Urteil des SozG Saarbrücken vom 21.06.2010

SozG Saarbrücken: innere medizin, wohnung, körperpflege, versorgung, ernährung, rollstuhl, nacht, pflegebedürftigkeit, aufstehen, bekleidung

SG Saarbrücken Entscheidung vom 21.6.2010, S 19 P 97/09
Soziale Pflegeversicherung - Feststellung des notwendigen Hilfebedarfs
Leitsätze
Bei der Feststellung des notwendigen Hilfebedarfs ist von dem objektiv erforderlichen
individuellen Zeitaufwand auszugehen. Dabei ist eine angemessene Lebensweise, die der
Würde des Pflegebedürftigen Rechnung trägt, zugrunde zu legen. Das ist bei dem
ausschließlichen Verweilen auf einer Wohnzimmercouch nicht der Fall.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 07. November 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2009 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach
Pflegestufe I (erhebliche Pflegebedürftigkeit) ab 19. Mai 2008 nach den gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren.
3. Die Beklagte hat die gerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Leistungen wegen erheblicher
Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I) nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs – Soziale
Pflegeversicherung – (SGB XI) hat.
Der 1959 geborene Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert und lebt mit seiner
Ehefrau in einem Mehrfamilienhaus in einer Wohnung in der zweiten Etage. Der Kläger hat
eigenen Angaben zufolge seit langer Zeit die Wohnung nicht verlassen und hält sich nahezu
ausschließlich auf der Couch im Wohnzimmer auf.
Der Kläger leidet an einer Steh- und Gehunfähigkeit infolge von ausgeprägtem
Muskelschwund im Bereich der Beine, an einer Wesensänderung mit völliger
Uneinsichtigkeit und nachgewiesener Hirnatrophie, alkoholtoxischer Genese, an einem
allgemeinen Kräfteverfall im Sinne einer Kachexie und Wirbelfrakturen (9. und 12.
Brustwirbel).
Mit einem am 19. Mai 2008 eingegangenen Schriftsatz vom 15. Mai 2008 beantragte der
Kläger Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, worauf ihn die Beklagte durch die
Gutachterin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) im Saarland H.
Sch. am 24. Oktober 2008 in seiner häuslichen Umgebung untersuchen ließ. Im Rahmen
der Begutachtung wurde angegeben, er führe die Körperpflege am Waschbecken
selbstständig durch. Er benötige einmal pro Woche Hilfe beim Duschen. Kämmen sei nicht
erforderlich, Zahnpflege und Rasur erfolgten selbstständig. Im Rahmen der Toilettengänge
benötige er Hilfe. Zum Wasserlassen benutze er die Urinflasche, die zwei- bis dreimal
täglich mit fremder Hilfe entleert würde. Nach mundgerechter Zubereitung einzelner
Speisen erfolge die Nahrungsaufnahme selbst. Die Sachverständige stellte im Bereich der
Grundpflege einen Bedarf von 34 Minuten pro Tag fest. Im Bereich der Körperpflege hielt
sie einen Bedarf von 13 Minuten für angemessen (Ganzkörperwäsche 4 Minuten, Duschen
3 Minuten, Wasserlassen 6 Minuten). Im Bereich der Ernährung war ein Bedarf von 3
Minuten bezogen auf die mundgerechte Zubereitung vorgesehen. Für die Mobilität hielt sie
einen Pflegebedarf von 18 Minuten für gerechtfertigt (Aufstehen/Zu-Bett-Gehen 4 Minuten,
Ankleiden 4 Minuten, Entkleiden 2 Minuten, Gehen 4 Minuten, Stehen 4 Minuten).
Bescheid vom
2008
Widerspruch vom 21. November 2008
Wesentlichen geltend machte, die Hilfeleistungen, derer er beim Duschen, Waschen, An-
und Auskleiden sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung bedürfe, seien nicht
ausreichend berücksichtigt.
Die Beklagte bat den Arzt des MDK im Saarland F. um Stellung. Dieser führte am 12.
Januar 2009 aus, er empfehle, dem Widerspruch nicht stattzugeben. Nach den eigenen
Angaben des Klägers seien die Ausführungen der Gutachterin nicht zu beanstanden.
Bezüglich des An- und Auskleidens werde noch überwiegende Selbstständigkeit des Klägers
berichtet. Er sei im Übrigen in der Wohnung mit dem Rollstuhl mobil. Beim Umlagern von
der Couch auf den Rollstuhl seien geringe Hilfeleistungen der Pflegepersonen erforderlich.
Das An- und Auskleiden eines Pullovers und einer Jogginghose sei demonstriert worden.
Höherer Pflegebedarf sei nicht abzuleiten.
Bescheid vom
Widerspruch des Klägers zurück.
Klage vom „27. Juli 2007“
Sozialgerichten für das Saarland (SG) eingegangen, gerichtet.
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, er beziehe sich auf seinen Widerspruch und könne
nicht verstehen, wie man ihn, der zu „100% schwerbehindert“ sei, nur anhand der
Aktenlage einstufen könne.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
1. den Bescheid der Beklagten vom 07. November 2008 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2009 aufzuheben;
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm, dem Kläger, Leistungen der
sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I ab Antragstellung nach
den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtens.
Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichtes des Internisten Dr.
W., S., vom 09. September 2009, dem Fremdbefunde beigefügt waren, sowie durch
Einholung eines Gutachtens des Facharztes für innere Medizin, Neurologie und Psychiatrie
Dr. R., leitender Arzt des Sozialmedizinischen Dienstes der Bundesknappschaft,
Saarbrücken, vom 10. Dezember 2009, der sein Gutachten durch eine Stellungnahme
vom 17. Februar 2010 ergänzt hat. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf
den Inhalt des Befundberichtes, des Gutachtens und der Stellungnahme Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrensganges wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten, die beigezogen war, Bezug
genommen.
Die Beteiligten sind zu der Absicht der Kammer, gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch
Gerichtsbescheid zu entscheiden, gehört worden.
Entscheidungsgründe
I.
Die Klage ist zulässig, sie ist insbesondere fristgerecht eingelegt. Der Widerspruchsbescheid
der Beklagten vom 29. Juni 2009 ist am 15. Juli 2009 zugestellt, so dass die am 04.
August 2009 eingelegte Klage fristgerecht ist.
Sonstige Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen nicht.
Die Klage ist in der Sache begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 07. November 2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2009 ist aufzuheben. Der Kläger hat gegen die
Beklagte Anspruch auf Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach
Pflegestufe I ab Antragstellung.
Die Voraussetzungen der §§ 28, 14 und 15 SGB XI sind erfüllt.
Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen,
geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig
wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich
für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe
bedürfen. Nach der Definition des § 14 Abs. 4 SGB XI sind gewöhnliche und regelmäßig
wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 1:
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die
Zahnpflege, das Kämmen, das Rasieren, die Darm- und
Blasenentleerung,
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die
Aufnahme der Nahrung,
3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-
Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das
Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,
4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen,
Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der
Wäsche, der Kleidung oder das Beheizen.
Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der
Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus
einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und
zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung
benötigen.
Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft
ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und
hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt
1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei
müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen;
2.in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei
müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen;
3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei
müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen (§ 15
Abs. 3 SGB XI).
Nach Durchführung der Beweisaufnahme durch Einholung des Befundberichts Dr. W. und
des Gutachtens des Sachverständigen Dr. R., der seine Ausführungen durch die
Stellungnahme vom 17. Februar 2010 ergänzt hat, steht zur Überzeugung der Kammer
fest, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe I
gegeben sind. Der Sachverständige Dr. R. hat in seinem Gutachten, das auf einem
Hausbesuch, einer Befragung des Klägers sowie seiner Ehefrau und auf einer Untersuchung
beruht, einen objektiv erforderlichen Grundpflegebedarf festgestellt, der die Kriterien zur
Erlangung der Pflegestufe I erfüllt, obgleich der tatsächlich erbrachte, aber nicht
ausschlaggebende Pflegebedarf nur 39 Minuten beträgt.
Der Sachverständige hat ausgeführt, dass sich das Leben des Klägers auf ein Campieren
auf dem Sofa reduziert und angesichts dessen Verrichtungen, die bei einer normalen
Lebensweise anfallen würden, wegfielen. Er kommt deshalb in seinem schriftlichen
Gutachten nur zu einem tatsächlich erbrachten Grundpflegebedarf von 39 Minuten. Er hat
aber auf Nachfrage des Gerichts ausgeführt, dass bei Zugrundelegung eines objektiv
erforderlichen individuellen Hilfebedarfs die Kriterien für die Pflegestufe I mit Sicherheit
erreicht sind.
Von letzterem ist aber auszugehen.
§ 15 SGB XI geht von dem Prinzip der aktivierenden Pflege bei der Feststellung des
notwendigen Hilfebedarfs und insbesondere bei der Festlegung ihres Umfanges aus. Wird in
der tatsächlichen Pflegesituation das Prinzip der aktivierenden Pflege nicht beherzigt, so
handelt es sich regelmäßig um pflegerische Defizite. Es ist dann fiktiv von der individuell
erforderlichen Hilfe unter Berücksichtigung des Prinzips der aktivierenden Pflege
auszugehen. Bei der Feststellung des Hilfebedarfs ist daher nicht auf den tatsächlich
erbrachten, sondern den objektiv erforderlichen Zeitaufwand abzustellen (Klie/Krahmer,
Kommentar zum SGB XI, 3. Aufl., § 15 SGB XI Rd.-Nr. 7, 10; Urteil des
Landessozialgerichts für das Saarland vom 15. Dezember 2004, - L 2 P 2/04).
Unter Berücksichtigung dessen gilt Folgendes:
Was den tatsächlichen, aber nicht erforderlichen Hilfebedarf angeht, gelangt der
Sachverständige zu einem Hilfebedarf von 39 Minuten. Für die Körperpflege hat er einen
Zeitbedarf von 16 Minuten festgestellt (Teilwäsche Oberkörper 6 Minuten, Duschen 3
Minuten, Richten der Bekleidung 1 Minute, Urinbeutelwechsel und Leeren 6 Minuten). Für
die Ernährung hielt er einen Zeitbedarf allein für die mundgerechte Zubereitung von 6
Minuten für angemessen. Im Bereich der Mobilität hat er Zeitbedarf von 17 Minuten
gesehen (Ankleiden 1 Minute, Stehen/Transfer 16 Minuten). Davon ist nicht auszugehen.
Der Sachverständige Dr. R. hat nämlich - im Übrigen als einziger der bisher beauftragten
Gutachter - sehr detailliert geschildert, wie reduziert die vom Kläger praktizierte
Lebensweise ist. Der Kläger sucht zum Schlafen nicht mehr das Schlafzimmer auf, sondern
verbringt Tag und Nacht auf der Couch im Wohnzimmer. Diese Lebensweise praktiziert er
seit längerem, bestimmt schon seit zwei Jahren.
Er nimmt die Mahlzeiten, die seine Frau zubereitet, auf der Couch ein. Der Kläger hat dort
eine Urinflasche, sodass er wasserlassen kann. Er ist mit einem Nachthemd ohne
Unterwäsche und Socken bekleidet, das Nachthemd wird alle zwei Tage gewaschen und
gewechselt. Er verfügt über einen Rollstuhl, mit dem er in der Wohnung noch selbst fahren
könne. Die Ehefrau begleitet ihn zur Toilette und setzt ihn auf den Toilettensitz. Die
Reinigung nach Stuhlgang kann er selbstständig verrichten. Einmal pro Woche wird der
Kläger geduscht. Die Ehefrau des Klägers nimmt einmal am Morgen mit einer Schüssel
Wasser eine Wäsche des Oberkörpers vor. Wegen der Enge des Bades sei dies im Bad
nicht möglich. Weitere Waschungen erfolgen nicht.
Diese Lebensweise, mag sie auch vom Kläger selbst gewählt sein, ist Ausdruck einer
Unterversorgung und Vernachlässigung.
Die durchgeführten Waschungen tragen dem Hygienebedürfnis sicher nicht Rechnung. Der
Kläger wird nur einmal in der Woche geduscht; ansonsten wird nur eine Teilwäsche am
Oberkörper durchgeführt. Mindestens zusätzlich anzusetzen wäre eine täglich
durchzuführende weitere Ganzkörperwäsche, so dass schon allein dann der
Grundpflegebedarf mehr als 45 Minuten pro Tag betragen würde.
Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass der Kläger beim An- und Entkleiden zumindest der
Teilhilfe bedürfte. Denn für eine angemessene Lebensweise gehört auch, dass Nacht- und
Tageswäsche getragen wird, die gewechselt wird. Dazu hat der Sachverständige Dr. R.
ausgeführt, dass das Krankheitsbild des Klägers keinesfalls so ausgeprägt sei, das ein
ständiger Aufenthalt in Nachtkleidung im Bett bzw. auf dem Sofa erforderlich wäre. Auch
wenn der Kläger meint, keinen Gürtel, keine Hose und überhaupt keine enge Kleidung
dulden zu können, ist das ausschließliche Tragen eines Nachthemdes ohne Unterwäsche
und Socken nicht mehr mit der Würde eines Pflegebedürftigen zu vereinbaren. Ob dies
tatsächlich noch dem freien Willen des Klägers entspricht, ist aufgrund der hochgradigen
Wesensveränderung, die der Sachverständige Dr. R. festgestellt hat, auch äußerst
fragwürdig.
Die tatsächlich erbrachte Pflege ist derart reduziert, dass sie nicht mehr mit den
Grundsätzen der aktivierenden Pflege vereinbar ist. Der objektiv erforderliche
Pflegeaufwand erlaubt auf jeden Fall eine Zuordnung zur Pflegestufe I.
Deshalb war der angefochtene Bescheid aufzuheben und der Klage in vollem Umfang
stattzugeben.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Auf anliegende Rechtsmittelbelehrung wird Bezug genommen.