Urteil des SozG Ulm vom 09.03.2009

SozG Ulm (vernehmung von zeugen, antrag, kenntnisnahme, einnahme, ddr, sgg, zpo, vernehmung, durchführung, gegenstand)

SG Ulm Beschluß vom 9.3.2009, S 10 U 4214/08 A
Sozialgerichtliches Verfahren - Beweissicherungsverfahren gem § 76 SGG
Leitsätze
1. Die Einholung eines Urkundsbeweises im Beweissicherungsverfahren ist unzulässig.
2. Die Vernehmung eines Zeugen im Rahmen eines Beweissicherungsverfahrens setzt die Glaubhaftmachung,
dass der Zeugenbeweis zukünftig erschwert ist und/oder der Zeuge zukünftig nicht mehr erreichbar ist voraus.
3. Ein Beweissicherungsantrag setzt die Angabe der Tatsachen über die Beweis erhoben werden soll voraus.
4. Der Antrag auf Anordnung zur Vorlage bestimmter Unterlagen durch eine Behörde kann nicht Gegenstand eines
Beweissicherungsverfahrens sein, da es sich hierbei um einen Urkundsbeweis handelt.
Tenor
Der Antrag auf Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens wird verworfen.
Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt in der Hauptsache die Anerkennung der Erkrankung ihres verstorbenen Ehemannes
als Berufskrankheit gem. Nr. 92 BKVO DDR sowie eine hieraus resultierende Hinterbliebenenrente.
2
Der am … 1943 geborene Ehemann der Klägerin, A.G., verstarb am 28.06.1982 an den Folgen eines
hepatozellulären Karzinoms. Er war vom 03.09.1962 bis 28.06.1982 als Berufssoldat in der ehemaligen
Nationalen Volksarmee (NVA) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) beschäftigt.
3
Mit Schreiben vom 15.06.2007 beantragte die Antragstellerin bei der U., der Beklagten im
Hauptsacheverfahren, die Anerkennung der Erkrankung ihres Mannes als Berufskrankheit gem. Nr. 51 und Nr.
92 der BKVO DDR, da die Erkrankung ihres Mannes durch eine unzulässig hohe Strahlenbelastung während
des Wehrdienstes in der NVA verursacht worden sei . Mit Bescheid vom 24.09.2007 lehnte die Beklagte die
Anerkennung ab. Der Ehemann der Antragstellerin sei als Berufssoldat im Sonderversorgungssystem der NVA
versichert gewesen. Aus übergeleitetem Recht sei die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung nicht
herzuleiten. Nach dem gem. § 215 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) weitergeltenden § 1150
Abs. 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) - in der Fassung des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG)
vom 25.7.1991 - würden als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne der (bundesdeutschen)
gesetzlichen Unfallversicherung nur die Unfälle und Krankheiten gelten, die vor dem 1.1.1992 im Beitrittsgebiet
eingetreten sind und die nach dem dort gültig gewesenem Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der
Sozialversicherung waren.
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Die vier Sonderversorgungssysteme in der ehem. DDR in den Bereichen des Ministeriums des Inneren
(Deutsche Volkspolizei), der Zollverwaltung, des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung
(Versorgungsordnung der NVA) seien dadurch gekennzeichnet gewesen, dass sie jeweils eine eigenständige
Sicherung der einbezogenen Staatsbediensteten der ehem. DDR außerhalb der Sozialversicherung gewährt
hätten. Da es sich somit bei Dienstbeschädigungen aus den Sonderversorgungssystemen der ehem. DDR um
eigene Ansprüche unabhängig der Sozialversicherung der ehem. DDR handele, würden diese auch nicht nach
dem RÜG in die (bundesdeutsche) gesetzliche Unfallversicherung überführt.
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Ein Leistungsanspruch gegen die Beklagte bzw. einen nach § 1159 RVO zuständigen
Unfallversicherungsträger sei somit nicht gegeben. In diesem Kontext verweist die Beklagte auf die
Entscheidungen des Thüringer Landessozialgerichts, Urteil v. 28.08.1996, Az. L 2 U 73/96 und die
Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Urteile vom 10.05.1994, Az. 4 RA 49/93 und vom 29.09.1994, Az.
4 RA 7/94.
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Mit Schreiben vom 25.10.2007 legte die Antragstellerin Widerspruch gegen diesen Bescheid ein. Die Beklagte
widerspreche eklatant der Sach- und Rechtslage. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.05.2008 wies die U. den
Widerspruch der Antragstellerin als unbegründet zurück und griff zur Begründung auf die Ausführungen im
Ausgangsbescheid zurück.
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Mit ihrer am 03.06.08 zum Sozialgericht Ulm erhobenen Klage, verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren fort.
Nach erfolgter Akteneinsicht beantragt die Antragstellerin am 27.11.2008 die Durchführung eines
Beweissicherungsverfahrens gem. § 76 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und beantragt folgende Beweise zu
erheben:
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1. die Einnahme des Augenscheins der verfügbaren Dienstvorschriften zur
Troposphärenfunkstation R-412 anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des sachbezogenen
Inhaltes dieses verfahrensrelevanten Dokumentes erschwert ist.
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2. die Einnahme des Augenscheins der verfügbaren Dienstvorschriften zur
Troposphärenfunkstation R-122 anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des sachbezogenen
Inhaltes dieses verfahrensrelevanten Dokumentes erschwert ist.
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3. die Einnahme des Augenscheins der verfügbaren Dienstvorschriften zur
Kurzwellenfunkstation großer Leistung R-136 anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des
sachbezogenen Inhaltes dieses verfahrensrelevanten Dokumentes erschwert ist.
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4. die Einnahme des Augenscheins der verfügbaren Dienstvorschriften zur Satellitenfunkstation
R-440 anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des sachbezogenen Inhaltes dieses
verfahrensrelevanten Dokumentes erschwert ist.
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5. die Einnahme des Augenscheins der Strahlenschutzbauartprüfung sowie
Strahlenschutzbauartzulassung für die leistungsstarken Sender R-440, R-412, R122 und R-136
anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des sachbezogenen Inhaltes dieser
verfahrensrelevanten Dokumente erschwert ist.
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6. die Vernehmung des Dr.
Ministerium für Nationale Verteidigung der ehemaligen DDR und Autor des
Strahlenschutzlehrbriefes Nr.3 in stark überarbeiteter Auflage, Lehrbrief für die Ausbildung der
beruflich strahlenexponierten Personen in der NVA, Militärverlag der DDR, Berlin 1982
anzuordnen, weil verfahrensrelevante Sachverhalte festzustellen sind, deren Aufklärung für sie
durch die Beklagte erschwert wird.
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7. die Einnahme des Augenscheins der Ordnung über die militärische Schutzgüte —
Schutzgüteverordnung — vom 09.Oktober 1968 (AMBI Ministerium für Nationale Verteidigung
Teil I, Nr.39/68) anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des sachbezogenen Inhaltes dieses
verfahrensrelevanten Dokumentes erschwert ist.
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8. die Einnahme des Augenscheins der Technischen Stellungnahme in „Strahlenerkrankungen"
der Wehrbereichsverwaltung Ost vom 07.07.2004, Az.: II 7 — Az.: 47-40-15/30 in anonymisierter
Form anzuordnen, da für sie die Kenntnisnahme des sachbezogenen Inhaltes dieses
verfahrensrelevanten Dokumentes erschwert ist.
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9. die Einnahme des Augenscheins der Expositionsermittlung in Verdachtsfällen
strahlenbedingter Erkrankungen nach Ziffer 2402 Berufskrankheitenverordnung (BKV) vom
30.10.2001, Az.: 1b3-K-01-028375 in anonymisierter Form anzuordnen, da für sie die
Kenntnisnahme des sachbezogenen Inhaltes dieses verfahrensrelevanten Dokumentes
erschwert ist.
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10. die Einnahme des Augenscheins des Endberichtes zum Gutachten über „Gesundheitliches
Risiko beim Betrieb von Radareinrichtungen in der Bundeswehr" (vertraulich), Institut für
normale und pathologische Physiologie Universität
Kenntnisnahme des sachbezogenen Inhaltes dieses verfahrensrelevanten Dokumentes
erschwert ist.
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11. die Vernehmung des Leiters des Institutes für normale und pathologische Physiologie
Universität
verfahrensrelevante Sachverhalte festzustellen sind, deren Aufklärung für die Klägerin
erschwert ist.
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12. die Vorlage einer anonymisierten Übersicht durch die Beklagte anzuordnen, der die bisher
als Dienstbeschädigung bzw. Berufskrankheit anerkannter (malignen Lymphomerkrankungen
von NVA-Soldaten entnommen werden können. Es sind verfahrensrelevante Sachverhalte
festzustellen, deren Aufklärung für sie durch die Beklagte erschwert wird.
20 Zu den Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Verwaltungsakten und die Gerichtsakte Bezug
genommen.
II.
21 Der Antrag ist unzulässig. Die Antragstellerin bedient sich einerseits unzulässiger Beweismittel und macht
andererseits nicht glaubhaft, dass Beweismittel verloren gehen oder deren Benutzung erschwert wird.
22 1. Das erkennende Gericht war gem. § 76 Abs. 2 SGG für die Entscheidung über den Antrag auf Durchführung
eines Beweissicherungsverfahrens zuständig.
23 2. Gem. § 76 Abs. 1 SGG sind die Voraussetzungen für einen Antrag auf Beweissicherung:
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- das Gesuch eines Beteiligten gerichtet auf Beweiserhebung durch Augenscheinseinnahme und/oder
die Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen,
- die Besorgnis, dass ein Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird
und/oder
- die Feststellung des gegenwärtigen Zustands einer Person oder einer Sache soweit ein berechtigtes
Interesse an dieser Feststellung besteht.
25 Formal erfordert ein Antrag auf Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens gem. § 76 Abs. 3 i.V.m. § 487
Zivilprozessordnung (ZPO):
26
- die Bezeichnung des Gegners;
- die Bezeichnung der Tatsachen, über die Beweis erhoben werden soll;
- die Benennung der Zeugen oder die Bezeichnung der übrigen nach § 76 Abs. 1 SGG zulässigen
Beweismittel;
- die Glaubhaftmachung der Tatsachen, die die Zulässigkeit des Beweissicherungsverfahrens und die
Zuständigkeit des Gerichts begründen sollen.
27 a) Mit Schreiben vom 27.11.2008 stellte die Antragstellerin einen nicht fristgebundenen Antrag nach § 76 Abs.
1 SGG. Allerdings konnte sie trotz gerichtlichem Hinweis die übrigen Voraussetzungen zur Durchführung eines
Beweissicherungsverfahrens nicht glaubhaft machen. Grundsätzlich ist das selbständige Beweisverfahren in
seinem Umfang stets auf Beweiserhebung durch Augenscheinseinnahme und die Vernehmung von Zeugen
oder Sachverständigen beschränkt. Nicht möglich ist folglich die Einholung eines Urkundenbeweises; allerdings
kann die Herkunft oder Echtheit einer Urkunde Gegenstand eines Augenscheins oder einer Zeugen-
/Sachverständigenvernehmung und damit eines selbständigen Beweisverfahrens sein (Musielak, ZPO, § 485
Rn. 5). Insoweit sind die Beweisanträge Ziff. 1 bis 5 und 7 bis 10 unzulässig, da es sich bei den in diesen
bezeichneten Anträgen um die Erhebung von Urkundsbeweisen handelt und nicht wie die Antragstellerin meint
um einen Inaugenscheinnahme. Der Antragstellerin geht es um die Wiedergabe des Gedankeninhalts der
bezeichneten Dokumente und nicht um die gegenständliche Wahrnehmung dieser Dokumente, sodass von
einem Urkundsbeweis im Sinne der §§ 415 ZPO auszugehen ist. Eine Inaugenscheinnahme von Urkunden
bezieht sich lediglich auf deren gegenständliche Existenz unabhängig von ihrem gedanklichen Inhalt (vgl.
Zöller, ZPO, § 371 Rn. 2). Die Inaugenscheinnahme wäre also nur dann möglich, wenn die Echtheit oder die
Herkunft der Urkunde Beweisthema wäre. Dies ist von er Antragstellerin indes nicht vorgetragen worden.
28 b) Im Hinblick auf die Beweisanträge Ziff. 6 und 11, die die Vernehmung zweier Sachverständiger Zeugen zum
Gegenstand haben, konnte die Antragstellerin nicht glaubhaft machen, dass diese Beweismittel verlustig gehen
könnten oder deren „Benutzung“ erschwert wird, falls die Vernehmung der Zeugen nicht in einem der
Hauptsache vorgelagerten Beweissicherungsverfahren erfolgt. Als Beispiele für den drohenden Verlust eines
Beweismittels werden in der Literatur z.B. die schwere Erkrankung - richtiger müsste es heißen die Gefahr des
zeitnahen Ablebens - eines Zeugen genannt. Als Beispiel für Erschwernisse bei der Benutzung eines
Beweismittels wird ein längerer Auslandsaufenthalt eines Zeugen genannt (Krasney/Udsching, Handbuch des
sozialgerichtlichen Verfahrens, III. Rn. 171). Vergleichbare Fälle sind vorliegend weder vorgetragen oder gar
glaubhaft gemacht, noch ersichtlich.
29 c) Die Antragstellerin hat trotz gerichtlichem Hinweis die Tatsachen über die Beweis erhoben soll nicht
bezeichnet, sodass auch unter diesem Gesichtspunkt ihr Antrag unzulässig ist.
30 3. Der Beweisantrag Ziff. 12, der sich auf eine begehrte Anordnung zur Vorlage näher bezeichneter Unterlagen
durch die Beklagte bezieht, ist zwar ein grundsätzlich gem. § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 432 ZPO zulässiger
Beweisantrag, doch kann ein solcher Antrag nicht Gegenstand eines Beweissicherungsverfahrens sein. Denn
letztlich handelt es sich in den Fällen des § 432 ZPO wiederum um Urkundsbeweise, allerdings mit der
Besonderheit, dass der Beweisantritt nicht durch Vorlage der Urkunde selbst, sondern durch den Antrag die
Behörde oder den Beamten um die Mitteilung der Urkunde zu ersuchen, erfolgt. Wie oben unter 2. a) dargelegt
kann ein Urkundsbeweis jedoch nicht Gegenstand eines Beweissicherungsverfahrens sein, sodass auch der
Antrag Ziff. 12 unzulässig ist. Inwieweit der Regelung des § 432 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren
angesichts der § 119 SGG zu entnehmenden allgemeinen Verpflichtung von Behörden Urkunden und Akten
vorzulegen (vgl. Keller, in: Mayer-Ladewig, SGG, § 119 Rn. 1 ff.) überhaupt eine eigenständige Bedeutung
zukommt, musste somit nicht entschieden werden.