Urteil des SozG Stade vom 04.05.2010

SozG Stade: einkommen aus erwerbstätigkeit, krankengeld, aufnahme einer erwerbstätigkeit, arbeitsunfähigkeit, erwerbseinkommen, krankenkasse, behandlung, arbeitslosigkeit, operation, komplikationen

Sozialgericht Stade
Urteil vom 04.05.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 17 AS 455/09
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 3. Septem-ber 2008 in Gestalt des Änderungsbescheids vom
27. April 2009 und des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 2009 sowie des Bescheids vom 6. November 2008 in
Gestalt der Änderungsbescheide vom 19. März 2009 und 31. März 2009 und 27. April 2009 und des
Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 2009 verpflichtet, der Klägerin im Leistungszeitraum August 2008 bis April 2009
Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe unter Anwendung der gesetzlichen erwerbsfähigen Freibeträge des
SGB II auf das Krankengeldeinkommen der Klägerin zu gewähren. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der
Klägerin zu er-statten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin verfolgt mit der Klage das Ziel einer Berücksichtigung der im SGB II vorgesehenen
Erwerbstätigenfreibeträge in Bezug auf ein Krankengeldeinkommen.
Die Klägerin übt eine Erwerbstätigkeit als Pflegehelferin in Teilzeit aus und erzielt damit ein Einkommen von rund
600,00 EUR im Monat. Daneben bezieht sie aufstockend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II vom Beklagten. Aufgrund einer Operation, der sich die Klägerin am 24. Juli 2008 unterziehen musste, war sie
bis einschließlich zum 29. August 2008 krankgeschrieben. Sie nahm anschließend ihre Erwerbstätigkeit wieder auf,
musste jedoch aufgrund eintretender Komplikationen erneut operiert werden. Aus diesem Grunde war sie vom 23.
September 2008 bis zum 2. November 2008 sowie vom 17. November 2008 bis zum 29. Dezember 2008 erneut
arbeitsunfähig. Nach kurzer Erwerbstätigkeit traten noch einmal Komplikationen auf, die am 28. Januar 2009 eine
erneute Operation erforderlich machten. Die Klägerin war daraufhin bis zum 23. April 2009 erneut arbeitsunfähig und
krankgeschrieben.
Während der Arbeitsunfähigkeitszeiten bezog die Klägerin nach Ablauf der Lohnfortzahlung ab dem 27. August 2008
Krankengeld von ihrer Krankenkasse. Mit Schreiben vom 10. September 2008 teilte die Krankenkasse der Klägerin
mit, dass ihr aufgrund der Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum 27. August 2008 bis 29. August 2008 Krankengeld in
Höhe von 45,90 EUR netto gezahlt wurden. Mit Schreiben vom 4. November 2008 teilte die Krankenkasse mit, dass
für die Arbeitsunfähigkeitszeit ab dem 22. September 2008 für den Zeitraum 23. September 2008 bis zum 2.
November 2008 Krankengeld in Höhe von 612,00 EUR netto ausgezahlt wurde. Mit weiteren Schreiben vom 16. März
2009 bescheinigte die Krankenkasse der Klägerin, dass ihr ab dem 28. Januar 2009 laufend Krankengeld in Höhe von
17,50 EUR brutto täglich und 15,34 EUR netto täglich ausgezahlt werde.
Der Beklagte bewilligte der Klägerin für den vom Krankengeldbezug betroffenen Zeitraum ursprünglich mit Bescheid
vom 16. Juni 2008 für den Zeitraum Juli 2008 bis Dezember 2008 und mit Bescheid 6. November 2008 für den
Zeitraum Januar 2009 bis Juni 2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Aufgrund von
Veränderungen im Einkommen hob der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 16. Juni 2008 mit Bescheid vom 3.
September 2008 auf und setzte die Leistungen für die Monate Juli 2008 bis Dezember 2008 neu fest. Mit Bescheid
vom 27. April 2009 wurde der Bescheid vom 3. September 2008 wiederum teilweise aufgehoben und für den Zeitraum
August 2008 bis Dezember 2008 geändert, da der Beklagte nun das tatsächlich bezogene Krankengeld in die
Leistungsberechnung einbezog. Der Bescheid vom 6. November 2008 über den Bewilligungszeitraum Januar 2009 bis
Juni 2009 wurde vom Beklagten mit Bescheid vom 19. März 2009 zum 1. März 2009 wegen des Krankengeldbezugs
aufgehoben und insoweit ersetzt. Der Bescheid vom 19. März 2009 wurde wiederum durch einen Bescheid vom 31.
März 2009 für die Zeit ab 1. April 2009 aufgehoben und ersetzt, da sich Veränderungen in die Kosten der Unterkunft
ergeben hatten. Mit Bescheid vom 27. April 2009 hob der Beklagte auch den Bescheid vom 31. März 2009 teilweise
auf und änderte die Bewilligungslage für die Monate Januar bis März 2009. Hinter den Änderungen stand im
Wesentlichen die Anrechnung des Krankengeldes, das der Beklagte um die Versicherungspauschale bereinigte. Die
erwerbstätigen Freibeträge, die üblicherweise auf das Erwerbseinkommen der Klägerin angewendet wurden, fanden bei
der neuen Leistungsberechnung keine Berücksichtigung.
Die gegen die einzelnen Bescheide eingelegten Widersprüche der Klägerin wies der Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 2009 als unbegründet zurück. Am 6. Juli 2009 hat die Klägerin Klage erhoben.
Zur Begründung trägt sie vor, das Krankengeldeinkommen müsse so behandelt werden wie das Einkommen aus ihrer
Erwerbstätigkeit. Der Beklagte müsse die vorgesehenen Freibeträge auf Einkommen aus Erwerbstätigkeit auch auf
das Krankengeld anwenden.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 3. September 2008, vom 6. November 2008 und vom 31. März
2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Juni 2009 und des Änderungsbescheids vom 27. April 2009 zu
verpflichten, der Klägerin in den Zeiträumen des Krankengeldbezugs vom 27. und 28. August 2008, vom 22.
September 2008 bis 1. November 2008, vom 17. November 2008 bis zum 29. Dezember 2008 sowie vom 30. Januar
2009 bis zum 23. April 2009 weitere Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe mit der Maßgabe zu gewähren,
dass bei den erhaltenen Krankengeldzahlungen ein Freibetrag wegen Erwerbstätigkeit in gesetzlicher Höhe
Berücksichtigung findet.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, durch die Freibeträge in § 11 Abs 2 Satz 2 SGB II sowie den Freibetrag nach § 30 SGB II habe der
Gesetzgeber Erwerbstätigkeit privilegieren und einen Anreiz zur Aufnahme von Beschäftigungsverhältnisse schaffen
wollen. Der Bezug von Krankengeld stehe aber einer Erwerbstätigkeit nicht gleich, auch wenn das Krankengeld das
Erwerbseinkommen für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit ersetzen solle.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachver-halts wird auf die Gerichtsakte
und die Verwaltungsakte des Beklagten, die auch Ge-genstand der mündlichen Verhandlung am 4. Mai 2010 waren,
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die angegriffenen Bescheide des Beklagten, soweit sie den Bewilligungszeitraum August 2008 bis April 2009
umfassen, haben sich im Bezug auf die Behandlung des Kranken-geldeinkommens als rechtswidrig erwiesen, so dass
die Klägerin insoweit beschwert ist, § 54 Abs 2 SGG. Die Klägerin hat Anspruch auf höhere Leistungen nach dem
SGB II im genannten Zeitraum, da auch das tatsächlich bezogene Krankengeld um die erwerbstätigen Freibeträge
nach §§ 11 Abs 2, 30 SGB II zu vermindern ist.
Gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen mit bestimmten Ausnahmen Ein-nahmen in Geld oder
Geldeswert zu berücksichtigen. Gemäß § 11 Abs 2 Nr 6 SGB II ist für Erwerbstätige vom Einkommen ein Betrag
nach § 30 SGB II abzusetzen. Gemäß § 11 Abs 2 Satz 2 SGB II ist bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die
erwerbstätig sind, anstel-le der Beträge nach Satz 1 Nr 3 bis 5 ein Betrag von insgesamt 100,00 EUR monatlich
abzusetzen. Gemäß § 30 Satz 1 SGB II ist bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, die erwerbstätig sind, von dem
monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit ein weiterer Betrag abzusetzen. In § 30 Satz 2 SGB II wird die Höhe
dieses Betrags näher konkretisiert.
Gemäß § 44 Abs 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn die Krankheit sie arbeitsunfähig
macht oder sie auf Kosten der Krankenkasse stationär in einem Krankenhaus, einer Vorsorge- oder
Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. Der Versicherungspflicht unterfallen gemäß § 5 Abs 1 Nr 1, 2 und 2a
SGB V nicht nur Arbeiter und Angestellte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, sondern auch Perso-nen in der
Zeit, für die sie Arbeitslosengeld oder Unterhaltsgeld nach dem Dritten Buch beziehen oder in der Zeit, für die sie
Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch beziehen, soweit sie nicht familienversichert sind. Gemäß § 47 Abs 1
SGB V beträgt das Krankengeld 70 vom Hundert des erzielten regel-mäßigen Arbeitsentgelts und
Arbeitseinkommens, soweit sich der Beitragsberechnung unterliegt. Gemäß § 47 b Abs 1 SGB V wird das
Krankengeld für Versicherte nach § 5 Abs 1 Nr 2 SGB V in Höhe des Betrags des Arbeitslosengeldes oder des
Unterhaltsgeldes gewährt, den der Versicherte zuletzt bezogen hat.
Unter Berücksichtigung der dargestellten gesetzlichen Vorgaben ist das Krankengeld, das die Klägerin nach Ablauf
der Lohnfortzahlung während ihrer Arbeitunfähigkeitszeiten bezogen hat, entgegen der Auffassung des Beklagten bei
der Leistungsberechnung nach dem SGB II wie ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit zu behandeln. In der Folge
müssen die Freibetragsregelungen des § 11 Abs 2 iVm § 30 SGB II zur Anwendung kommen.
Nach Überzeugung des erkennenden Gerichts ist für die Behandlung des Krankengeldes im Rahmen des § 11 SGB II
maßgeblich, ob die der Krankengeldzahlung zugrundelie-gende Arbeitsunfähigkeit während einer Zeit der
Erwerbstätigkeit oder aber bei beste-hender Arbeitslosigkeit eintritt. Zwar gilt das Krankengeld grundsätzlich als
Lohnersatz. Für das Gericht besteht jedoch ein entscheidender qualitativer Unterschied, ob der Bezieher von
Krankengeld vor und nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit tatsächlich eine Erwerbstätigkeit mit Lohnerzie-lung
nachgeht, oder ob er aufgrund von Arbeitslosigkeit kein Erwerbseinkommen erzielt. Demnach kommt es im jeweiligen
Einzelfall darauf an, ob der betroffene Krankengeldbe-zieher Erwerbseinkommen erzielt hätte, wenn nicht die
Arbeitsunfähigkeit eingetreten wäre. Für arbeitslose Hilfebedürftige ist dies zu verneinen. Für Hilfebedürftige, die Leis-
tungen nach dem SGB II bei bestehender Erwerbstätigkeit aufstockend beziehen, ist dies jedoch anders zu bewerten.
In diesem Fall tritt das Krankengeld tatsächlich an die Stelle des ansonsten bezogenen beitragspflichtigen
Einkommens und muss wegen seines Cha-rakters auch wie Erwerbseinkommen behandelt werden, dh auch im
Rahmen des § 11 SGB II um die vorgesehenen Freibeträge bei Erwerbstätigkeit bereinigt werden.
Wenn das Krankengeld, das als echte Lohnersatzleistung gezahlt wird, nicht wie das we-gen Arbeitsunfähigkeit
ersetzte Erwerbseinkommen behandelt würde, kann dies bei den Leistungsempfänger nach dem SGB II, die
Leistungen als Aufstocker bei bestehender Erwerbstätigkeit beziehen, zu dem Ergebnis führen, dass das
Arbeitslosengeld II wäh-rend des Krankengeldbezugs niedriger ausfällt als bei Ausübung der Erwerbstätigkeit, obwohl
zugleich auch das Krankengeld niedriger ist als der sonst erzielte Lohn. Denn wie im Falle der Klägerin zu sehen,
kann im Einzelfall ohne Abzug der Freibeträge vom Kran-kengeld im Ergebnis ein höheres anzurechnendes
Einkommen verbleiben und damit eine niedrigere Leistung als bei Ansatz des regulären Erwerbseinkommens und dem
Abzug der Erwerbstätigenfreibeträge.
Die Anknüpfung an eine tatsächlich bestehende Erwerbstätigkeit, die nur durch Arbeits-unfähigkeit und
Krankengeldbezug unterbrochen ist, wird in der Rechtssprechung auch in dem vergleichbaren Fall des Bezugs von
Insolvenzgeld vorgenommen, das bei allerdings fortbestehender Arbeitstätigkeit an die Stelle des normalen
Arbeitslohnes tritt (vgl BSG, Urteil vom 13. Mai 2009 - B 4 AS 29/08 R -). Nach Auffassung des Gerichts lässt sich
aus der Rechtssprechung zum Insolvenzgeld der Grundgedanke entnehmen und auf die Krankengeldfälle übertragen,
dass eine Verknüpfung des Ersatzeinkommens mit tatsäch-licher Erwerbstätigkeit für die leistungsrechtliche
Behandlung des Einkommens ausschlaggebend ist.
Die Argumentation des Beklagten, dass eine Behandlung des Krankengeldes als Er-werbseinkommen mit
entsprechender Berücksichtigung der Freibeträge bei Einkommen aus Erwerbstätigkeit nach dem Willen des
Gesetzgebers nicht in Betracht komme, da dieser eine Anreizfunktion zur Ausübung von Erwerbstätigkeit schaffen
wollte, führt zu keiner anderen Beurteilung. Gerade der Fall der Klägerin macht deutlich, dass die vom Beklagten
vertretene restriktive Auffassung unbefriedigend ist - gerade wegen der vom Gesetzgeber beabsichtigten
Anreizfunktion. Denn die Klägerin hat ja bereits eine Arbeits-stelle und ist erwerbstätig. Der vorübergehende Wegfall
der Lohnzahlung und deren Er-satz durch das Krankengeld beruht nicht auf einer Willensentscheidung der Klägerin,
sondern auf der gesundheitlichen Situation bzw der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit. Die Anreizfunktion, die durch
die Freibeträge bei Erwerbstätigkeit geschaffen werden soll, hat demnach entweder bereits gegriffen, da die Klägerin
einer Erwerbstätigkeit nachgeht, oder sie läuft praktisch ins Leere, denn während der Zeit des Krankengeldbezugs auf-
grund von Arbeitsunfähigkeit kann ein Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit schwerlich wirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Berufung war auf Antrag des Beklagten ausdrücklich zuzulassen. Denn nach über-schlägiger Berechnung ist
anzunehmen, dass das Interesse der Klägerin, dh die zu erwartende Mehrleistung im betroffenen Zeitraum, den
Berufungsstreitwert von 750,00 EUR gemäß § 144 Abs 1 Nr 1 SGG nicht erreicht. Die Sache besitzt jedoch
grundsätzli-che Bedeutung im Sinne des § 144 Abs 2 Nr 1 SGG. Die Frage der Behandlung des Krankengeldes im
Rahmen der Leistungsberechnung in Bezug auf die Anwendung der Erwerbstätigenfreibeträge gemäß §§ 11 Abs 2, 30
SGB II war - soweit ersichtlich - noch nicht Gegenstand sozialgerichtlicher Rechtsprechung. Das erkennende Gericht
konnte lediglich auf einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 22. April 2009 zurückgreifen, in dem es um die
Freibeträge bei Krankengeldbezug im Rahmen der Gewährung von Prozesskostenhilfe ging (vgl BAG, Beschluss vom
22. April 2009 - 3 AZB 90/08 -). Der Beantwortung dieser Rechtsfrage kommt eine Bedeutung zu, die über den hier zu
entscheidenden Einzelfall hinausgeht und eine unbestimmte Vielzahl von Leistungsfällen nach dem SGB II betreffen
kann, denn es ist nicht selten, dass Leis-tungsempfänger einer Erwerbstätigkeit nachgehen und aufstockend
Arbeitslosengeld II beziehen. Für jeden dieser Leistungsempfänger kann sich bei Eintritt von Arbeitsunfähig-keit
dieselbe Situation ergeben wie im Falle der Klägerin. Dies macht eine obergerichtliche Klärung der Streitfrage sinnvoll
und notwendig.