch für
den Kläger. Bei ihm ist nach dem Behandlungsplan keine derartig kombinierte Behandlung vorgesehen, sondern soll
ausschließlich eine kieferorthopädische Maßnahme durchgeführt werden. Somit ist ebenso offensichtlich, dass die
Behandlung des Klägers nicht unter diese Ausnahmevorschrift fällt. Daran hätte sich im übrigen auch dann nichts
geändert, wenn der Behandlungsplan zwar eine mit kieferchirurgischen Maßnahmen kombinierte Behandlung
vorgeschlagen hätte, diese jedoch nicht als erforderlich angesehen worden wäre.
Zwar ist die von der Klägerseite vorgetragene Begründung, dass beim Kläger im Hinblick auf seine Behinderung eine
kieferorthopädische Behandlung erst zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll durchgeführt werden konnte, durchaus
einleuchtend. Die vorliegende Gesetzeskonstruktion, die eine generelle Ausschlussregelung mit einer klar umrissen
Ausnahmeregelung verbindet, lässt eine erweiternde Analogie auf ähnlich gelagerte Fälle jedoch nicht zu. Bei der
kieferorthopädischen Behandlung von Erwachsenen ist vom Gesetzgeber ein Heranziehen der inhaltlichen
Notwendigkeit einer derartigen Behandlung – anders als in § 29 SGB V für Minderjährige - gerade nicht zum
maßgeblichen Kriterium gemacht worden. Ebenso kann aus Sicht des Gerichtes nicht damit argumentiert werden,
dass behinderte junge Menschen (das sind nach der Terminologie beispielsweise des SGB VIII - § 7 Abs. 1 Nr. 4 -
Personen bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres) in anderen Gesetzen Minderjährigen gleichgestellt sind; der
Gesetzgeber hätte eine solche Regelung ausdrücklich treffen müssen.
Das Gericht sieht sich auch nicht gehalten, den Rechtsstreit wegen Verletzung von Verfassungsrecht auszusetzen
und dies verfassungsgerichtlich überprüfen zu lassen. Nach der aktuellen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts werden im Krankenversicherungsrecht allgemein Regelungslücken des Gesetzes dann im
Wege der verfassungskonformen Ausgestaltung ergänzt, wenn lebensbedrohliche Erkrankungen betroffen sind (vgl.
z.B. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 06.12.2005, Az. 1 BvR 347/98). Dies ist hier nicht der Fall.
Dementsprechend waren die angefochtenen Bescheide der Beklagten nicht zu beanstanden und die Klage war
abzuweisen.
Aus § 193 SGG ergibt sich die Kostenfolge.