Urteil des SozG Reutlingen vom 14.11.2016

ersatzbeschaffung, ausstattung, widerspruchsverfahren, einzug

SG Reutlingen Urteil vom 14.11.2016, S 7 AS 449/16
Wohnungserstausstattung - erneuter Bedarf nach zwischenzeitlichem Umzug in
Einzimmerwohnung - Bedarfsdeckungsprinzip - vorwerfbares Verhalten - Vertretung der
Bedarfsgemeinschaft - Individualansprüche der Mitglieder - sozialgerichtliches Verfahren
Leitsätze
Rechtsbehelfserklärungen dürfen nicht so ausgelegt werden, dass dem Rechtsbehelfsführer der Zugang zur
Gerichtsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Wird
aus dem Vorbringen eines Rechtsbehelfsführers deutlich, dass er mit Wissen und Wollen der anderen Mitglieder
der Bedarfsgemeinschaft gemeinsame Ansprüche verfolgt, ist das Begehren als Klage sämtlicher Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft auszulegen. Das gilt auch nach Ablauf der vom BSG (Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS
8/06 R -) auf den Zeitraum bis 30.06.2007 festgelegten Übergangsfrist.
Das Bedarfsdeckungsprinzip gebietet eine bedarfsorientierte Betrachtung des Anspruchs auf eine
Wohnungsausstattung.
Der Untergang bzw. Verlust von Sachen, die der Wohnungs- und Haushaltsausstattung dienten, kann dem
Grunde nach einen erneuten Anspruch auf Ausstattung auslösen, weil es den Hilfebedürftigen ermöglicht
werden muss, menschenwürdig zu wohnen. Auf den Grund für den Verlust der Sachen, insbesondere
vorwerfbares Verhalten der Hilfebedürftigen, kommt es nicht an. Dieser Gesichtspunkt ist erst im Rahmen eines
eventuellen Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II relevant.
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 03.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2016 wird
abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern für die Erstausstattung der Wohnung einen weiteren Betrag in Höhe
von 703,95 EUR zu zahlen.
Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.
Die Berufung wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um die Verpflichtung des Beklagten, weitere Leistungen für eine
Wohnungserstausstattung zu erbringen.
2
Der ... geborene Kläger zu 2 und die ... geborene Klägerin zu 1 sind seit dem ... verheiratet.
3
Der Kläger zu 2 lebte zunächst mit seiner früheren Ehefrau und zwei Kindern in einer Wohnung in der ... in
.... Die damalige Bedarfsgemeinschaft des Klägers bezog Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bis Dezember 2005. Im Jahr 2006 kam es zur Trennung
des Klägers von der Ehefrau und den Kindern. Anfang 2007 erfolgte die Scheidung. Der Kläger bezog eine
Einzimmerwohnung in der ... und erhielt vom Beklagten Leistungen nach dem SGB II vom 05.03.2011 bis
16.10.2011 und vom 01.02.2012 bis 30.11.2012. Seit 01.02.2012 bezog der Kläger Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung. Seit 01.08.2012 bezieht er Rente wegen voller Erwerbsminderung. Daneben übt er
eine geringfügige Beschäftigung aus.
4
Zu einem aus den Akten nicht genau ableitbaren Zeitpunkt zog der Kläger zu 2 als Untermieter in ein
Zimmer in einer Wohnung in der ... Hauptmieter war Herr R…. Im April 2014 zog die Klägerin zu 1, die
zunächst Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bezog, in dieses Zimmer mit ein. Am ... wurde
das gemeinsame Kind ..., die Klägerin zu 3, geboren. Elterngeld wurde bis 08.12.2015 bewilligt.
5
Der Beklagte bewilligte den Klägerinnen zu 1 und 3 trotz des Anspruchs nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz vorläufig Leistungen vom 07.10.2014 bis 31.01.2015 (Bescheide vom
09.01.2014 und 16.01.2015). Mit Bescheid vom 09.12.2014 wurde außerdem ein Betrag von 728,00 EUR
als Erstausstattung für das Kind, bei Geburt und Schwangerschaft bewilligt.
6
Die Wohnung in der ... wurde zwangsgeräumt, nachdem der Hauptmieter mit der Mietzahlung in Verzug
war. Am 23.09.2015 zogen die Kläger in ihre jetzige 54 m2 große Wohnung in der ... ein. Noch vor dem
Einzug beantragten sie beim Sozialamt eine Erstausstattung für diese Wohnung; nämlich für die Küche:
einen Herd mit Backofen, einen Tisch und Stühle, eine Spüle sowie eine Lampe; für das Wohnzimmer:
Gardinen und Gardinenstangen, eine Lampe, eine Couch sowie einen Tisch; für das Schlafzimmer: einen
Kleiderschrank, Gardinen und Gardinenstangen; für den Flur eine Lampe und einen Garderobenständer und
schließlich eine Waschmaschine. Das Sozialamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 21.09.2015 ab. Der
Kläger zu 2 habe ausreichendes Einkommen und könne seinen Bedarf decken. Die Klägerinnen zu 1 und 3
seien leistungsberechtigt nach dem SGB II und könnten einen Antrag auf Arbeitslosengeld II beim Jobcenter
stellen.
7
Im Rahmen des allgemeinen Leistungsantrags, den die Kläger am 01.10.2015 beim Beklagten stellten,
legten die Kläger den Bescheid des Sozialamtes vom 21.09.2015 vor und machten deutlich, dass sie für die
neue Wohnung Möbel benötigten. Es sei unklar, ab wann tatsächlich der Anspruch auf Arbeitslosengeld II
bestehe. Der Antrag werde aber wegen der Möbel bereits jetzt gestellt.
8
Der Beklagte gewährte laufende Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.10.2015 (Bescheide
vom 03.12.2015 und 12.02.2016). Mit dem angefochtenen Bescheid vom 03.12.2015 bewilligte er für eine
Waschmaschine ohne Anschluss, einen Elektroherd mit Anschluss und eine Spüle mit Armatur einen Betrag
von insgesamt 518,00 EUR (daneben wurde für eine Erstausstattung bei Geburt ein Betrag von 141,00 EUR
bewilligt). Weitere Beihilfen wurden mit der Begründung abgelehnt, es handele sich nicht um
Erstausstattung, sondern um Ersatz- bzw. Ergänzungsbeschaffung.
9
Die Kläger erhoben Widerspruch und machten geltend, sie hätten zuvor lediglich ein Bett und einen Schrank
gehabt. Sämtliche von ihnen erworbenen Gegenstände, die Wohnzimmereinrichtung, es seien hier eine
Sitzgruppe sowie ein Wohnzimmertisch, eine Kommode und ein Esstisch mit Stühlen erworben worden,
seien Erstausstattung. Des Weiteren müsste auch noch eine Küche, die noch nicht vorhanden sei,
angeschafft werden.
10 Der Außendienst des Beklagten suchte die Wohnung der Kläger am 20.01.2016 auf. Im Bericht vom
22.01.2016 heißt es u.a., im Wohnzimmer befänden sich zwei Sofas, ein Couchtisch, ein Esstisch mit vier
Stühlen, ein Fernseher, eine Vitrine, ein Kinderlaufstall, ein Kinderstuhl und eine Lampe. Im Schlafzimmer
befänden sich ein Kleiderschrank, ein Doppelbett, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein PC und ein Babybett. Die
Matratze des Doppelbettes sei durchgelegen. Die Sprungfedern seien sichtbar. Die Küche sei mit einer
Einbauküche inklusive Herd und Kühlschrank ausgestattet. Im zugehörigen Keller hätten sich ein Sessel, ein
Waschbecken, eine Vitrine und ein Faltkleiderschrank befunden. Der Außendienstmitarbeiterin des
Beklagten wurden im Zusammenhang mit dem Hausbesuch für den Erwerb eines Kleiderschrankes und eines
Esstisches zwei Ratenkreditverträge vorgelegt.
11 Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.02.2016 als unbegründet zurück. Ein
Nachweis über das Fehlen der Küche sei nicht erbracht worden. Angesichts der vom Außendienst
vorgefundenen Wohnungseinrichtung sowie der weiteren im Keller vorhandenen Gegenstände sei ein
Erstausstattungsbedarf nicht nachgewiesen bzw. glaubhaft. Dies deshalb, da der Kläger zu 2 seit erstmaliger
Antragstellung nunmehr mindestens die sechste Wohnung bewohne. Die Kläger hätten gegenüber dem
Sozialamt angegeben, dass sie in einer früheren Wohnung bereits Möbel und Hausrat besessen hätten.
12 Die Klägerin zu 1 hat am 22.02.2016 zum Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben. Sie hat zunächst die
Übernahme von Kosten für Anschlussstücke für die Dunstabzugshaube, für den Couchtisch und vier Stühle
in der Küche/Esszimmer geltend gemacht ebenso die Kosten für die Anschaffung von Lampen für das Bad,
das Kinderzimmer und das Schlafzimmer sowie für einen Schuhschrank. Des Weiteren hat sie Kosten für die
Anschaffung von Gardinen nebst Gardinenstangen für das Wohnzimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer und
die Küche sowie von zwei Hochregalschränken für die Küche geltend gemacht. Anschaffungen für Stühle,
Küchenmöbel und Anschlussstück für die Dunstabzugshabe hat sie durch Kaufverträge bzw.
Kassenquittungen belegt. Hinsichtlich des Ausstattungszustandes der Küche hat sie mit Schriftsatz vom
08.04.2016 eine Fotodokumentation zur Akte gereicht.
13 Nach einem Hinweis des Gerichts, dass der Sonderbedarf für eine Wohnungserstausstattung in der Regel
nicht auf eine einzelne Person, sondern auf die gesamte Bedarfsgemeinschaft bezogen sei, hat der
Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 25.04.2016 erklärt, dass die Klage auch im Namen
des Ehemannes und der Tochter erhoben werde. Das Gericht hat daraufhin das Aktivrubrum entsprechend
erweitert.
14 Die Kläger machen geltend, dass bereits Ende September 2015 mit dem Umzug in die neue Wohnung ein
dringender Bedarf an den nicht vorhandenen Einrichtungsgegenständen bestanden habe. Wenn der
Beklagte am 20.01.2016 den Außendienst geschickt habe, so zeige dies, wie wenig sich der Beklagte um die
Belange der Kläger gekümmert hätte. Habe die Familie drei Monate lang in einer leeren Wohnung hausen
sollen?
15 Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 14.11.2016 haben die Kläger ihr Begehren an die beim
Beklagten für die Wohnungserstausstattung verwendeten Pauschalen angepasst und Bedarfe für die Spüle,
einen Schuhschrank und Gardinen mit Gardinenstange für die Küche nicht weiter geltend gemacht.
16 Die Kläger beantragen,
17 den Bescheid des Beklagten vom 03.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2016
abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, für die Erstausstattung der Wohnung einen weiteren
Betrag von 703,95 EUR zu zahlen.
18 Der Beklagte beantragt,
19 die Klage abzuweisen.
20 Die mit Antrag vom 30.10.2015 beantragte Kücheneinrichtung (Elektroherd und Spüle) sei mit dem
angefochtenen Bescheid vollumfänglich bewilligt worden. Darüber hinaus sei kein Antrag gestellt worden.
Unabhängig von dem Umstand, dass die mit der Klage geltend gemachten Bedarfe für einen Schuhschrank
und für Gardinen nebst Gardinenstange für die Küche vom Antrag vom 30.10.2015 nicht umfasst gewesen
seien, seien diese keine für eine geordnete Haushaltsführung grundlegend notwendige
Einrichtungsgegenstände. Ebenfalls nicht beantragt gewesen seien Bedarfe für eine Badlampe, eine
Wohnzimmerlampe und eine Kinderzimmerlampe, des Weiteren auch nicht Bedarfe für Gardine nebst
Gardinenstange für das Kinderzimmer. Hinsichtlich der mit der Klage weiter verfolgten, abgelehnten Bedarfe
für Gardinen und Gardinenstange für das Wohnzimmer und das Schlafzimmer, den Couchtisch und der
Esszimmerstühle sei zunächst darauf hinzuweisen, dass - nachdem ein Kinderstuhl vorhanden sei -
grundsicherungsrechtlich überhaupt lediglich ein Erstausstattungsbedarf für drei Stühle möglich sei.
Angesichts der vom Außendienst vorgefundenen Wohnungseinrichtung sowie der weiteren im Keller
vorhandenen Gegenstände sei im Übrigen jedoch ein Erstausstattungsbedarf an diesen
Einrichtungsgegenständen weder nachgewiesen noch glaubhaft. Dies nicht zuletzt auch deshalb, da der zur
Bedarfsgemeinschaft gehörende Kläger zu 2 seit erstmaliger Antragstellung nunmehr mindestens die
sechste Wohnung bewohne. Insoweit handele es sich nicht um eine Erstausstattung im genannten Sinne,
sondern vielmehr um eine Ersatzbeschaffung. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte zudem
geltend gemacht, die Klage sei unzulässig, denn die Klägerin zu 1, welche die Klage erhoben habe, verfüge
nicht über eine Prozessführungsbefugnis. Die Erweiterung des Aktivrubrums sei unrichtig.
21 Das Gericht hat den Kläger zu 2 in einem Erörterungstermin vom 25.07.2016 zum Sachverhalt,
insbesondere zum Verbleib seiner früheren Möbel, persönlich angehört. Wegen seiner Angaben wird auf die
Niederschrift vom 25.07.2016 verwiesen.
22 Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der
Beteiligten, wird verwiesen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten,
deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung der Kammer gewesen
ist.
Entscheidungsgründe
23 Die Klage ist zulässig. Die Kläger können mit der Anfechtungs- und Leistungsklage den geltend gemachten
Anspruch auf weitere Erstausstattung für ihre Wohnung verfolgen.
24 Anders als der Beklagte meint, mangelt es nicht an der Prozessführungsbefugnis. Vielmehr war aus dem
gesamten Vorbringen der ursprünglich allein das Klageverfahren betreibenden Klägerin zu 1 deutlich zu
erkennen, dass es ihr um die Gewährung von Bedarfen für die Erstausstattung der Wohnung der Familie,
also der gesamten Bedarfsgemeinschaft ging. Dementsprechend musste auf die Klarstellung des
Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 25.04.2016 auch eine Berichtigung des Aktivrubrums erfolgen.
Da eine Differenzierung der streitgegenständlichen Kosten der Wohnungserstausstattung nach den
jeweiligen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich ist, sind die Kläger auch diejenigen, die die für
die gesamte Bedarfsgemeinschaft nutzbaren Erstausstattungsgegenstände als Anspruchsinhaber zu
verfolgen haben.
25 Für die Frage, welchen Rechtsbehelf ein Rechtsbehelfsführer bzw. eine Rechtsbehelfsführerin eingelegt hat,
kommt es gemäß § 106 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch
(BGB) zunächst auf den wirklichen Willen und auf das erkennbare Prozessziel an. Entscheidend ist, welchen
Sinn die Erklärung aus der Sicht des Gerichts und des Prozessgegners hat. Dabei ist der Rechtsbehelfsführer
nicht allein am Wortlaut festzuhalten (vgl. z.B. Bundessozialgericht , Urteil vom 14.12.2006 - B 4 R
19/06 R - ). In verfassungsorientierter Auslegung (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz) dürfen
Rechtsbehelfserklärungen nicht so ausgelegt werden, dass dem Rechtsbehelfsführer der Zugang zur
Gerichtsinstanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird.
Das gilt auch dann, wenn eine Prozesspartei anwaltlich vertreten ist, zumal vorliegend durch den
Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 25.04.2016 eine Klarstellung erfolgte.
26 Unter Berücksichtigung des genannten Maßstabes waren die weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft,
nämlich der Kläger zu 2 und die Klägerin zu 3 als weitere Kläger in das Verfahren einzubeziehen. Wesentlich
maßgeblich für diese sich auch aus Auslegungsgrundsätzen (§ 123 SGG) ergebende Entscheidung des
Gerichts ist, dass die Klägerin zu 1 von vornherein deutlich gemacht hat, dass es um eine Ausstattung der
von allen Bedarfsgemeinschaftsmitgliedern benutzten Wohnung geht. Dies ergibt sich sowohl aus der
Bezeichnung der einzelnen Gegenstände im Antrags- wie auch im Widerspruchsverfahren. Im
Klageverfahren war von Anfang an deutlich, dass es um die Wohnungsausstattung insgesamt ging. Die mit
der Klageschrift vorgelegten Rechnungen bezogen sich auch nicht auf die Klägerin zu 1, sondern auf den
Kläger zu 2. Im Rahmen der Klagebegründung (Schriftsatz vom 08.04.2016) heißt es u.a., ob denn die
„Familie“ in einer leeren Wohnung hausen solle.
27 Unschädlich ist, dass das Bundessozialgericht seine Vorgaben zur Auslegung von Anträgen bei Ansprüchen
von Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zunächst nur auf eine Übergangsfrist bis 30.06.2007 erstreckt hat
(BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 7 B AS 8/06 R - ), weil jedenfalls bei einer so eindeutigen
Interessenlage bereits nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen die vorbenannte Erweiterung angezeigt ist
(vgl. z.B. Hessisches Landessozialgericht , Urteil vom 19.06.2008 - L 7 AS 32/08 B ER - ;
Leopold in: Schlegel/Völzke, juris PK - SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rdnr. 321). Die vom Beklagten vertretene
anders lautende Auffassung ist formalistisch und verkürzt in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise den
Rechtsschutz von Rechtsschutzsuchenden. Ob der Entscheidung des Hessischen LSG vom 13.11.2015 (L 9
AS 44/15 ), auf die sich der Beklagte in der mündlichen Verhandlung berufen hat, zu folgen ist, kann
offen bleiben, weil im dortigen Fall offenkundig aus dem Vorbringen der Klägerseite nicht hinreichend
ersichtlich wurde, dass der Kläger für die gesamte Bedarfsgemeinschaft handelte. Schließlich hat das Gericht
im Hinblick auf die Vorschrift des § 73 Abs. 6 Satz 3 SGG auch keine Bedenken von einer hinreichenden
Bevollmächtigung auszugehen.
28 Die Klage ist auch nicht etwa deswegen (teilweise) unzulässig, weil - wie der Beklagte meint - einzelne
Bedarfe für Wohnungserstausstattungsgegenstände bisher nicht Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens
bzw. einer Verwaltungsentscheidung waren. Vielmehr können die Kläger sämtliche mit der Klage
verbundenen Bedarfe zulässig im Klageverfahren geltend machen. Richtig ist, dass die
Wohnungserstausstattung Gegenstand eines besonderen Antragsverfahrens ist (§ 37 Abs. 1 Satz 2 SGB II).
Das Gericht teilt aber nicht die Auffassung des Beklagten, dass dabei jeder einzelne fehlende Gegenstand
vom Hilfebedürftigen konkret bezeichnet werden muss. Bei Unklarheiten greift die Amtsermittlungspflicht (§
20 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) ein.
29 Der Beklagte trägt vor, dass die „mit Antrag vom 30.10.2015 beantragte Kücheneinrichtung“ voll
umfänglich bewilligt worden sei. Dies ist bereits vom Akteninhalt her nicht nachzuvollziehen. Ein Antrag
vom 30.10.2015 findet sich nicht in den Verwaltungsakten. Offenkundig wurden am 08.10.2015 (auf dieses
Datum nimmt auch der angefochtene Bescheid vom 03.12.2015 Bezug) der Bescheid des Sozialamtes der
Stadt ... vom 21.09.2015 und die offensichtlich dazu gehörige Liste mit erwünschten Gegenständen
vorgelegt, welche vom Sachbearbeiter ergänzt bzw. kommentiert wurden (grüne Schrift). Diese Unterlagen
finden sich auf Bl. 324 und 325 der Verwaltungsakte. Bereits am 01.10.2015 hatten die Kläger jedoch
deutlich gemacht, dass sie nicht wüssten, ob sie einen Anspruch auf laufende Leistungen hätten, den Antrag
aber wegen Bedarfs an Möbeln bereits jetzt stellten. Eine Einschränkung auf bestimmte
Einrichtungsgegenstände lässt sich diesem Vorbringen nicht entnehmen. Spätestens im
Widerspruchsverfahren (vgl. Bl. 338 Verwaltungsakte) wurde dann deutlich, dass den Klägern keinerlei
Einrichtungsgegenstände, abgesehen von einem Bett und einem Schrank, zur Verfügung standen. Genau
dies war der Grund für weitere Amtsermittlung durch den Beklagten, der den Außendienst mit einem
Hausbesuch beauftragte. Aus dem Außendienstbericht vom 22.01.2016 war für den Beklagten in
Verbindung mit den Angaben der Kläger jedenfalls hinreichend zu entnehmen, dass die letztlich mit der
Klage geltend gemachten Bedarfe zu den den Klägern fehlenden Gegenständen gehörten. Spätestens zu
diesem Zeitpunkt war der Beklagte umfassend zum Bedarf der Kläger unterrichtet, so dass eine
vollumfängliche Prüfung im Abhilfe- und Widerspruchsverfahren möglich war. Mit der Klageschrift wurde
sodann deutlich, welche Gegenstände die Kläger nach der Antragstellung inzwischen selbst angeschafft
hatten.
30 Die Klage ist - nachdem ein Bedarf für einen Schuhschrank, Gardinen für die Küche und für die Spüle nicht
mehr weiter geltend gemacht wurde - begründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom
03.12.2015 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.02.2016) ist rechtswidrig, soweit er den
Anspruch auf weitere Bedarfe im Kostenumfang von 703,95 EUR ablehnt. Die Kläger haben Anspruch auf
entsprechende Leistungen.
31 Gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II werden an Leistungsberechtigte nach dem SGB II Bedarfe für die
Erstausstattung der Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten gesondert erbracht. Die Leistungen für solche
Bedarfe können als Sachleistung oder Geldleistung, auch in Form von Pauschalbeträgen, erbracht werden (§
24 Abs. 3 Satz 5 SGB II).
32 Die Kläger waren im hier maßgeblichen Zeitraum leistungsberechtigt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1
bis 4 SGB II, insbesondere waren sie hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II. Dies steht fest aufgrund
der leistungsbewilligenden Bescheide des Beklagten vom 03.12.2015 und 12.02.2016 und ist im Übrigen
auch nicht streitig.
33 § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II setzt voraus, das für essentielle Wohnraum und/oder haushaltsbezogene
Gegenstände ein Bedarf besteht, der nicht bereits durch vorhandene Möbel, Einrichtungs- und/oder
Haushaltsgegenstände gedeckt ist, wobei nach der Rechtsprechung der für die Grundsicherung zuständigen
Senate des BSG zwischen dem typischen Fall der Erstbeschaffung und der nur unter bestimmten
Voraussetzungen leistungsauslösenden Ersatzbeschaffung bei erneutem Bedarfsanfall zu unterscheiden ist
(vgl. Blüggel in: Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013 § 24 Rdnr. 91 ff m.w.N.). Der Begriff der Erstausstattung ist
dabei nicht zeit-, sondern bedarfsbezogen zu verstehen (vgl. BSG, Urteil vom 19.09.2008 - B 14 AS 64/07 R
- ). Nach Sinn und Zweck der Vorschrift besteht ein Wohnraumbezug für Gegenstände, die für eine
geordnete Haushaltsführung und ein an herrschenden Lebensgewohnheiten orientiertes menschenwürdiges
Wohnen notwendig sind und ein solches ermöglichen (BSG, Urteil vom 16.12.2008 - B 4 AS 49/07 R -
). Zur Erstausstattung gehören daher nur solche Gegenstände, die der Befriedigung grundlegender
wohnraumbezogener Bedürfnisse wie Essen, Schlafen und dem Aufenthalt dienen (BSG, Urteil vom
24.02.2011 - B 14 AS 75/10 R - ).
34 Der Beklagte hält dem geltend gemachten Anspruch insbesondere entgegen, dass es sich nicht um eine Erst-
, sondern um eine Ersatzbeschaffung handele und verweist darauf, dass der Kläger zu 2 bereits früher über
Wohnungsausstattungsgegenstände verfügt habe. Dies ist auch grundsätzlich in Bezug auf die bis 2006 mit
der Ex-Frau und den gemeinsamen Kindern bewohnte Wohnung der Fall. Es ist jedoch vom Kläger zu 2
nachvollziehbar und glaubhaft erklärt worden, dass diese Gegenstände untergegangen sind und letztlich bei
Einzug in die neue Wohnung am 23.09.2015 mit den Klägerinnen zu 1 und 3 nur noch ein Bett und ein
Schrank (neben den Kindermöbeln) zur Verfügung standen. Einen Kühlschrank und die Couchgarnitur
bekamen die Kläger geschenkt.
35 Vorliegend ist die Ersatzbeschaffung nach Verlust der Möbel aus dem früheren Familienleben des Kläger zu 2
bedarfsauslösend im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB II. Nach dem legislativen Konzept ist nicht allein
die Erstbeschaffung erfasst, sondern auch eine Ersatzbeschaffung kann den Anspruch gemäß § 24 Abs. 3
Satz 1 Nr. 1 SGB III begründen (vgl. Blüggel, a.a.O., Rdnr. 92). Grundsätzlich ist zu fragen, ob die mit dem
Verlust früher vorhandener Wohnungsausstattungsgegenstände verbundene Bedarfslage wertend wie eine
Erstausstattung zu verstehen bzw. mit einer solchen gleichzusetzen ist. Vorwerfbares Verhalten im
Zusammenhang mit dem Verlust der Wohnungsausstattung steht dem Anspruch nicht entgegen, weil der im
SGB II zu deckende Bedarf grundsätzlich aktuell bestehen muss und auch aktuell vom
Grundsicherungsträger zu decken ist (vgl. Blüggel, a.a.O., Rdnr. 93).
36 Angesichts der nachvollziehbaren Angaben, die der Kläger zu 2 dazu gemacht hat, dass er nach dem Auszug
aus der früheren Familienwohnung über insgesamt 9 Jahre in kleinen Einzimmerwohnungen, die zum Teil
bereits möbliert waren, gewohnt hat und seine Möbel nicht behalten konnte, sind die Vermutungen des
Beklagten, dass bis zum Einzug in die Wohnung in der ... am 23.09.2015 noch in Keller- oder Lagerräumen
Möbel bzw. Haushaltsgegenstände vorhanden sein könnten, einfach abwegig. Ob der Kläger zu 2 sein
Mobiliar neun Jahre vor der nun entstandenen Bedarfslage einfach aufgeben, verkaufen oder wegwerfen
durfte und damit fahrlässig eine Bedarfslage herbeigeführt hat, ist nach dem Bedarfsdeckungsprinzip
grundsätzlich unerheblich. Fahrlässiges Verhalten im Zusammenhang mit dem Verlust der
Wohnungsausstattung steht dem Anspruch nicht entgegen (Blüggel, a.a.O.). Falls der Beklagte meint, der
Kläger zu 2 habe vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt, stehen ihm Handlungsoptionen nach § 34 Abs. 1
Satz 1 SGB II zur Verfügung.
37 Das Gericht geht nach alledem von einer eindeutigen Bedarfslage für die Ausstattung der Wohnung aus, die
wertungsmäßig mit einer „Erstausstattung“ vergleichbar ist.
38 In der Sache haben die Kläger einen Anspruch in Höhe von 703,95 EUR. Da die Kläger sich mit den vom
Beklagten angesetzten Pauschalen einverstanden erklärt haben, braucht das Gericht keinerlei
Ausführungen zur Angemessenheit dieser Pauschalbeträge zu machen. Im Einzelnen besteht in Bezug auf
das Klagebegehren Anspruch auf folgende Beträge:
39
4 Küchenschränke
à 80,00 EUR 320,00 EUR
Couchtisch
30,00 EUR
3 Lampen, (Bad, Kinderzimmer, Schlafzimmer)
à 10,00 EUR 30,00 EUR
4 Stühle
à 20,00 EUR 80,00 EUR
Anschlussstück Dunstabzugshaube
18,95 EUR
Gardinen (Wohnzimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer)
à 40,00 EUR 120,00 EUR
Gardinenstangen (Wohnzimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer) à 35,00 EUR 105,00 EUR
40 Einen Schuhschrank und Gardinen bzw. Gardinenstange für die Küche machen die Kläger nicht mehr
geltend. Insoweit handelt es sich auch nicht um für eine geordnete Haushaltsführung unabdingbare
Gegenstände.
41 Das Gericht geht in Abweichung von der Verwaltungspraxis des Beklagten von der Notwendigkeit von vier
Stühlen aus, obwohl die Klägerin zu 3 über einen Kinderstuhl verfügt. Jedenfalls bei einer Familie sind vier
Stühle für eine Grundausstattung angemessen, damit auch einmal Gäste (und dabei nicht nur eine einzige
Person) empfangen werden können.
42 Mit der von den Klägern vorgelegten Fotodokumentation ist nachgewiesen, dass die Einschätzung des
Außendienstes des Beklagten vom 22.01.2016, eine Einbauküche sei vorhanden, nicht zutrifft. Es handelt
sich lediglich um Einzelstücke, die für eine geordnete Haushaltsführung allein noch nicht ausreichen. Zwei
weitere Küchenschränke stehen den Klägern neben den bereits gekauften noch zu.
43 Das Gericht hat den rein rechtlich teilweise auf einem Kostenerstattungsanspruch und teilweise auf einem
Bedarfsdeckungsanspruch beruhenden Gesamtanspruch mit dem Betrag von 703,95 EUR zusammengefasst.
Den Kostenerstattungsanspruch können die Kläger geltend machen, weil sie nach Teilablehnung ihres
Begehrens mit dem angefochtenen Bescheid vom 03.12.2015 einen dringenden Bedarf auf Ausstattung ihrer
Wohnung hatten, den sie teilweise selbst gedeckt haben.
44 Der Beklagte hat sein Auswahlermessen auf die Gewährung von Pauschalbeträgen reduziert. Dem hat die
Klägerseite durch eine entsprechende Anpassung ihres Begehrens Rechnung getragen. Daher kommt es auf
weitere Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs (für kostenaufwendigere Gegenstände als mit
den Pauschalen abgedeckt) nicht an (zum Kostenerstattungsanspruch vgl. zum Beispiel Hessisches LSG,
Urteil vom 13.11.2015, a.a.O.).
45 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Kläger trotz teilweisen
Nachgebens (Akzeptanz der Pauschalen, Wegfall Schuhschrank und Gardinen für die Küche) in weit
überwiegendem Umfang obsiegt haben.
46 Das Gericht musste eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung treffen, weil der Wert des
Streitgegenstandes 750,00 EUR nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 SGG). Gründe für die Zulassung der
Berufung (§ 144 Abs. 2 Nrn. 1 bzw. 2 SGG) liegen nicht vor.