Urteil des SozG Reutlingen vom 28.10.2013

berufsausbildung, arbeitskraft, unfallversicherung, arbeitsunfall

SG Reutlingen Urteil vom 28.10.2013, S 7 U 3373/11
Gesetzliche Unfallversicherung - Neufestsetzung des JAV gem § 90 Abs 1 SGB 7
- Abschluss der Ausbildung ohne unfallbedingte Verzögerung - Begriff der
Ausbildung bzw Berufsausbildung gem § 90 Abs 1 S 1 SGB 7 - Student -
Berufssportler
Leitsätze
Ein Anspruch auf Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes nach § 90 Abs. 1
Satz 1 SGB VII besteht auch dann, wenn trotz des Arbeitsunfalls die Ausbildung
abgeschlossen werden konnte. Der anders lautenden Auffassung des BSG (Urteil
vom 18.09.2012 - B 2 U 11/11 R - SozR 4-2700 § 90 Nr. 2) wird nicht gefolgt.
Der Ausbildungsbegriff in § 90 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist aus dem Sinn der Vorschrift
zu bestimmen. Die Inanspruchnahme der überwiegenden Arbeitszeit und Arbeitskraft
des Versicherten ist dabei keine zwingende Voraussetzung. Es kommt vielmehr
darauf an, dass die Ausbildung ernsthaft mit dem Ziel, den Abschluss zu erreichen,
kontinuierlich betrieben wird.
Zu den Voraussetzungen für die Anerkennung einer Ausbildung (Studium), die neben
dem Beruf eines Profihandballers betrieben wird.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom
02.03.2005) wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, ab Januar 2011 den Jahresarbeitsverdienst unter
Abänderung des Bescheides vom 10.11.2010 gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII neu
festzustellen.
2. Der Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom
10.12.2008) wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, ab Januar 2011 den Jahresarbeitsverdienst unter
Abänderung des Bescheides vom 10.11.2010 gemäß § 90 Abs. 1 SGB VII neu
festzustellen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten darum, ob die Jahresarbeitsverdienste, die der Berechnung
zweier Verletztenrenten zugrunde liegen, neu zu berechnen sind.
2 Der im …….. geborene Kläger war ab der Saison 2001/2002 Berufshandballer
beim damaligen Zweitligisten …….. Zur Saison 2005/2006 wechselte er zur .........
und stieg mit dieser Mannschaft in derselben Saison in die 1. Liga auf. Er beendete
seine Karriere mit der Saison 2011/2012, wobei er stets mit der ......... in der 1. Liga
blieb. Seit der Saison 2012/2013 ist er Trainer des nunmehrigen Handball-
Zweitligisten …….
3 Zum Wintersemester 2001/2001 nahm der Kläger ein Studium zum Diplom-
Sportwissenschaftler an der Universität …….. auf. Das Regelstudium umfasste
acht Semester und beinhaltete wegen des Studienschwerpunktes „Management
im Leistungs- und Wettkampfsport“ auch ein zweimonatiges Praktikum bei der
Firma ……., das der Kläger im April und Mai 2008 absolvierte. Die Anmeldung zur
Diplomprüfung erfolgte am 18.12.2009, die Abgabe der Arbeit am 04.06.2010. Die
Diplomprüfung wurde schließlich abgelegt am 08.12.2010.
4 Am 02.03.2005 erlitt der Kläger während eines Handballspiels einen dislozierten
Bruch der Elle links, den die Beklagte als Arbeitsunfall anerkannte. Ab dem
02.04.2005 bestand wieder Arbeitsfähigkeit. Von einer rentenberechtigenden
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) gingen die behandelnden Ärzte und die
Beklagte nicht aus.
5 Am 10.12.2008 zog sich der Kläger einen Riss der vorbestehenden
Kreuzbandersatzplastik des vorderen Kreuzbandes im rechten Kniegelenk zu.
Nach längerer Rehabilitation war der Kläger ab 17.07.2009 als Handballspieler
wieder einsatzfähig. Die Beklagte erkannte auch diesen Unfall als Arbeitsunfall an.
6 Mit Bescheiden vom 10.11.2010 bewilligte die Beklagte für beide Unfälle jeweils ab
15.07.2010 Verletztenrente nach einer MdE von 10 v.H. Für den Unfall vom
02.03.2005 ergab sich aufgrund einer Auskunft der ......... ein
Jahresarbeitsverdienst von 7.069 EUR, den die Beklagte gem. § 85 Abs. 1 Nr. 2
des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) auf den
Mindestjahresarbeitsverdienst erhöhte. Für den Unfall vom 10.12.2008 ergab sich
auf der Grundlage einer Auskunft der ......... ein Jahresarbeitsverdienst von
23.344,33 EUR, den die Beklagte der Berechnung der Rente zugrunde legte.
Beide Bescheide wurden bindend.
7 Am 14.12.2010 beantragte der Kläger mit Blick auf den kurz zuvor erfolgten
Abschluss seines Studiums die Neufeststellung der Jahresarbeitsverdienste gem.
§ 90 Abs. 1 SGB VII. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheiden jeweils vom
08.06.2011 ab. Das Studium habe die Arbeitskraft und Arbeitszeit des Klägers
nicht überwiegend in Anspruch genommen und sei deshalb nicht als Ausbildung
im Sinne des § 90 SGB VII zu berücksichtigen. Die Tätigkeit als Profihandballer
habe seine weit überwiegende Arbeitskraft gebunden.
8 Nach erfolglosen Widersprüchen (Widerspruchsbescheide der Beklagten jeweils
vom 27.10.2011) hat der Kläger in beiden Fällen am 25.11.2011 zum Sozialgericht
Reutlingen Klage erhoben (Az.: S 7 U 3373/11 und S 7 U 3374/11). Der Gericht hat
die Verfahren mit Beschluss vom 28. Oktober 2013 zur gemeinsamen
Verhandlung und Entscheidung verbunden.
9 Der Kläger trägt vor, dass der Begriff der Berufsausbildung in § 90 Abs. 1 SGB VII
selbst nicht definiert sei. Seine Bedeutung müsse aus dem Wortlaut, dem
systematischen Zusammenhang und dem Sinn und Zweck der Regelung
erschlossen werden. Die Regelstudienzeit sei nicht gleichzusetzen mit der
Semesterzahl, in der der durchschnittliche Studierende den Studiengang
erfolgreich absolviere. Sie beschreibe vielmehr die Anzahl an Semestern, in denen
ein Studiengang bei zügigem und intensivem Studium absolviert werden könne.
Aufgrund seiner Arbeitsunfälle sei es ihm nicht möglich gewesen, die Prüfungen
zügig zu absolvieren. Zudem habe sich an den Arbeitsunfall vom 10.12.2008 eine
lange und zeitintensive Heil- und Rehabilitationsbehandlung angeschlossen, die
nicht nur die Ablegung der praktischen Prüfungen erschwert, sondern sich generell
nachteilig auf die Durchführung des Studiums ausgewirkt habe. § 90 Abs. 1 SGB
VII bleibe auch anwendbar, wenn die Ausbildung trotz des Versicherungsfalles
nicht abgebrochen oder verzögert worden sei.
10 Der Kläger beantragt,
11 1. den Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom
02.03.2005) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des
Bescheides vom 10.11.2010 den Jahresarbeitsverdienst ab Januar 2011 gemäß
§ 90 Abs. 1 SGB VII neu festzustellen,
2. den Bescheid der Beklagten vom 08.06.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.10.2011 (betreffend den Arbeitsunfall vom
10.12.2008) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des
Bescheides vom 10.11.2010 den Jahresarbeitsverdienst ab Januar 2011 gemäß
§ 90 Abs. 1 SGB VII neu festzustellen.
12 Die Beklagte beantragt,
13 die Klagen abzuweisen.
14 Voraussetzung für die Anwendung des § 90 Abs. 1 SGB VII sei die überwiegende
Inanspruchnahme der Zeit und Arbeitskraft für die Schul- oder Berufsausbildung.
Dies sei dann der Fall, wenn durch die Ausbildung die Zeit und Arbeitskraft des
Betreffenden mehr als 28 Stunden pro Woche in Anspruch genommen werde
(Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 25.11.1976 - 11 RA
146/75 -). Die Intention des Gesetzgebers liege offensichtlich darin, diejenigen
Versicherten zu entschädigen, deren bereits eingeschlagene und zielstrebig
verfolgte berufliche Laufbahn durch den Versicherungsfall unterbrochen worden
sei. Bei dem Kläger sei dies nicht der Fall. Gerade dass der Kläger mit der
Diplomabschlussnote „sehr gut“ abgeschlossen habe, zeige, dass die extrem
lange Dauer des Studiums (18 Semester statt 8 Semester) nicht auf mangelnde
intellektuelle Fähigkeiten zurückzuführen sei, sondern einzig und allein auf den
Umstand, dass der Kläger nicht den erforderlichen Zeitaufwand habe betreiben
können, um das Studium in der Regelstudienzeit oder einer geringfügigen
Überschreitung dieser Regelstudienzeit zu beenden. Hierfür sei seine Tätigkeit als
Handballspieler ursächlich gewesen.
15 Das Gericht hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vom
28.10.2013 zum Sachverhalt persönlich angehört. Wegen des Ergebnisses der
persönlichen Anhörung des Klägers wird auf die Niederschrift vom 28.10.2013
verwiesen.
16 Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des
weiteren Vorbringens der Beteiligten und der vom Kläger vorgelegten
Studienunterlagen, wird verwiesen auf die Gerichtsakten (S 7 U 3373/11 und S 7 U
3374/11) und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren
wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung
Entscheidungsgründe
17 Die Klagen sind begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten vom
08.06.2011 (jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 27.10.2011)
sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat
Anspruch auf Neufestsetzung der der Berechnung seiner Verletztenrente
zugrunde liegenden Jahresarbeitsverdienste ab Januar 2011. Die diesen
Verletztenrenten zugrunde liegenden Bewilligungsbescheide vom 10.11.2010 sind
jeweils gem. § 48 Abs. 1 S. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zu
ändern.
18 Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines
Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche
Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (§
48 Abs. 1 S. 1 SGB X). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil mit dem
Abschluss des Studiums des Klägers im Dezember 2010 eine Änderung in den
tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, die einen Anspruch auf
Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes gem. § 90 Abs. 1 SGB VII auslöste.
Die Neufeststellung der Renten hat dabei ab dem Folgemonat nach Abschluss
des Studiums, also ab Januar 2011, zu erfolgen (§ 73 Abs. 1 SGB VII).
19 Die Voraussetzungen für die Anwendung des § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII liegen vor.
Nach dieser Norm wird der Jahresarbeitsverdienst, wenn es für den Versicherten
günstiger ist, von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne
den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre, wenn der
Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder
Berufsausbildung eingetreten ist.
20 Der Kläger hat die Unfälle vom 02.03.2005 und 10.12.2008 während seiner
Berufsausbildung (Studium der Sportwissenschaften) erlitten. Der Begriff der
Berufsausbildung wird in § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII selbst nicht definiert. Der
Anwendungsbereich des § 90 SGB VII ist aber weiter als der des
Berufsbildungsgesetzes und erstreckt sich auf Bereiche der beruflichen Bildung,
für die dieses Gesetz nicht oder nur eingeschränkt gilt, wie etwa die
Hochschulausbildung oder die Ausbildung in einem öffentlich-rechtlichen
Dienstverhältnis oder in einem Handwerksberuf (vgl. BSG, Urteil vom 07.02.2006 -
B 2 U 3/05 R - SozR 4-2700 § 90 Nr. 1 m.w.N.; Bereiter-Hahn/Mehrtens,
Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 SGB VII, Anm. 5.5). Zwischen den Beteiligten
ist die Tatsache, dass es sich beim Studium des Klägers um eine Ausbildung im
Sinne des § 90 Abs. 1 SGB VII gehandelt hat, nicht umstritten.
21 Das Gericht konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Arbeitsunfälle vom
02.03.2005 und 10.12.2008 den Abschluss des Studiums des Klägers verzögert
haben. Vielmehr spricht - in Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Beklagten -
alles dafür, dass die erhebliche Dauer des Studiums auf der gleichzeitig
ausgeübten Beschäftigung als Berufshandballer beruht.
22 Diese Einschätzung des Gerichts (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG) beruht auf einer
Gesamtsicht der Aktenunterlagen, insbesondere derjenigen zu den medizinischen
Folgen der Arbeitsunfälle und den Informationen zum Studium, ferner auf den
Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2013. Für das
Unfallereignis vom 02.03.2005 macht der Kläger inzwischen selbst eine
Verzögerung seines Studiums nicht mehr geltend. Insoweit besteht
Übereinstimmung mit seinem schriftlichen Vorbringen im Verwaltungsverfahren
vom 21.05.2011, wonach die Dauer des Studiums bzw. die Verzögerung keine
Ursache in den Folgen der Unfälle habe (Bl. 312 der Verwaltungsakte zum
Aktenzeichen 0703082-3847216). Aber auch soweit der Kläger (offenbar unter
dem Eindruck der Entscheidung des BSG vom 18.09.2012 - B 2 U 11/11 R - SozR
4-2700 § 90 Nr. 2) seinen Vortrag geändert hat und nunmehr eine Verzögerung
des Studienabschlusses durch die Folgen des Unfalls vom 10.12.2008 geltend
macht, kann sich die Kammer nicht davon überzeugen, dass tatsächlich eine
Verzögerung vorgelegen hat. Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die Angaben
des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung bezüglich der Schwierigkeiten
der Datenerhebung für seine Diplomarbeit nachvollziehbar sind und dass sich an
den Unfall eine länger dauernde Rehabilitationsphase (Physiotherapie) anschloss.
Demgegenüber kann aber nicht außer Betracht bleiben, dass der Kläger nach dem
Unfall vom 10.12.2008 von seinem Verpflichtungen als Berufshandballer komplett
freigestellt war und entsprechend die frei werdenden Zeiten für sein Studium
einsetzen konnte. Bestätigt wird diese Sicht der Dinge in dem unfallchirurgischen
Gutachten der ………… vom 12.06.2009 (Bl. 168 ff. der Akte 0703082-3847216),
wonach die Arbeitsfähigkeit als Student bereits sechs Wochen nach dem
Operationszeitpunkt wieder gegeben gewesen sei. Als Berufshandballer war der
Kläger hingegen erst am 17.07.2009 wieder einsetzbar. Angesichts dessen mag
zwar die intensive Rehabilitation einen Teil der durch den Wegfall der
Verpflichtungen als Berufshandballer frei werdenden Zeiten wieder aufgewogen
haben, es ist aber insgesamt nicht nachzuvollziehen, dass der Kläger während
seiner Rehabilitationszeiten an einer Fortsetzung seiner Hochschulausbildung
gehindert gewesen wäre bzw. frei werdende Zeiten aus dem Wegfall der
Belastungen als Handballer nicht für sein Studium hätte verwenden können.
Insoweit wird auch nochmals auf die von ihm zunächst selbst abgegebene
Erklärung vom 21.05.2011 verwiesen.
23 Das Gericht geht gleichwohl von der Anwendbarkeit des § 90 Abs. 1 SGB VII auf
den vorliegenden Fall aus. Das BSG hat mit Urteil vom 18.09.2012 (a.a.O.) in
Abkehr von der früheren jahrzehntelangen Rechtsprechung (vgl. z.B. Urteil vom
07.11.2000 - B 2 U 31/99 R - SozR 3-2700 § 90 Nr. 1 und Urteil vom 15.06.1983 -
SozR 2200 § 573 Nr. 11 - SozR 2200 § 573 Nr. 11 zur Vorgängervorschrift § 573
Reichsversicherungsordnung ) und der entsprechenden herrschenden
Meinung in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur (vgl. z. B. Burchardt in:
Krasney/Burchardt/ Kruschinsky/Becker, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB
VII), § 90 Rdnr. 18a; Becker in LPK-SGB VII, 3. Auflage, § 90 Rdnr. 5) entschieden,
dass § 90 Abs. 1 SGB VII nur dann Anwendung finden könne, wenn sich die
Ausbildung verzögert habe oder aus gegebenenfalls sonstigen Gründen nicht
beendet wurde. Der Wortlaut der Vorschrift lasse anderes nicht zu, die Analogie
wie nach früherem Recht sei nicht (mehr) zulässig, nachdem der Gesetzgeber des
SGB VII den Wortlaut des früheren § 573 RVO insoweit übernommen habe und
allein der (typisierte) Schaden aufgrund der ausbleibenden oder verzögerten
Beendigung der Ausbildung die günstigere Neufeststellung rechtfertigte.
24 Die Kammer vermag dieser Auffassung in Übereinstimmung mit Ricke (Kasseler
Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 78. Ergänzungslieferung 2013, § 90
SGB VII, Rdnr. 3c) und Keller (Hauck/Noftz, SGB VII Gesetzliche
Unfallversicherung, § 90 Rdnr. 9a) nicht zu folgen. Der Passus in § 90 Abs. 1 SGB
VII „voraussichtlich beendet worden wäre“ bezieht sich eindeutig auf die
Festlegung des den Jahresarbeitsverdienst bestimmenden Zeitpunkts und kann
deswegen nicht im Sinne einer selbstständigen Tatbestandsvoraussetzung des
Abbruchs oder der Verlängerung der Ausbildung gedeutet werden. Auch der Sinn
des Gesetzes spricht nicht für die Auffassung des BSG. Einen durch
Versicherungsfall bedingten Schaden haben alle Versicherten, die
ausbildungsbedingt einen niedrigen Jahresarbeitsverdienst haben. Das Abstellen
auf einen Abbruchs- oder Verzögerungsschaden wie er vom BSG gefordert wird,
ist deshalb auch systematisch verfehlt. Ein solcher Schaden besteht nämlich darin,
dass das sonst gezahlte höhere Entgelt nach Ausbildungsende erst verspätet oder
nie erreicht wird. Das aber ist ein konkreter Schaden, der für § 90 irrelevant ist, weil
diese Norm dem in der gesetzlichen Unfallversicherung allgemein geltenden
Prinzip der abstrakten Schadensberechnung verhaftet ist, es also nicht darauf
ankommt, dass der Versicherte tatsächlich einen Minderverdienst hat. Denn in der
gesetzlichen Unfallversicherung richtet sich die Entschädigung nicht nach der
Minderung des Erwerbseinkommens, sondern nach der Minderung der
Erwerbsfähigkeit. Auch § 90 SGB VII weicht von diesem Prinzip nicht ab (vgl.
ausführlich BSG, Urteil vom 07.11.2000, a.a.O.). Die bisherige vom BSG nun
abgelehnte Auslegung des § 90 Abs. 1 SGB VII bzw. der Vorgängervorschrift des
§ 573 Abs. 1 RVO beruhte auch nicht auf einer Analogie, sondern immer auf einer
noch dem Wortlaut entsprechenden Auslegung in Verbindung mit dem Sinn des
Gesetzes, wobei es allenfalls hieß, dass der Wortlaut nicht eindeutig sei (vgl. BSG,
a.a.O.). Daher hatte der Gesetzgeber auch keinen Anlass, bei der Einführung des
SGB VII, den Wortlaut zu ändern und er hat ausdrücklich vermerkt, dass § 90 im
Wesentlichen dem geltenden Recht entspreche (Gesetzesbegründung BT-Drucks.
13/2204 S. 96). Die nun vom BSG geforderte Auslegung des Gesetzes ist darüber
hinaus unter Gleichheitsgesichtspunkten bedenklich (Art. 3 Abs. 1 des
Grundgesetzes). Denn ist kein rechtfertigender Grund ersichtlich, einem
Versicherten mit verzögerter Ausbildung durch die fiktive Vorverlegung des
Ausbildungsendes einen vollen Ausgleich zu gewähren, einem Versicherten ohne
verzögerte Ausbildung die Neufestsetzung jedoch zu verweigern. Denn in beiden
Fällen ist die Ausgangsposition der Betroffenen insoweit gleich, dass sie aufgrund
der Ausbildungssituation zunächst nur einen niedrigen Jahresarbeitsverdienst
haben. Es ist kein rechtfertigender Gesichtspunkt erkennbar, weshalb ein
Versicherter sein Leben lang auf diesen niedrigen Jahresarbeitsverdienst
festgehalten werden sollte, wenn es ihm trotz des Arbeitsunfalls gelingt, die
Ausbildung abzuschließen.
25 Die Kammer legt damit § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VI weiterhin in Übereinstimmung mit
der früheren Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) aus und sieht die Vorschrift auf
den Fall des Klägers für anwendbar an, obwohl dieser die Berufsausbildung
letztlich ohne unfallbedingte Verzögerung abgeschlossen hat.
26 Das Gericht stimmt der Auffassung der Beklagten zu, dass das Studium die
Arbeitszeit und Arbeitskraft des Klägers im Verhältnis zur Ausübung des
Profisports nicht überwiegend in Anspruch genommen hat. Dafür war -
insbesondere als Erstligaspieler - die Belastung aus Training, Spielbetrieb,
Auswärtsreisen und Marketing- bzw. Sponsorterminen viel zu intensiv (vgl. auch
die Auskunft der ......... vom 14.09.2011 - Bl. 372 der Verwaltungsakte zum
Aktenzeichen 0703082-3847216 -). Jedoch kann die Kammer der Auffassung der
Beklagten nicht folgen, die Anerkennung einer Ausbildung im Sinne des § 90 Abs.
1 S. 1 SGB VII setze stets voraus, dass diese Ausbildung die Arbeitszeit und
Arbeitskraft des Versicherten überwiegend in Anspruch genommen habe. Ein
solches Tatbestandsmerkmal gibt es in § 90 Abs. 1 S. 1 SGB VI nicht (ebenso
wenig existierte es in der Vorgängervorschrift des § 573 Abs. 1 RVO). Richtig ist
zwar, dass in der unfallversicherungsrechtlichen Literatur überwiegend ein solches
Kriterium gefordert wird (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., Anm. 5.7; Keller,
a.a.O., § 90 Rdnr. 6; Burchardt, a.a.O., Rdnr. 16 unter Hinweis auf das Urteil des
BSG zur Waisenrente vom 20.03.1973 - 8/2 RU 137/72 - ). Die Beklagte
verkennt jedoch, dass das Kriterium der überwiegend Inanspruchnahme der
Arbeitskraft und Arbeitszeit des Versicherten nur gewährleisten soll, dass
„Scheinausbildungen“ von der Anwendbarkeit der Norm ausgeschlossen bleiben
(vgl. zur Waisenrente in der gesetzlichen Unfallversicherung, BSG, Urteil vom
27.01.1976 - 8 RU 2/75 - ). Nach der Zweckbestimmung des § 90 Abs. 1
SGB VI sollen - ebenso wie bei der Vorgängervorschrift des § 573 RVO -
Personen, die schon vor oder während der Zeit der Ausbildung für einen Beruf
einen Arbeitsunfall erleiden und deshalb im Jahr vor dem Unfall regelmäßig noch
nicht das volle Arbeitsentgelt erzielt haben, zur Vermeidung von Härten geschützt
und so gestellt werden, als hätten sie den Unfall nach der voraussichtlichen
Beendigung der Berufsausbildung erlitten (vgl. BSG, Urteil vom 04.12.1991 - 2 RU
69/90 - ). Der Begriff der Berufsausbildung in § 90 Abs. 1 ist ein
eigenständiger Begriff. Bei der Auslegung des Begriffs ist entscheidend auf den
Sinn des Gesetzes abzustellen (vgl. Burchardt, a.a.O., Rdnr. 12). Daher kann bei
der Auslegung auf die aus anderen Bereichen des Sozialrechts geläufigen
Begriffsbestimmungen nicht ohne Weiteres zurückgegriffen werden (BSG, Urteil
vom 07.02.2006, a.a.O.). Der Gesichtspunkt der überwiegenden
Inanspruchnahme der Arbeitszeit und Arbeitskraft bzw. der Hinweis auf § 67 Abs. 2
S. 2 SGB VII (mehr als 20 Stunden wöchentliche Inanspruchnahme für eine Schul-
oder Berufsausbildung als Voraussetzung für die Waisenrente aus der
gesetzlichen Unfallversicherung) dienen im Rahmen des § 90 Abs. 1 SGB VII
lediglich als Indiz für das Vorliegen einer (ernst gemeinten) Ausbildung. Liegen -
wie hier - andere ausreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass der Versicherte in
einer tatsächlichen Ausbildungssituation war, so hat er Anspruch auf den
Ausgleich nach § 90 Abs. 1 SGB VI. Nur dadurch können die Härten vermieden
werden, die mit dem auf dem Zeitpunkt des Eintritts des Unfalls verbundenen
niedrigen Jahresarbeitsverdienstes verbunden sind.
27 Im Falle des Klägers stand von vornherein fest, dass er als Berufssportler nur eine
begrenzte Zeit würde erwerbstätig sein können. Seine Entscheidung trotz
Berufssports eine Berufsausbildung zu absolvieren war zukunftsorientiert und
sinnvoll. Von einer Scheinausbildung kann nicht einmal ansatzweise die Rede
sein, auch wenn der Berufssport die überwiegende Arbeitskraft des Klägers in
Anspruch genommen hat. Auch die relativ geringen Entgelte aus der Tätigkeit als
Profihandballer (vgl. die von den Vereinen angegebenen Verdienste in den Jahren
vor den Unfällen) sprechen dafür, von einer typischen Härtefallsituation
auszugehen wie sie gerade von § 90 Abs. 1 SGB VII ausgeglichen werden soll.
Sie belegen zusätzlich, dass eine Berufsausbildung sinnvoll und notwendig war,
um nach Ende der Karriere den Lebensunterhalt sicher stellen zu können.
28 Aus den vorgelegten Studienunterlagen ergibt sich zudem, dass der Kläger das
Studium kontinuierlich und fortlaufend betrieben hat. Insofern war die
Berufsausbildung für den Kläger trotz seiner jahrelangen Inanspruchnahme als
Berufssportler von erheblicher Bedeutung. Das Handballspielen sorgte letztlich
dafür, dass der Kläger sein Studium finanzieren konnte (vgl. Angaben des Klägers
in der mündlichen Verhandlung vom 28.10.2013).
29 Der Kläger erfüllt nach alledem vollumfänglich den Tatbestand des § 90 Abs. 1 S.
1 SGB VII, so dass wie aus dem Tenor ersichtlich zu entscheiden war.
30 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
31 Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung brauchte die Kammer nicht
zu treffen, weil Berufungsbeschränkungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 1 SGG
nicht vorliegen.