Urteil des SozG Stade vom 15.02.2010

SozG Stade: nachzahlung, verwaltungsakt, leistungsbezug, erlass, sozialleistung, aufenthaltserlaubnis, rücknahme, rechtsschutzgarantie, surrogat, belastung

Sozialgericht Stade
Urteil vom 15.02.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 33 AY 33/06
1.) Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 23. November 2009 verpflichtet, den Klägern Leis-
tungen gemäß § 2 AsylbLG unter Anrechnung bereits gewährter Leistungen gemäß § 3 AsylbLG auszuzah-len. Im
Übrigen wird die Klage abgewiesen. 2.) Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand:
Die Kläger begehren die Auszahlung von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG durch den Beklagten.
Die Kläger stammen aus dem Kosovo und sind Angehörige der Volksgruppe der Roma. Sie reisten 1991 ein und im
gleichen Jahr wieder aus. Nach der zweiten Einreise im Jahr 1992 wurden der Asylantrag und die Folgeanträge
abgelehnt. Im Jahr 2000 erfolgte der Umzug in den Zuständigkeitsbezirk des Beklagten. Im Anschluss an den Bezug
von Leis-tungen gemäß § 3 AsylbLG über 36 Monate erhielten die Kläger bis zum 30. November 2005 Leistungen
gemäß § 2 AsylbLG. Zum 1. Dezember 2005 wurde die Leistungsge-währung wieder auf Leistungen gemäß § 3
AsylbLG umgestellt. Anlass hierfür war die rechtskräftige Ablehnung des Asylantrages. Im Bescheid zur
Leistungseinstellung vom 17. November 2005 wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 2 AsylbLG zwar
grundsätzlich vorlägen, aber eine selbstverschuldete Passlosigkeit gegeben sei.
Mit Bescheid vom 4. Januar 2006 wurden den Klägern Leistungen gemäß § 3 AsylbLG für den Monat Januar 2006
gewährt. Hiergegen erhoben die Kläger Widerspruch am 20. Januar 2006, der mit Widerspruchsbescheid vom 7. Juni
2006 zurückgewiesen wurde. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Kläger sich zwar mehr als 36 Monate
Leistungen gemäß § 3 AsylbLG bezogen hätten, aber ein rechtsmissbräuchli-ches Verhalten vorliege. Sie seien nicht
freiwillig ausgereist, obwohl sie diese Verpflichtung treffe.
Im Mai 2006 wurde ein weiterer Sohn der Klägerin zu 1.) geboren, dessen deutsche Sta-atsangehörigkeit im Oktober
2006 festgestellt wurde. Daraufhin wurden den Klägern ab 1. November 2006 Leistungen gemäß § 2 AsylbLG gewährt.
Im Jahr 2007 erhielten die Kläger eine Aufenthaltserlaubnis, woraufhin sie in den Leistungsbezug nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wechselten. Bis zum heutigen Tage beziehen die Kläger ohne Unterbrechungen
Leistungen nach dem SGB II.
Mit Änderungsbescheid vom 23. November 2009 wurden den Klägern für den Zeitraum 1. Dezember 2005 bis 31.
Oktober 2006 dem Grunde nach Leistungen gemäß § 2 AsylbLG gewährt. Der Beklagte führte weiterhin aus, dass
eine Nachzahlung der Differenz zwischen den bereits gewährten Leistungen gemäß § 3 AsylbLG und den Leistungen
gemäß § 2 AsylbLG für den Zeitraum nicht erfolgen könne. Der Aktualitätsgrundsatz, der in der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts verankert sei, erlaube eine Leistungsnachzah-lung nur, wenn ein aktuell bestehender Bedarf
noch immer nachgewiesen werden könne. Dies sei nicht der Fall.
Gegen den Bescheid vom 4. Januar 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 2006 erhoben die
Kläger Klage zu dem Sozialgericht Stade mit Schriftsatz vom 10. Juli 2006.
Sie sind der Auffassung, ihnen stünde für den Zeitraum eine Nachzahlung von Leistungen zu. Der
Aktualitätsgrundsatz führe vorliegend nicht dazu, dass eine Nachzahlung nicht vorzunehmen sei.
Die Kläger beantragen,
ihnen Leistungen gemäß § 2 AsylbLG auszuzahlen und diesen Betrag gemäß § 44 Abs 1 SGB I zu verzinsen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, der Charakter der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsge-setz lasse es nicht zu, eine
Nachzahlung für bereits vergangene Bedarfe vorzunehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die
Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Ge-genstand der Entscheidungsfindung
geworden sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Hinsichtlich des Haupt-anspruches auf Zahlungen
von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG obsiegen die Kläger.
Streitiger Zeitraum ist der 1. Dezember 2005 bis zum 31. Oktober 2006. Der Änderungs-bescheid des Beklagten vom
23. November 2009 ist gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des vorliegenden Verfahrens geworden,
da er unter anderem auch den bereits angegriffenen Bescheid für den Monat Januar 2006 aufhebt.
Der Anspruch der Klägerin folgt aus § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X. Danach sind Sozialleis-tungen längstens für einen
Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme zu erbrin-gen, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die
Vergangenheit aufgehoben wird. Die Rücknahme des Verwaltungsaktes bestimmt sich vorliegend nach § 44 Abs 1
Satz 1 SGB X. Demgemäß ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die
Vergangenheit zurückzunehmen, sobald sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht
unrichtig angewandt worden ist und des-halb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die
Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X liegen vor. Insbesondere sind die Voraussetzungen des
Tatbestandsmerkmales "soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht ( ) worden sind" erfüllt. Dies ist der
Fall, wenn sich der Verwaltungsakt dem Gegenstand nach auf eine Sozialleistung bezogen hat, für deren Versagung
ursächlich war und dass die Ver-sagung der Sozialleistung schließlich noch zum Zeitpunkt der Überprüfung des
Verwal-tungsaktes im Widerspruch zu materiellen Rechtslage steht (Schütze, in von Wulfen, SGB X, 6. Auflage 2009
§ 44 Rdn 13). Auch zum Zeitpunkt der behördlichen Rücknah-meentscheidung lag in der ursprünglichen Versagung
der Leistungen gemäß § 2 AsylbLG ein Widerspruch zur materiellen Rechtslage.
Die Zahlungspflicht des Beklagten gemäß § 44 Abs. 4 SGB X wird nicht durch den Aktua-litätsgrundsatz
ausschlossen, der im Grundsatz besagt, dass eine Leistungspflicht der Sozialhilfeträger für vergangene Zeiträume
nicht besteht. Die Entscheidungen des Bun-dessozialgerichts zum Asylbewerberleistungsrecht vom 17. Juni 2008
sind nicht geeignet, die gegenteilige Auffassung des Beklagten zu tragen.
Das BSG hat in den Entscheidungen festgehalten, dass bei der Bedarfsberechnung nach dem Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu beachten sei, dass gegebenenfalls Bedarfe, die durch das SGB XII hätten gedeckt
werden müssen, mittlerweile entfallen sein könnten (Urteil vom 17. Juni 2008, Az: B 8 AY 5/07 R, ähnlich in den
Entscheidun-gen vom gleichen Tage zu den Aktenzeichen B 8/9b AY 1/07 R Rdn 19, B 8 AY 9/09 R Rdn 19, B 8 AY
11/07 R Rdn 15, B 8 AY 12/07 R Rdn 16, sowie B 8 AY 13/07 R Rdn 16). Die Ausführungen des BSG sind entgegen
der Auffassung des Beklagten nicht dahinge-hend zu verstehen, dass eine Leistungspflicht für die Vergangenheit nur
dann bejaht werden kann, wenn der Anspruchsteller einen noch immer bestehenden konkreten Be-darf nachweisen
kann. Bereits die Einschränkung durch das Wort "gegebenenfalls" und die Verwendung des Konjunktivs weisen darauf
hin, dass eine derart absolute Aussage über die Anwendung des Aktualitätsgrundsatzes nicht beabsichtigt war.
Vielmehr hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 29. September 2009 (B 8 SO 16/08 R) die Vorgaben zur
Anwendung des Aktualitätsgrundsatzes konkretisiert. Zwar handelt es sich hierbei um eine Entscheidung, die zum
Sozialhilferecht ergangen ist, das erkennende Gericht legt die Grundsätze jedoch auch für das
Asylbewerberleistungsrecht zugrunde. Die Charaktere von Sozialhilferecht und Asylbewerberleistungsrecht erschei-
nen hinsichtlich der Grundsicherungsfunktion jedenfalls in diesem Zusammenhang ver-gleichbar. Dem entsprechend
hat der 8. Senat, der auch für das Asylbewerberleistungs-recht zuständig ist, in der Entscheidung vom 29. September
2009 als Begründung seiner Auffassung maßgeblich angeführt, dass auch § 9 Abs. 3 AsylbLG für den Bereich des
Asylbewerberleistungsrechts zeige, dass über § 37 SGB I hinaus kein normatives Struk-turprinzip - "keine Leistungen
für die Vergangenheit; Bedarfsdeckungsgrundsatz; Aktuali-tätsprinzip" existiere, das den Regelungen des § 44 SGB X
vorgehe (aaO, Rn. 11).
Das BSG hat in der zitierten Entscheidung festgehalten, dass bei fortdauernder Bedürf-tigkeit, dh bis zur gerichtlichen
Entscheidung andauerndem Bezug von Leistungen des SGB XII oder des SGB II pauschalierte Leistungen wie der
Regelsatz nachzuzahlen sind. In diesem Fall dürfe der Sozialleistungsträger bei rechtswidriger Leistungsablehnung
nicht dadurch entlastet werden, dass der Bedarf anderweitig gedeckt wurde. Die Sozialhilfe könne ihren Zweck noch
erfüllen, weil an die Stelle des ursprünglichen Bedarfs eine vergleichbare Belastung als Surrogat getreten sei.
Das Gericht hält dieses Verständnis des Aktualitätsgrundsatzes für überzeugend. Gegen die Anwendung des
Aktualitätsgrundsatzes durch den Beklagten spricht darüber hinaus folgende Erwägung, die sich aus den
Besonderheiten des vorliegenden Falles ergibt. Zu der Problematik der Anwendung des § 44 SGB X auf
bestandskräftige Bescheide, deren Überprüfung Gegenstand der Entscheidung des BSG vom 29. September 2009 (B
8 SO 16/08 R) waren, tritt vorliegend noch der Umstand, dass der Beklagte im Bescheid vom 23. November 2009
unter anderem auch Bescheide gemäß § 44 SGB X aufhebt, die noch nicht bestandskräftig geworden sind. Dies
betrifft jedenfalls den ursprünglichen Ge-genstand des Klageverfahrens, den Bescheid für den Monat Januar 2006 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 2006 (vgl zur Einbeziehung des gesamten Zeit-raumes bis zum
Erlass des Widerspruchsbescheides BSG vom 17. Juni 2008, B 8 AY 11/07 R, Rn 10). Der Beklagte hat durch den
Änderungsbescheid vom 23. November 2009 auch diese nicht bestandskräftigen Bescheide aufgehoben. In der
Konsequenz der Auffassung des Beklagten zur Anwendung des Aktualitätsgrundsatzes könnte jegliche Klage gegen
Leistungsbescheide nur dann zu einer Nachzahlung führen, wenn sich ein Bescheid als rechtswidrig erweist und der
Kläger zusätzlich geltend machen kann, dass für den streitigen Zeitraum noch ein ungedeckter Bedarf besteht. Dies
lässt sich zur Überzeugung des Gerichts weder mit dem Wortlaut des Asylbewerberleistungsrechts (hier: des § 2
AsylbLG) noch mit der Rechtsschutzgarantie des Artikels 19 Abs 4 Grund-gesetz vereinbaren.
Die Voraussetzung für eine Nachzahlung im Rahmen des § 44 SGB X im Sinne der neueren Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts im Urteil vom 29. September 2009 (B 8 SO 16/08 R) sind vorliegend erfüllt. Nach telefonischer
Auskunft der ARGE I. gegenüber dem Gericht haben die Kläger seit Erteilung der Aufenthaltserlaubnis Anfang 2007
Leistungen nach dem SGB II bezogen und sind auch nicht zwischenzeitlich aus dem Leistungsbezug ausgeschieden.
Die geltend gemachten Zinsen waren nicht zuzusprechen. Zur Überzeugung des Ge-richts gibt es keine
Rechtsgrundlage, die den Klageanspruch insoweit trägt. § 44 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) ist vorliegend
nicht anwendbar. Die Regelung enthält eine abschließende Anspruchsgrundlage für die Verzinsung von Ansprüchen
auf Geld-leistungen. Die Vorschrift ist jedoch nur auf solche Geldleistungen anwendbar, die sich aus einem
besonderen Teil des Sozialgesetzbuches oder einem Gesetz ergeben, das in § 68 SGB I aufgeführt ist. Das AsylbLG
gehört nicht dazu (vgl SG Aachen vom 29. Ja-nuar 2008, S 20 AY 2/07). Auch eine Anwendung der allgemeinen
Bestimmung der §§ 288, 291 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) scheidet vorliegend aus. Leistungsempfän-ger nach
dem AsylbLG können zinsrechtlich nicht besser gestellt werden als andere Sozialleistungsempfänger.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass gemäß § 4 Abs 1 ZPO Zinsen bei der
Wertberechnung unberücksichtigt bleiben, wenn sie als Nebenforderung geltend gemacht werden.