Urteil des SozG Stade vom 22.04.2008

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Sozialgericht Stade
Urteil vom 22.04.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 28 AS 64/08
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 12. November 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 23. Januar 2008 verpflichtet, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe antragsgemäß zu
gewähren. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klä-gers zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob das Hauseigentum des Klägers von diesem selbst bewohnt und damit
geschützt im Sinne des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II oder aber bei der Leistungsberechnung als vorrangig einzusetzendes
Vermögen zu berücksichtigen ist.
Der Kläger, geboren im Jahr 1948, ist gelernter Maler und Eigentümer eines Einfamilien-hauses in G., H. weg 11. Es
handelt sich um einen Walmdachbungalow von rund 100 m² Wohnfläche, der im Jahr 1984 gebaut und seit dem an die
Zeugin vermietet ist. Nach seinen Angaben bewohnt der Kläger Räume im teilausgebauten Dach. Er ist dort auch
polizeilich gemeldet.
Das Dachgeschoss ist über eine Treppe vom Erdgeschoss zu erreichen, die durch eine separate Tür von dem
vermieteten Teil des Hauses im Erdgeschoss abgetrennt ist. Es bestehen getrennte Stromzähler, jedoch eine
gemeinsame Wasseruhr. Das Haus wird mit einer Ölheizung beheizt.
Der Kläger bezog seit 1. Dezember 2005 unter Anrechnung der Mieteinnahmen fortlau-fend Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Zuletzt stellte der Kläger einen Fortzahlungsantrag am 6.
September 2007. Zur Prüfung der Wohnverhältnisse veranlasste der Beklagte einen Hausbesuch durch einen
Mitarbeiter, der am 2. Oktober 2007 stattfand. Der Mitarbeiter schätzte im an-schließenden Bericht vom 4. Oktober
2007, dass der Betroffene nicht unter der angege-benen Adresse wohne und der Verdacht bestehe, dass er einer
gewerblichen Tätigkeit nachgehe. Bei einer persönlichen Vorsprache am 6. November 2007 teilte der Kläger mit, dass
er eine Leistungsgewährung als Darlehen ablehne. Er sei nicht einverstanden, dass eine Sicherungshypothek dafür
eingetragen wird. Zugleich teilte er mit, er habe im letzten Jahr kein Geld von seinem Konto abgehoben, da es nicht
gegangen sei. Er habe Geld von verschiedenen Leuten als Spende geschenkt bekommen. Mit Bescheid vom 12.
November 2007 lehnte der Beklagte die weitere Leistungsgewäh-rung mit Wirkung vom 23. August 2007 schließlich
komplett ab. Der Kläger besitze in Gestalt des Einfamilienhauses verwertbares Vermögen, das zunächst zur Deckung
des Lebensunterhaltes einzusetzen sei.
Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2008 als unbegründet
zurück. Am 31. Januar 2008 hat der Kläger Klage er-hoben.
Zur Begründung trägt er vor, er sei zwar häufig außer Haus und übernachte bisweilen auch auswärts, wohne jedoch
nach wie vor unter der bekannten Adresse. Er sei aktives Mitglied einer freikirchlichen Gemeinde und nehme in
diesem Rahmen an Hauskreisen teil, die bisweilen jeden Abend stattfänden. Dort werde gesungen und gebetet. Auch
finde gemeinsames Essen statt, zu dem er eingeladen werde.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 12. November 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
23. Januar 2008 zu verurteilen, dem Kläger an-tragsgemäß Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu
bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachver-halts wird auf die Gerichtsakte
und die vorliegende Verwaltungsakte des Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 22. April
2009 waren Bezug genom-men.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts die Mieterin des Klägers in dem Haus im H. weg 11, Frau
I., als Zeugin vernommen. Zu den Einzelheiten ihrer Aus-sage wird auf das Sitzungsprotokoll vom 22. April 2009
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die angegriffene Ablehnung der Leistungen nach dem SGB II durch den Beklagten er-weist sich als rechtswidrig und
beschwert daher den Kläger, § 54 Abs 2 Sozialgerichts-gesetz (SGG). Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung
von Leistungen zur Siche-rung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ohne Berücksichtigung seines Einfamilien-
hauses als verwertbares, vorrangig einzusetzendes Vermögen.
Gemäß § 7 Abs 1 Nr 3 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II eine Person, die hilfe-bedürftig ist. Hilfebedürftig ist
gemäß § 9 Abs 1 SGB II, wer sein Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor
allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermö-
gen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Ange-hörigen oder von Trägern
anderer Sozialleistungen erhält. Gemäß § 12 Abs 1 sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu
be-rücksichtigen. Nach § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II ist als Vermögen nicht zu berücksichtigen ein selbst genutztes
Hausgrundstück von angemessener Größe oder eine entsprechende Eigentumswohnung.
Das teilweise vermietete Einfamilienhaus des Klägers ist von der Verwertung als Vermö-gen gemäß § 12 Abs 3 Nr 4
SGB II ausgenommen, weil er es selbst bewohnt (I.) und sich das Haus innerhalb den anerkannten
Angemessenheitsgrenzen bewegt bzw in ausrei-chender Weise verwertet wird (II.).
I. Das Gericht geht im Ergebnis der Vernehmung des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 22. April
2009 sowie nach Vernehmung der Zeugin I. davon aus, dass der Kläger tatsächlich das teilausgebaute Dachgeschoss
des Hauses bewohnt.
Der nur teilweise ausgebaute Zustand des Dachgeschosses macht es nach dem Dafür-halten des erkennenden
Gerichts nicht von vornherein unmöglich, dort zu wohnen und sich aufzuhalten. Eine Versorgung mit Strom, Wasser
und Heizung ist vorhanden und offensichtlich funktionsfähig. Es muss akzeptiert werden, dass der Kläger hinsichtlich
des Ausbauzustandes und der konkreten Einrichtung seiner Räume im Vergleich zum Groß-teil der Bevölkerung
offenbar geringere Ansprüche stellt. Die Zeugin hat im Rahmen der Vernehmung auf glaubhafte Weise den vom Kläger
vor-gebrachten Sachverhalt bestätigt und das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger tat-sächlich im
Dachgeschoss des Hauses wohnt. Sie äußerte, dass der Kläger nach ihrer Auffassung im Dachgeschoss wohne, und
beschrieb auf Nachfragen des Gerichts in schlüssiger Weise einen Sachverhalt, der dies auch möglich und
wahrscheinlich erschei-nen ließ. Die Aussage der Zeugin entsprach dabei hinsichtlich der nachgefragten Details dem,
was nach allgemeiner Lebensanschauung in ihrer Situation an Kenntnissen möglich und nachvollziehbar ist, und
erschienen weder ausgedacht noch verkürzt. Das Gericht hat nach dem guten persönlichen Eindruck, den die Zeugin
in der mündlichen Verhand-lung gemacht hat, auch keinen Anhaltspunkt für die Annahme, die Zeugin und der Kläger
ständen sich in der Weise näher, dass die Zeugin den Sachverhalt insoweit unkorrekt darstellen könnte, zB um dem
Kläger einen Gefallen zu tun.
Die weiteren Indizien reichen nicht aus, um einen anderen Sachverhalt wahrscheinlicher zu machen. Es ergab sich
kein belastbarer Hinweis darauf, dass der Kläger seinen stän-digen Wohnort andernorts haben könnte als in seinem
Eigenheim.
Die auch vom Kläger unbestrittene Tatsache, dass er häufig nicht zu Hause ist und teil-weise auch auswärts
übernachtet, reicht noch nicht, um von einer tatsächlichen Aufgabe seines Wohnsitzes auszugehen. Auch für die
Existenz eines Postfaches besteht eine nachvollziehbare alternative Begründung, nämlich die Vermeidung von
Wurfsendungen und Werbung, so dass auch hieraus nicht zwingend abgeleitet werden kann, der Kläger wohne
tatsächlich nicht in seinem Haus im H. weg.
Der geringe Energieverbrauch lässt nicht den Rückschluss zu, dass der Kläger nicht mehr in seinem eigenen Haus
wohnt. Aufgrund der Darstellung, er halte sich häufig aus-wärts auf und besuche Hauskreise in der Gemeinde,
erscheint der geringe Energie-verbrauch nicht unplausibel. Die Versorgung des Klägers durch Spenden und materielle
Unterstützung durch die Gemeindemitglieder, auch aufgrund seines ehrenamtlichen En-gagements für die
Gemeinschaft, erscheint ebenfalls glaubhaft und lässt keine unüber-windlichen Lücken bei der Prüfung seiner
Einkommens- und Vermögensverhältnisse ent-stehen. Das Gericht hält es für denkbar und nicht außerhalb der
allgemeinen Lebenser-fahrung liegend, dass es dem Kläger aufgrund der Unterstützung durch die Gemeinde-glieder
sowie aufgrund eigener Sparsamkeit möglich war, mit keinem weiteren Einkom-men außer den Mieteinnahmen
auszukommen. Der Kläger kann allerdings nicht dauer-haft auf die freiwillige Unterstützung Dritter zur Sicherung
seines Lebensunterhalts ver-wiesen werden. Durchgreifende Zweifel an seiner Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 7 Abs
1 SGB II sind aus Sicht des Gerichts zumindest unter Berücksichtigung der bekannten Sachlage nicht begründet.
Das Gericht geht auch nicht davon aus, dass der Kläger einer Erwerbstätigkeit im engeren Sinne nachgeht und daraus
Erwerbseinkommen erzielt, auch wenn anzunehmen ist, dass er sein handwerkliches Geschick in der Glaubensge-
meinschaft ehrenamtlich einsetzt.
Das Gericht schätzt den Kläger aufgrund des persönlichen Eindrucks in Rahmen der mündlichen Verhandlung für
ehrlich und in seiner religiösen Gemeinschaft und seinem Glauben tief verwurzelt ein. Die Aussagen des Klägers
erfolgten nach dem Dafürhalten des Gerichts wahrheitsgemäß. Der sich daraus ergebende, in gewisser Weise unge-
wöhnliche Lebensstil des Klägers lässt in Bezug auf das Eigenheim vor dem Hintergrund des § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II
keine andere Bewertung zu als die hier vertretene.
II. Das vom Kläger selbst genutzte Einfamilienhaus ist auch hinsichtlich der Größe ange-messen im Sinne des § 12
Abs 3 Nr 4 SGB II. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom Herbst 2006 (BSG,
Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 2/05 R -) ist das Haus mit einer Wohnflä-che von rund 100 qm und drei
Bewohnern, dh dem Kläger, der Zeugin und deren Ehe-mann, angemessen groß. Das Bundessozialgericht geht davon
aus, dass es sich bei dem Begriff der angemessenen Größe um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der der
vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (BSG, aaO, Rn 14). Zur Orientierung zieht es die Wohnflächengrenzen des
Zweiten Wohnungsbaugesetzes, dh hier von 120 qm bzw 130 qm für vier Personen, heran und hält eine Reduzierung
von jeweils 20 qm pro Person für sachgerecht (vgl BSG, aaO, Rn 22). Für drei Personen ergibt sich damit eine
angemessene Wohnfläche von 100 qm.
Der Ehemann der Zeugin I. ist Anfang März 2009 verstorben, so dass das Gebäude nunmehr von zwei Personen in
getrennten Haushalten bewohnt wird. Unter Zugrundele-gung der Maßstäbe des Bundessozialgerichts überschreitet
das Haus nunmehr die Grenze der Angemessenheit um rund 20 qm. Damit entfällt der Schutz des Hauses als
Vermögen gemäß § 12 Abs 3 Nr 4 SGB II, so dass es zur Deckung des allgemeinen Le-bensunterhalts zu verwerten
ist.
Eine solche Verwertung findet durch die Vermietung des Erdgeschosses an die Zeugin in zulässiger Weise bereits
statt. Nach der hier vertretenen Auffassung muss eine Verwertung nicht in jedem Einzelfall zwingend durch Verkauf
erfolgen (vgl BSG, Urteil vom 16. Mai 2007 - B 11b AS 37/06 R -; Sozialgericht Stade, Urteil vom 30. Januar 2007 - S
17 AS 230/06 - (nicht rechtskräftig); Frank in: Hohm, GK-SGB II, § 12 Rn 18/19). Über die Art der Verwertung kann
grund-sätzlich der Hilfebedürftige selbst entscheiden, wobei einzelne Verwertungsarten aus-scheiden, wenn mit
anderen Arten der Verwertung eine bessere Bedarfsdeckung erreicht werden kann (Frank aaO.). Die Vermietung des
überwiegenden Anteils des Einfamilienhauses stellt im vorliegenden Einzelfall eine ausreichende Form der Verwertung
dar, denn der Kläger erzielt auf diese Weise einerseits Mieteinnahmen, die ihm zur Deckung seiner Kosten zur
Verfügung ste-hen, und erhält sich andererseits zugleich die eigene, von ihm selbst bewohnte Unter-kunft. Dabei
spielt für die Beurteilung eine entscheidende Rolle, dass sich der Kläger im 61. Lebensjahr befindet und damit in
absehbarer Zeit voraussichtlich aus dem Leistungs-bezug ausscheiden wird, zumal nach den gesetzlichen
Bestimmungen bereits jetzt eine Berentung in Betracht kommt, allerdings mit Abschlägen.
Aufgrund des Alters des Klägers und seiner eigenen Aufbauleistung in Bezug auf das Einfamilienhaus könnte das
Vermögen letztlich sogar gemäß § 12 Abs 3 Nr 6 SGB II von der Verwertung ausgenommen sein, wenn der Verkauf
für den Kläger als besondere Här-te angesehen wird, so dass es auf die konkrete Form der Verwertung nicht ankäme.
Eine Entscheidung hierüber kann jedoch im Ergebnis letztlich dahinstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.