Urteil des SozG Stade vom 20.04.2006

SozG Stade: gleichheit im unrecht, eltern, wohnung, allgemeines verwaltungsrecht, ausbildung, landwirtschaft, ausnahme, fahrrad, betrug, wiederholung

Sozialgericht Stade
Urteil vom 20.04.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 6 AL 336/03
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) für eine ab dem 21. Juli
2003 begonnene Ausbildung.
Der am 22. Januar 1987 geborene Kläger beantragte am 4. Juli 2003 die Gewährung von BAB für eine Ausbildung
zum Landwirt. Das Ausbildungsverhältnis begann am 21. Juli 2003 und endete mit dem 20. Juli 2004. Die monatliche
Ausbildungsvergütung betrug 526,00 EUR brutto zuzüglich 50,00 EUR Weihnachtsgeld im Dezember 2003 sowie
231,00 EUR Urlaubsgeld im Juli 2004. Daneben erhielt der Kläger als Sachbezüge Unterkunft/Wohnung mit voller
Verpflegung an sieben Tagen im Wert von 328,66 EUR; die Miete für das vom Kläger im Ausbildungsbetrieb
gemietete Zimmer betrug einschließlich der Nebenkosten 132,76 EUR im Monat. Der Ausbildungsbetrieb des Klägers
befand sich in H., I. Straße 3. Die Eltern des Klägers, die ebenfalls einen landwirtschaftlichen Betrieb betreiben,
wohnen in H., J. Straße 7 in etwa 4 km Entfernung zu dem Ausbildungsbetrieb.
Mit Bescheid vom 20. August 2003 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf BAB ab. Hiergegen erhob der
Kläger mit Schreiben vom 31. August 2003, eingegangen bei der Beklagten am 4. September 2003, Widerspruch.
Seinen Widerspruch begründete der Kläger im Wesentlichen damit, dass in seiner Berufsschulklasse andere
Mitschüler BAB erhalten hätten, obwohl diese ebenfalls noch keine 18 Jahre alt seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 5. November 2003 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet
zurück. Sie begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der Kläger das 18. Lebensjahr noch nicht
vollendet habe. Ferner lägen Gründe, die dagegen sprächen, den Kläger auf die elterliche Wohnung zu verweisen, hier
nicht vor.
Am 27. November 2003 hat der Kläger Klage erhoben, mit der er die Gewährung von BAB weiter verfolgt. Zur
Begründung trägt der Kläger ergänzend vor, dass er den üblichen Gepflogenheiten und entsprechend seiner
Verpflichtungen auf dem Ausbildungsbetrieb gewohnt habe und dies auch zwingend erforderlich gewesen sei, weil in
der Landwirtschaft eine geregelte Arbeitszeit nicht bestehe und eine stetige Präsenz aufgrund der Tierbestände
erforderlich sei. Das Gesetz weise hier eine Lücke auf, denn der Gesetzgeber habe nicht erkannt, dass es in
verschiedenen Branchen Besonderheiten gebe, die den Auszubildenden dazu zwängen, nicht im elterlichen Hause zu
wohnen. Abgesehen davon könne die Entfernung von rund 4 km nicht in kurzer Zeit mit dem Fahrrad überwunden
werden. Im Übrigen weigere sich der Ausbildungsbetrieb, es dem Kläger zu gestatten, zu Hause zu wohnen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 20. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. November 2003
abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Berufsausbildungsbeihilfe dem Grunde nach zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig und verweist darauf, dass die vom Kläger benannten Fälle
nicht mit seinem vergleichbar seien, weil in diesen Fällen die jeweilige Ausbildungsstätte von der Wohnung der Eltern
oder eines Elternteils nicht in angemessener Zeit erreicht werden könne. Im Übrigen seien für die Beschäftigung von
Auszubildenden unter 18 Jahren die Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) zu beachten, wonach
Jugendliche über 16 Jahren in der Landwirtschaft nur entweder ab 5:00 Uhr oder bis 21:00 Uhr beschäftigt werden
dürften (§ 14 Abs 2 JArbSchG).
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der Verwaltungsakte
Bezug genommen. Die den Kläger betreffende Leistungsakte (Kunden-Nr. K.) lag vor und ist Gegenstand der
Verhandlung und der Entscheidung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. November 2005
ist zu Recht ergangen. Der Kläger ist durch die angefochtene Verwaltungsentscheidung nicht beschwert iS des § 54
Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Dem Kläger steht ein Anspruch auf BAB nicht zu. Die Leistungsvoraussetzungen
zu deren Gewährung liegen nicht vor. Im Einzelnen:
1. Nach § 64 Abs 1 S 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) wird der Auszubildende bei einer beruflichen
Ausbildung nur gefördert, wenn er außerhalb des Haushaltes der Eltern oder eines Elternteils wohnt und die
Ausbildungsstätte von der Wohnung der Eltern oder eines Elternteils aus nicht in angemessener Zeit erreichen kann.
Beide Voraussetzungen müssen kumulativ gegeben sein. Dies ist beim Kläger nicht der Fall. Zwar hat der Kläger
tatsächlich außerhalb des Haushaltes seiner Eltern gewohnt. Einem Anspruch des Klägers steht jedoch der Umstand
entgegen, dass die Ausbildungsstätte in der I. Straße 3 in H. von der Wohnung der Eltern aus (J. Straße 7 in H.) bei
einer Wegstrecke von ca 4 km (laut Routenplaner 3,6 km) von ihm in angemessener Zeit erreicht werden konnte.
Was unter angemessener Zeit zur Erreichbarkeit der Ausbildungsstätte von der elterlichen Wohnung zu verstehen ist,
definiert § 64 SGB III nicht. Ein Anhaltspunkt bietet jedoch die Regelung für Arbeitslose über zumutbare Wegstrecken
für das Erreichen des Arbeitsplatzes nach § 121 Abs 4 SGB III im Sinne einer Höchstgrenze, da der
Regelungszusammenhang des § 64 SGB III im Gegensatz zu § 121 SGB III nur minderjährige Auszubildende erfasst.
Maßgeblich für die Frage der Angemessenheit sind im Übrigen die Verhältnisse des Einzelfalles. Nach der in diesem
Sinne als Höchstgrenze zu verstehenden Regelung gilt ein zeitlicher Aufwand bis zu 2,5 Stunden Hin- und Rückweg,
bei täglicher Arbeitszeit unter 6 Stunden eine Pendelzeit von bis zu insgesamt 2 Stunden als zumutbar. Der Kläger,
der den im selben Ort befindlichen Ausbildungsbetrieb bei einer Strecke von ca 4 km mit dem Fahrrad in etwa 20 bis
30 Minuten erreichen kann, erfüllt damit nicht die erforderliche sonstige persönliche Voraussetzung nach § 64 Abs 1 S
1 Nr 2 SGB III, denn er kann die Ausbildungsstätte in angemessener Zeit von der Wohnung seiner Eltern aus
erreichen. Ungeachtet der tatsächlichen Wohnverhältnisse unterstellt § 64 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB III in diesem Fall die
fiktive Wohnung bei den Eltern, wenn der Auszubildende aus den gesetzlich nicht gerechtfertigten Gründen des § 64
Abs 1 S 2 SGB III von der Möglichkeit, bei den Eltern zu wohnen, tatsächlich keinen Gebrauch macht.
2. Der Kläger kann sich auch nicht auf eine Ausnahme von der Voraussetzung des § 64 Abs 1 S 1 Nr 2 SGB III
berufen. Die Ausnahmeregelung des § 64 Abs 1 S 2 SGB III liegt hier nicht vor. Danach besteht kein
Förderungsausschluss für Auszubildende, wie dem Kläger, die nicht bei den Eltern wohnen, obwohl sie von deren
Wohnung aus die Ausbildungsstätte in angemessener Zeit erreichen könnten. Der zum Zeitpunkt der Ausbildung noch
minderjährige Kläger erfüllt keine der in § 64 S 2 Nrn 1 bis 4 SGB III abschließend benannten Ausnahmen.
3. Entgegen der Ansicht des Klägers kann hier zugunsten der von ihm geschilderten Besonderheiten in der
Landwirtschaft keine weitere Ausnahme für diesen gesetzlich nicht geregelten Fall angenommen werden. Zum Einen
ist der Katalog des § 64 Abs 1 S 2 SGB III von abschließender Natur (vgl Hennig in Eicher/Schlegel, SGB III § 64
Rdn 13). Diese abschließenden Ausnahmevorschriften können nicht um weitere Ausnahmetatbestände erweitert
werden. Zum Anderen ist diese Lücke des Gesetzes nicht planwidrig. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass es
Ausnahmen von der Regelung in § 64 S 1 Nr 2 SGB III über den Förderungsausschluss bei fiktiver Erreichbarkeit des
Arbeitsplatzes von der elterlichen Wohnung aus, in der der Auszubildende nicht wohnt, geben soll. Aber die den
Kläger betreffende Fallgestaltung hat der Gesetzgeber insoweit nicht für schützenswert erachtet und es nicht für
gerechtfertigt angesehen, die durch auswärtiges Wohnen bedingten Kosten in einem solchen Fall durch Mittel der
Ausbildungsförderung abzudecken.
4. Schließlich beruft sich der Kläger vergeblich darauf, dass andere seiner Mitschüler BAB erhalten haben. Dies
verpflichtet die Beklagte nicht, entsprechende Leistungen auch dem Kläger zu gewähren. Wie dargelegt darf die
Beklagte entsprechende Leistungen nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen des § 64 SGB III erbringen. Ob
diesbezüglich die von dem Kläger angeführten Beispielsfälle anders zu beurteilen sind, oder ob die Beklagte evtl in
diesen anderen Fällen die vorstehend erläuterten rechtlichen Voraussetzungen verkannt haben könnte, kann im
vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben. Jedenfalls kann der Kläger daraus nichts zu seinen Gunsten
ableiten. Insbesondere sieht die Rechtsordnung entsprechend dem Grundsatz "keine Gleichheit im Unrecht" keine
Ansprüche auf eine Wiederholung etwaiger Rechtsanwendungsfehler vor. Art 3 Abs 1 Grundgesetz gewährt
niemanden einen Anspruch auf Fehlerwiederholung, auf Gleichheit im Unrecht (vgl BVerfG, GRUR 2001, 266;
BVerfGE 92, 153, 157; Ossenbühl in Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Auflage 1998 § 10 Rdn 20).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.