Urteil des SozG Reutlingen vom 20.01.2016

arzneimittel, verfassungskonforme auslegung, innere medizin, behandlung

SG Reutlingen Urteil vom 20.1.2016, S 1 KR 1767/15
Krankenversicherung - kein Anspruch auf Behandlung mit dem Medikament
Xeljanz
Leitsätze
1. Da dem Arzneimittel Xeljanz die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt,
ist dieses Arzneimittel mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht von der
Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst.
2. Auch eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen Regelungen des
Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zur Arzneimittelversorgung
führt nicht dazu, dass die Anspruchsvoraussetzungen ausnahmsweise bejahrt
werden müssen.
3. Auch die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 73 Abs 3 AMG für einen
Import von Xeljanz aus dem Ausland liegen nicht vor.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Vorliegend begehrt die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Übernahme der
Kosten für eine Behandlung mit dem Arzneimittel Xeljanz.
2 Bei der im ... geborenen, bei der Beklagten krankenversicherten Klägerin wurde im
Februar 2005 erstmals eine rheumatoide Arthritis diagnostiziert, die im weiteren
Verlauf zu einer wesentlichen Einschränkung der Beweglichkeit mit hochgradiger
Einschränkung der Gehfähigkeit führte. Nach eigenen Angaben der Klägerin ist sie
zwischenzeitlich auf die Benutzung eines Rollstuhles angewiesen. Ausweislich
des Arztbriefes der behandelnden Fachärztin für Innere Medizin, Rheumatologin
Dr. H... vom 17.11.2014 besteht bei der Klägerin seit 2012 ein entzündlicher Befall
des cranio-cervikalen Übergangs mit zunehmender Bandinstabilität.
3 Die Klägerin beantragte am 26.11.2014 bei der Beklagten die Übernahme der
Kosten für die Behandlung mit dem Arzneimittel Xeljanz. Dieses in den USA,
Kanada und in der Schweiz zugelassene Arzneimittel enthält den Wirkstoff
Tofacitinib und wird zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis eingesetzt, falls der
Wirkstoff Methotrexat nicht ausreichend wirksam oder verträglich ist (vgl.
www.pharmawiki.ch, Stichwort „Tofacitinib“). Neben Arztbriefen der Fachärztin für
Innere Medizin und Rheumatologie Dr. H... vom 04.08. und 17.11.2014 und der
Fachärztin für Innere Medizin Dr. B... vom 29.09.2014 war dem Antrag der Klägerin
das Attest der Dr. H... vom 17.11.2014 beigefügt, wonach trotz kontinuierlicher
rheumatologischer Therapie seit Beginn der Erkrankung der bisherig aggressive
Verlauf der Erkrankung bei der Klägerin nicht habe aufgehalten werden können.
Aufgrund des entzündlichen Befalls der oberen Halswirbelsäule sowie des
cardiovaskulären Risikos aufgrund des langfristig erhöhten CRP (C-reaktives
Protein; www.wikipedia.org, Stichwort „CRP“) sei die Erkrankung damit indirekt
auch lebensbedrohlich. Nach Unverträglichkeit bzw. Ineffektivität sämtlicher
verfügbarer konventioneller Basismedikamente sowie der bisher verfügbaren
Biologika werde der Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme hinsichtlich des
Medikaments Xeljanz unterstützt.
4 In seinem auf Veranlassung der Beklagten erstellten Gutachten vom 05.01.2015
gelangte Dr. M… vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-
Württemberg (MDK) zu dem Ergebnis, das Arzneimittel Xeljanz sei in Deutschland
bei negativem Votum der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA (European
Medicines Agency) nicht verkehrsfähig. Zudem seien auch die Bedingungen für
ein importfähiges Arzneimittel nicht vollständig erfüllt. So liege keine unmittelbar
tödliche oder gleichgestellte Erkrankung vor. Auch seien die in der Indikation
zugelassenen Arzneimitteloptionen und auch andere Therapieoptionen (operative
Maßnahmen) nicht ausgeschöpft. Der zu erwartende Nutzen übersteige nicht die
schwerwiegenden Risiken. Es bestehe somit keine Leistungspflicht der
gesetzlichen Krankenversicherung.
5 Gestützt hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 09.01.2015 die begehrte
Kostenübernahme ab.
6 Zur Begründung ihres hiergegen am 29.01.2015 eingelegten Widerspruches führte
die Klägerin u.a. aus, bei ihr bestehe kurz- bis mittelfristig eine lebensbedrohliche
Situation. Zwischenzeitlich sei es zu einem Verlust ihrer Gehfähigkeit gekommen.
Die bisher verordneten und zur Linderung der Beschwerden dringend
erforderlichen Medikamente hätten bei ihr sämtlich aufgrund des aggressiven
progredienten Verlaufs weder zu einer Stagnation noch zu einer Besserung der
Erkrankung geführt. Ihr stünden keine vertraglichen ausreichend wirksamen und
zugelassenen Antirheumatika zur Verfügung. Ergänzend hierzu legte sie die
Stellungnahme der Dr. H... vom 13.04.2015 vor, in dem diese nach Abwägung von
Nutzen und Risiko einen Therapieversuch mit dem Importarzneimittel Xeljanz für
sinnvoll und dringend erforderlich bei der Klägerin hielt.
7 Die Beklagte holte bei Dr. B... vom MDK daraufhin eine weitere gutachterliche
Stellungnahme ein. Dieser gelangte in seinem Gutachten vom 29.04.2015 zu dem
Ergebnis, das Arzneimittel Xeljanz sei in Deutschland nicht verkehrsfähig, da ein
allgemeines Importverbot bestehe. Kosten hierfür dürften durch die gesetzliche
Krankenversicherung nicht übernommen werden. Selbst wenn die
arzneimittelrechtliche Situation die Verkehrsfähigkeit von Xeljanz zulassen würde,
wären die Bedingungen für eine Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht vollständig
erfüllt. Es handle sich hier eindeutig um einen schweren Krankheitsverlauf, es liege
jedoch keine tödlich verlaufende oder gleichzustellende Erkrankung vor. Auch
seien Behandlungsalternativen vorhanden.
8 Gestützt hierauf wies der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss mit
Widerspruchsbescheid vom 01.07.2015 den Widerspruch als unbegründet zurück.
9 Hiergegen hat die Klägerin am 24.07.2015 beim Sozialgericht Reutlingen (SG)
Klage mit dem Begehren erhoben, die Beklagte zur Übernahme der Kosten für die
Behandlung mit dem Arzneimittel Xeljanz zu verurteilen. Zur Begründung hat sie
zum einen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt, zum
anderen ergänzend vorgetragen, die Wirksamkeit des Medikaments Xeljanz sei
durch Studien nachgewiesen. Das Medikament sei durch die EMA nur deswegen
nicht zugelassen worden, weil Sicherheitsbedenken aufgrund von
Nebenwirkungen bestanden hätten. Laut beigefügter Fachinformation bestehe in
der Schweiz eine Zulassung für Xeljanz. Auf die möglichen Nebenwirkungen bei
Anwendung von Xeljanz komme es in ihrem Fall nicht an. Die Inkaufnahme dieser
Nebenwirkungen sei nach Abwägung des zu erwartenden therapeutischen
Nutzens als gerechtfertigt anzusehen, insbesondere angesichts ihres Verlustes an
Lebensqualität durch den Verlust der Mobilität und der Beweglichkeit sowie
angesichts der Intensität ihrer Schmerzen. Überdies würden unter bestimmten
Voraussetzungen, die bei ihr vorliegen würden, in der täglichen Praxis in
Deutschland bzw. in der Europäischen Union nicht zugelassene Medikamente
unter Vorlage einer ärztlichen Verordnung durch örtliche Apotheken über die
internationale Apotheke bezogen und an Patienten abgegeben.
10 Die Klägerin beantragt,
11 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.01.2015 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 01.07.2015 zu verurteilen, ihr die Behandlung mit
dem Medikament Xeljanz als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung
zu gewähren.
12 Die Beklagte beantragt,
13 die Klage abzuweisen.
14 Sie hat auf den Inhalt ihres Widerspruchsbescheides verwiesen. Danach handle
es sich bei dem Arzneimittel Xeljanz um ein zulassungspflichtiges
Fertigarzneimittel. Eine Zulassung sei bislang weder durch die Deutsche
Zulassungsbehörde (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) noch
durch die EMA erfolgt. Vielmehr habe die EMA den Zulassungsantrag für das
Arzneimittel Xeljanz am 25.04.2013 negativ bewertet und die Zulassung am
25.07.2013 abgelehnt. Eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen
Krankenkassen sei daher grundsätzlich ausgeschlossen. Die Zulassung des
Arzneimittels Xeljanz in Kanada, den USA sowie in der Schweiz ermögliche keine
andere Beurteilung. Auch liege keine notstandsähnliche Situation vor, in der
ausnahmsweise eine Kostenübernahme erfolgen könne. Trotz Befalls des
Atlantooccipitalgelenks sei keine unmittelbare Lebensbedrohlichkeit gegeben.
Darüber hinaus stünden vertragliche Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Insoweit werde auf den Inhalt der beiden MDK-Gutachten verwiesen.
15 Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und der Gerichtsakten sowie der
Vorprozessakte S 1 KR 1181/15 ER Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
16 Die form- und fristgerecht beim sachlich und örtlich zuständigen SG erhobene
Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Entscheidung der Beklagten, eine
Übernahme der Kosten für eine Behandlung mit dem Arzneimittel Xeljanz
abzulehnen, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
17 Die Klägerin als gesetzliche Krankenversicherte hat nach den §§ 11 Abs. 1 Nr. 4,
27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 in Verbindung mit § 31 Abs. 1 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB V) einen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit
den für eine Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln. Dabei unterliegt die
Leistungspflicht der Beklagten allerdings den in den §§ 2 Abs. 1 und 12 Abs. 1
SGB V gesetzlich festgelegten Einschränkungen. Danach müssen die Leistungen
der Krankenkassen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen
das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig
oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die
Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12
Abs. 1 SGB V). Außerdem müssen Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem
allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen (§ 2
Abs. 1 Satz 3 SGB V).
18 An dieser für eine Leistungspflicht der Beklagten als gesetzlicher Krankenkasse
notwendigen Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Behandlung mit einem
Arzneimittel fehlt es nach zutreffender Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG), der sich die Kammer anschließt, wenn das verwendete Mittel nach den
Regelungen des Arzneimittelrechts einer Zulassung bedarf und diese Zulassung
nicht erteilt worden ist (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. Urteile vom
08.06.1993 – 1 RK 21/91 -; vom 08.03.1995 – 1 RK 8/94 - ; vom 23.07.1998 – B 1
KR 19/96 R -; vom 23.05.2000 – B 1 KR 2/99 R – und vom 19.03.2002 – B 1 KR
37/00 R – alle in juris).
19 Bei dem Arzneimittel Xeljanz handelt es sich um ein Fertigarzneimittel im Sinne von
§ 4 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG). Um im Geltungsbereich des AMG,
also im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, in den Verkehr gebracht werden
zu dürfen, bedarf dieses Arzneimittel nach § 21 Abs. 1 AMG einer
arzneimittelrechtlichen Zulassung, die vorliegend allerdings nicht erfolgt ist. Für das
zulassungspflichtige Arzneimittel Xeljanz lag weder in Deutschland noch EU-weit
eine solche Arzneimittelzulassung vor. Die in den USA im November 2012 und in
der Schweiz, einem Nichtmitgliedsstaat in der EU, im Jahr 2013 beschränkt auf
diese Staaten erteilte Arzneimittelzulassung von Xeljanz entfaltete nicht zugleich
auch entsprechende Rechtswirkungen für Deutschland; denn weder das deutsche
Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkung
der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechend
vom Hersteller eingeleitetes sowie positiv beschiedenes Antragsverfahren vor (vgl.
hierzu im Einzelnen BSG, Urteil vom 18.05.2004 – B 1 KR 21/02 R – juris). Auch
die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass für Xeljanz die
notwendige arzneimittelrechtliche Zulassung für Deutschland nicht vorlag. Damit
kam mangels Zulassung von Xeljanz eine zulassungsüberschreitende
Anwendung ebenfalls von vornherein nicht in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom
18.05.2004, aaO). Da dem Arzneimittel Xeljanz somit die erforderliche
arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt, ist dieses Arzneimittel mangels
Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§§ 2 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 1 SGB V) nicht
von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst.
20 Da die arzneimittelrechtliche Zulassung für Xeljanz fehlt, scheidet ein Anspruch der
Klägerin auf Versorgung mit diesem Arzneimittel nach den Grundsätzen des Off-
Label-Use aus. Denn dies setzt die Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels
für einen anderen Indikationsbereich als den der Zulassung voraus. Unabhängig
davon sind auch die Voraussetzungen für den Off-Label-Use nicht gegeben (vgl.
hierzu Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.09.2015 – L 4
KR 2942/15 ER-B –).
21 Auch eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen Regelungen des
Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zur Arzneimittelversorgung
führt vorliegend nicht dazu, dass die Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs. 1
Satz 2 Nr. 3 SGB V i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V hier ausnahmsweise bejaht
werden müssen.
22 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem sogenannten
Nikolausbeschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98 – juris – ) entschieden, dass es
mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. dem
Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen
gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig
tödlich verlaufende Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem
Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von einer
Leistung der von ihm gewählten ärztlich angewandten Behandlungsmethode
auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder
auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Eine
Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte
neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame
Bundesausschuss diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der
Praxis und der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat,
verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG, der sich das BSG (Urteil vom
07.11.2006 – B 1 KR 24/06 R – juris) angeschlossen hat, gegen das Grundgesetz,
wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
23 - Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung
vor.
- Bezüglich dieser Erkrankung steht eine allgemein anerkannte, medizinischem
Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung.
- Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein
anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine „auf Indizien gestützte“, nicht
ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare
positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
24 Diese vom BVerfG entwickelten Grundsätze, die ihren Niederschlag nicht nur in
der Rechtsprechung des BSG, sondern auch in dem mit Gesetz vom 22.12.2011
(Bundesgesetzblatt I, S. 2983) mit Wirkung vom 01.01.2012 eingefügten Abs. 1a
zu § 2 SGB V im dortigen Satz 1 ihren Niederschlag gefunden haben, gelten
sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln (BSG, Urteil vom
04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R – juris –). Bei dieser sinngemäßen Übertragung auf
den Arzneimittelbereich ist allerdings eine verfassungskonforme Auslegung nur
derjenigen Normen des SGB V geboten, die einem verfassungsrechtlich
begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen. Dagegen
bleibt die Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen des SGB V für einen
Leistungsanspruch auch unter Berücksichtigung der Verfassungsmäßigkeit eines
abgeschlossenen Leistungskatalogs der Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung unberührt (BSG, Urteil vom 04.04.2006, aaO). Die
Anwendung der vom BVerfG entwickelten Maßstäbe auf den Bereich der
Arzneimittelversorgung bedeutet auch, zu berücksichtigen, dass die
verfassungsrechtlichen Schutzpflichten den Leistungsansprüchen Versicherter
selbst im Falle regelmäßig tödlich verlaufender Krankheiten Grenzen setzen. Dem
entspricht es, für den Bereich der Arzneimittel die spezifischen Sicherungen auch
des Arzneimittelrechts in den Blick zu nehmen. Um die Notwendigkeit der
Krankenbehandlung mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel bejahen zu
können, müssen daher nach der zutreffenden Rechtsprechung des BSG (Urteil
vom 04.04.2006, aaO) neben der nach dem BVerfG erforderlichen
Krankheitssituation und den allgemeinen krankenversicherungsrechtlichen
Erfordernissen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
25 - Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen.
- Unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes
überwiegt bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch
speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von
Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen.
- Die – in erster Linie fachärztliche – Behandlung muss auch im Übrigen den
Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend
dokumentiert werden.
26 Ist diesen Kriterien genügt, bietet die Arzneimitteltherapie im Sinne der
Rechtsprechung des BVerfG hinreichende Aussicht auf Erfolg.
27 Vorliegend fehlt es bereits an einer vom BSG für notwendig erachteten
lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung. Eine
lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung oder eine zumindest
wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung ist nur zu bejahen, wenn eine
notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum
Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung
bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den
konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der
voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren,
überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird.
Ähnliches gilt für den ggf. gleichzustellenden, nicht kompensierbaren Verlust eines
wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion. Es reicht
nicht aus, dass eine Erkrankung unbehandelt zum Tode führt, weil dies auf nahezu
jede schwere Erkrankung ohne therapeutische Einwirkung zutrifft (BSG, Urteil vom
17.12.2013 – B 1 KR 70/12 R – juris mwN). Die bei der Klägerin nach dem
Antragsschreiben der Dr. H... vom 17.11.2014 bestehende rheumatoide Arthritis
mit schwerem und multilierendem Verlauf stellt zweifellos eine schwere und
fortschreitende Erkrankung dar, die inzwischen bei der Klägerin zum Verlust der
Gehfähigkeit geführt hat. Auch führte diese Erkrankung dazu, dass seit 2012 bei
der Klägerin ein entzündlicher Befall des cranio-cervikalen Übergangs mit
zunehmender Bandinstabilität besteht. Gleichwohl handelt es sich bei dieser
Erkrankung um keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung
oder eine zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung im dargestellten
Sinn. Dies belegen die Ausführungen der Dr. H... in ihrem Antragsschreiben vom
17.11.2014, wonach aufgrund des entzündlichen Befalls der oberen
Halswirbelsäule sowie des kardiovaskulären Risikos die Erkrankung indirekt auch
lebensbedrohlich sei. Eine direkte Lebensgefahr wird weder von Dr. H... mitgeteilt,
noch ist eine solche Lebensgefahr aus den vorliegenden Unterlagen zu ersehen.
Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass die Erkrankung der Klägerin weiter
fortschreitet und damit möglicherweise zu weiteren Beeinträchtigungen führen wird.
Es gibt jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Erkrankung innerhalb
eines kürzeren, überschaubaren Zeitraumes mit großer Wahrscheinlichkeit
unbehandelt zum Tod der Klägerin führen wird. Auch eine wertungsmäßig
vergleichbare Erkrankung ist nicht gegeben (vgl. hierzu Landessozialgericht
Baden-Württemberg, aaO).
28 Auch die vor der Behandlung mit dem nicht zugelassenen Arzneimittel Xeljanz
erforderliche abstrakte und konkret auf die Klägerin bezogene Nutzen-Risiko-
Analyse fällt vorliegend unter Beachtung des gebotenen
Wahrscheinlichkeitsmaßstabes negativ aus, sodass auch bei Anwendung der
dargestellten, von BVerfG und vom BSG entwickelten Kriterien ein
Leistungsanspruch der Beklagten auf die Versorgung mit dem Arzneimittel Xeljanz
ausscheidet.
29 Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der zu verlangen ist, um davon ausgehen zu
dürfen, dass die behaupteten Behandlungserfolge mit hinreichender Sicherheit
dem Einsatz gerade der streitigen Behandlung zugerechnet werden können und
das einzugehende Risiko vertretbar ist, unterliegt Abstufungen je nach der
Schwere und dem Stadium der Erkrankung nach dem Grundsatz „je
schwerwiegender die Erkrankung und hoffnungsloser die Situation, desto
geringere Anforderungen an die ernsthaften Hinweise auf eine nicht ganz entfernt
liegenden Behandlungserfolg“. Bei der erforderlichen Gegenüberstellung von
(angenommenem) Nutzen der Behandlung und dem Risiko schädlicher
Nebenwirkungen kann für die Notwendigkeit der Durchführung einer nicht durch
allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse gesicherten Behandlung
sprechen, dass das anzuwendende Arzneimittel bereits in einem einzelnen
anderen EU-Mitgliedsstaat bzw. einem vergleichbaren Abkommensstaat unter
Beachtung der europarechtlich im Arzneimittelbereich geltenden Richtlinien-
Vorgaben zugelassen ist. Umgekehrt müsste die abstrakte Risiko-Nutzen-
Abwägung für ein Arzneimittel negativ verlaufen, wenn bereits eine ablehnende
Zulassungsentscheidung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte
ergangen ist und sich zwischenzeitlich keine neuen Erkenntnisse ergeben haben.
Entsprechendes gilt, wenn für ein Arzneimittel im Rahmen der zentralen oder
dezentralen Zulassung auf EU-Ebene die Zulassung verweigert wurde (BSG, Urteil
vom 04.04.2006, aaO).
30 Bei Anwendung dieser Maßstäbe fällt vorliegend die vorzunehmende abstrakte
Risiko-Nutzen-Abwägung für das Arzneimittel Xeljanz negativ aus, da diesem
Arzneimittel von der EMA am 25.07.2013 die Genehmigung für das
Inverkehrbringen versagt wurde (vgl. www.ema-europa-eu/docs/de_de/document).
Ausweislich ihrer Mitteilung vom 26.07.2013 (EMA/460814/2014 war die EMA bei
ihrer Entscheidung einer Empfehlung des Ausschusses für Humanarzneimittel
(CHMP) gefolgt. Der CHMP war im April 2013 zwar zu der Auffassung gelangt,
dass die Daten aus fünf Hauptstudien insgesamt gezeigt hätten, dass eine
Behandlung mit Xeljanz eine Verbesserung der Anzeichen und Symptome der
rheumatoiden Arthritis sowie der körperlichen Funktionsfähigkeit der Patienten
bewirkt habe. Allerdings hätten die Studien nicht für den Nachweis einer
beständigen Verminderung der Krankheitsaktivität und der strukturellen Schäden
der Gelenke ausgereicht. Im Rahmen einer im Juli 2013 auf Vorschlag des
Herstellers durchgeführten Überprüfung gelangte der CHMP aufgrund des Fehlens
von robustem Beweismaterial über den Schutz vor strukturellen Schäden von
Xeljanz in der vorgeschlagenen Dosis und Patientengruppe zu der (erneuten)
Ansicht, dass der Nutzen der Behandlung nicht gegenüber den bedeutenden und
nicht entkräfteten Sicherheitsbedenken (Risiko für schwere Nebenwirkungen, wie
z. B. gewisse Krebserkrankungen, Magen-Darmperforationen [Löcher in der
Darmwand], Leberschäden und Probleme im Zusammenhang mit erhöhten
Blutfettwerten) überwiege. Er empfahl daher nach erneuter Überprüfung weiterhin
die Versagung der Genehmigung für das Inverkehrbringen, dem die EMA mit ihrer
Entscheidung vom 25.07.2013 gefolgt ist. Zur Überzeugung der Kammer steht
aufgrund der negativen Entscheidung der EMA damit fest, dass der Nutzen dieses
Arzneimittels nicht ausreichend nachgewiesen ist.
31 Das Vorbringen der Klägerin, die Inkaufnahme der Nebenwirkungen des
Medikaments Xeljanz sei nach Abwägung des zu erwartenden therapeutischen
Nutzens, insbesondere angesichts ihres Verlustes an Lebensqualität sowie
angesichts der Intensität ihrer Schmerzen als gerechtfertigt anzusehen, ist zwar
durchaus nachvollziehbar, führt jedoch zu keiner anderen Entscheidung. Bei
objektiv bestehenden nicht entkräfteten Sicherheitsbedenken aufgrund erheblicher
Nebenwirkungen kann von der Beklagten nicht verlangt werden, die Kosten für
dieses Medikament zu übernehmen.
32 Entgegen der Auffassung der Klägerin liegen auch die Voraussetzungen der
Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 3 AMG für einen Import von Xeljanz aus dem
Ausland nicht vor. § 73 Abs. 3 Satz 1 AMG enthält eine Ausnahme zu § 73 Abs. 1
Satz 1 AMG, wonach Arzneimittel, die der Pflicht zur Zulassung unterliegen, in die
Bundesrepublik Deutschland nur verbracht werden dürfen, wenn sie zum Verkehr
im Inland zugelassen oder registriert oder von der Zulassung oder Registrierung
freigestellt sind. Dieses Verbringungsverbot wird ausnahmsweise durch § 73 Abs.
3 Satz 1 AMG für den Fall durchbrochen, dass hier nicht zugelassene
Fertigarzneimittel in dem Staat in Verkehr gebracht werden dürfen, aus dem sie
von Apotheken bestellt in das Inland verbracht werden. Nach den zutreffenden
Ausführungen des BSG (Urteil vom 17.03.2005 – B 3 KR 2/05 R – juris –) greift die
Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 3 AMG nur bei solchen Medikamenten, die zwar
im Ausland zugelassen sind, nicht aber in Deutschland oder in der EU, dies aber
nicht auf einer abgelehnten, entzogenen oder ruhenden Zulassung beruht,
sondern darauf, dass die Zulassung in der EU oder in Deutschland nicht beantragt
oder das Zulassungsverfahren noch nicht beendet worden ist. § 73 Abs. 3 Satz 1
AMG lässt somit also nur Raum für den Import bereits im Ausland zugelassener, im
Inland mangels Durchführung bzw. Abschluss eines Zulassungsverfahrens noch
nicht zugelassener Medikamente. Es darf also bei § 73 Abs. 3 AMG keine negative
Zulassungsentscheidung vorliegen; ist diese vorhanden, bleibt es beim
allgemeinen Importverbot nach § 30 Abs. 4 AMG. Wie das BSG (aaO) weiter
zutreffend ausführt, wird die ausländische Zulassung insbesondere in einem Staat
mit vergleichbarem medizinischem Versorgungsniveau – was zweifellos bei den
USA, Kanada und der Schweiz der Fall ist – solange als hinreichende Gewähr für
die Arzneimittelsicherheit in Einzelfällen angesehen, wie die innerstaatlichen oder
EG-Behörden noch keine eigene Prüfung vornehmen konnten. Das gilt folglich
nicht mehr, sobald die Zulassung für das Inland versagt, entzogen oder
nachträglich deren Ruhen angeordnet wurde. Aufgrund der negativen
Zulassungsentscheidung der EMA greift die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 3
Satz 1 AMG daher hier nicht, es verbleibt beim allgemeinen Importverbot nach § 30
Abs. 4 AMG. Anderenfalls würde die negative Zulassungsentscheidung der EMA
bei einem Einzelimport umgangen werden (vgl. Landessozialgericht Baden-
Württemberg, aaO).
33 Die Klage war somit mit der sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes
ergebenden Kostenfolge abzuweisen.