Urteil des SozG Reutlingen vom 22.10.2008
SozG Reutlingen: verpflegung, form, aufenthalt, verwaltungsakt, pauschal, minderung, heizung, umkehrschluss, erlass, leistungsanspruch
Sozialgericht Reutlingen
Gerichtsbescheid vom 22.10.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Reutlingen S 6 AS 2982/08
Der Bescheid der Beklagten vom 10.07.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.2008 wird
aufgehoben. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die dem Kläger gewährte Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes in
einer Rehaklinik als Einkommen zu berücksichtigen ist.
Der am ... geborene Kläger bezieht seit Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Beklagte bewilligte dem Kläger u. a. mit Bescheid vom 02.05.2008 für den Zeitraum Juni bis einschließlich
November 2008 Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 347 EUR.
Am 17.06.2008 wurde der Kläger in der Rehaklinik ... stationär aufgenommen. Mit Änderungsbescheid vom
10.07.2008 bewilligte die Beklagte dem Kläger im Zeitraum August bis November 2008 Grundsicherungsleistungen
nach dem SGB II nur noch in Höhe von monatlich 258,15 EUR. Die Neuberechnung sei nach Mitteilung über die
Aufnahme zur stationären Therapie in der Rehaklinik erforderlich geworden. Vollverpflegung während eines stationären
Aufenthaltes sei pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der maßgebenden monatlichen Regelleistung als
Einkommen zu berücksichtigen. Daher sei ab August die Verpflegungspauschale vorläufig als Einkommen
angerechnet worden.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 23.07.2008. Er beanstandet die Anrechnung einer
"Ernährungspauschale" als sonstiges Einkommen.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.07.2008 zurück. Gemäß § 2 Abs. 5 der
Arbeitslosengeld II-Verordnung sei bereitgestellte Vollverpflegung pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der
maßgebenden monatlichen Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen. Beim Kläger ergebe sich unter
Zugrundelegung der maßgeblichen Regelleistung in Höhe von 351 EUR ein Anrechnungsbetrag in Höhe von 122,85
EUR. Von diesem sei die Versicherungspauschale in Höhe von 30 EUR abzuziehen. Der Leistungsanspruch
gegenüber der Beklagten reduziere sich infolgedessen um 92,85 EUR pro Monat. Durch die Änderung der
Arbeitslosengeld II-Verordnung sei die Rechtslage bei stationärem Aufenthalt nunmehr eindeutig geregelt, so dass für
abweichende Auslegungen kein Raum mehr bestehe.
Hiergegen richtet sich die Klage vom 19.08.2008. Der Kläger ist der Ansicht, dass für die Kürzung der Regelleistung
keine Rechtsgrundlage existiere. Die Gewährung von Vollverpflegung in einer stationären Unterbringung könne nicht
als Einkommen angesehen werden. Diese habe keinen Marktwert, sei also nicht gegen Geld tauschbar.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
den Bescheid vom 10.07.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.2008 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Entscheidung fest und verweist zur Begründung auf die Ausführungen im angefochtenen
Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat die Beteiligten auf seine Absicht, den Rechtsstreit durch Gerichtsbescheid zu entscheiden,
hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und weiterer Einzelheiten wird auf die Akte der Beklagten und die
Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch
Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art
aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten.
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 10.07.2008 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.07.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Beklagte war nicht berechtigt, den Bescheid vom 02.05.2008 teilweise aufzuheben. Die Voraussetzungen des §
48 Abs. 1 SGB X liegen nicht vor.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung
vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen
erfolgt (Nr. 1), der Betroffene eine durch Rechtsvorschrift vorgeschriebene Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn
nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Nr. 2), nach
Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall
oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Nr. 3), oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er
die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt
ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Nr. 4). Gemäß §
48 Abs. 4 SGB X gelten die §§ 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 SGB X entsprechend, §
45 Abs. 4 Satz 2 SGB X jedoch nicht im Falle des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X.
Es fehlt bereits an einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse. Der Umstand, dass
sich der Kläger seit dem 17.06.2008 in einer stationären Einrichtung aufhält und dort Vollverpflegung erhält, berührt
seinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II weder dem Grunde noch der Höhe nach.
Ein Leistungsausschluss dem Grunde nach gemäß § 7 Abs. 4 SGB II liegt nicht vor. Zwar erhält nach § 7 Abs. 4
Satz 1 SGB II Leistungen nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Abweichend davon erhält aber
gemäß § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wer voraussichtlich für weniger als sechs
Monate in einem Krankenhaus im Sinne von § 107 SGB V untergebracht ist. Letzteres ist hier der Fall. Dass bei der –
für die Prognose maßgeblichen – Bewilligungsentscheidung der Beklagten ein längerer Aufenthalt absehbar gewesen
wäre, ist nicht ersichtlich und wird auch von der Beklagten nicht behauptet. Der von § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II in
Bezug genommene § 107 SGB V erfasst neben dem Krankhaus im engeren Sinne als Einrichtung der
Krankenbehandlung und Geburtshilfe auch Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen. Diese sind nach dem Willen
des Gesetzgebers im Anwendungsbereich des § 7 Abs. 4 SGB II den Krankenhäusern gleichgestellt (siehe die
ausdrückliche Begründung des Gesetzentwurfes auf Bundestags-Drucksache 16/1410, S. 20), was in der generellen
Verweisung auf § 107 SGB V seinen Ausdruck findet (LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 19.06.2007, Az.: L 3 ER
144/07 AS, juris, Rdnr. 14).
Andererseits lässt sich aus § 7 Abs. 4 SGB II allerdings nicht der Umkehrschluss ziehen, dass
Leistungseinschränkungen bei stationärem Aufenthalt von weniger als sechs Monaten per se nicht statthaft seien (so
aber wohl SG Detmold, Beschluss vom 10.01.2006, Az.: S 9 AS 237/05 ER, juris, Rdnr. 4). § 7 Abs. 4 SGB II regelt
nur den Ausschluss von Ansprüchen nach dem SGB II dem Grunde nach, verhält sich aber nicht zur Frage von
Leistungseinschränkungen der Höhe nach.
Die Vollpflegung führt nicht zu einer Minderung des Bedarfes des Klägers in dem Sinne, dass seine Regelleistung um
den Betrag zu senken wäre, der in ihr für Nahrung und Getränke vorgesehen ist (so bereits Urteil der 2. Kammer des
SG Reutlingen vom 21.08.2007, Az.: S 2 AS 2502/07, juris, Rdnr. 21 ff., mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Der Bedarf eines Hilfebedürftigen ist – jenseits der Kosten für Unterkunft und Heizung im Sinne von § 22 Abs. 1 SGB
II – im System des SGB II abstrakt zu bestimmen. Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes sollen
grundsätzlich in pauschalierter Form erbracht werden (dazu und zum Folgenden siehe nur Urteil der 2. Kammer des
SG Reutlingen vom 21.08.2007, Az.: S 2 AS 2502/07, juris, Rdnr. 22, m. w. N.; ebenso BSG, Urteil vom 18.06.2008,
Az.: B 14 AS 22/07 R, juris, Rdnr. 22 ff.). Der Gesetzgeber hat dies in Form der Regelleistung im Sinne von § 20 SGB
II getan. Sie deckt den allgemeinen Bedarf des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen abschließend. Eine Erhöhung oder
Absenkung dieses Bedarfes ist – abgesehen von den wenigen ausdrücklich geregelten Fällen (§ 21, § 23 Abs. 3 Nrn.
1 bis 3 SGB II) – nicht statthaft. Dies folgt zudem aus dem Umkehrschluss zu § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, wo eine
anderweitige Festlegung der Bedarfe im Falle der vollständigen oder teilweise anderweitigen Deckung zugelassen
wurde (vgl. auch § 9 Abs. 1 SGB XII), während es an einer solchen Regelung im zeitgleich in Kraft getretenen SGB II
fehlt.
Dies führt zu Lasten der Hilfebedürftigen dazu, dass das SGB II die Gewährung einmaliger Beihilfen etwa für
besondere Anschaffungen grundsätzlich nicht vorsieht (dazu und zum folgenden SG Darmstadt, Urteil vom
26.01.2007, Az.: S 19 AS 238/06, juris, Rdnr. 13). Vielmehr wurde durch die Einführung des SGB II und die damit
verbundene Änderung (Erhöhung) der Regelsätze nach dem bis dahin geltenden BSHG das System der einmaligen
Beihilfen bis auf wenige Ausnahmen abgeschafft. Damit scheidet eine über die Regelleistungen des § 20 SGB II
hinausgehende Leistungsgewährung in Form einmaliger Beihilfen aus, soweit sich nicht aus dem Gesetz explizit ein
Anspruch auf eine solche Leistung ergibt. Dies wurde durch die mit Wirkung zum 1. August 2006 eingefügte Regelung
des § 3 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz SGB II bekräftigt. Danach decken die nach dem SGB II vorgesehenen Leistungen
den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen.
Eine davon abweichende Festlegung der Bedarfe ist ausgeschlossen (§ 3 Abs. 2 Satz 2 SGB II).
Die gleichen Vorgaben gelten aber auch zu Gunsten des Hilfebedürftigen, dem die Behörden die Regelleistung auch
dann nicht kürzen dürfen, wenn seine tatsächlichen Ausgaben geringer sind (siehe nur Urteil der 2. Kammer des SG
Reutlingen vom 21.08.2007, Az.: S 2 AS 2502/07, juris, Rdnr. 24, m. w. N.). Die tatsächliche Ausgabenseite ist damit
– wiederum jenseits der Kosten für Unterkunft und Heizung – für die Berechnung des Bedarfes des Hilfebedürftigen
ohne Bedeutung.
Die Hilfebedürftigkeit und damit der Leistungsanspruch des Klägers ist auch nicht gemäß § 9 Abs. 1 SGB II i.V.m. §
11, § 12, § 9 Abs. 2 bis 5 SGB II vermindert. Deren Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Insbesondere stellt die
unentgeltliche Verpflegung während eines stationären Aufenthaltes kein Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 SGB II
dar, weil die bereitgestellte Verpflegung für den Kläger keinen Geldeswert hat (dazu ausführlich Urteil der 2. Kammer
des SG Reutlingen vom 21.08.2007, Az.: S 2 AS 2502/07, juris, Rdnr. 25 ff., mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Schließlich bietet auch § 2 Abs. 5 Satz 1 ALG II-Verordnung keine hinreichende Grundlage für die
Aufhebungsentscheidung der Beklagten. Nach dieser Norm ist bereitgestellte Verpflegung pauschal in Höhe von
monatlich 35 Prozent der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung zu berücksichtigen.
Deutet man § 2 Abs. 5 Satz 1 ALG II-Verordnung als bloße Anrechnungsvorschrift bezüglich der Höhe, geht sie ins
Leere. Sie setzt voraus, dass bereitgestellte Verpflegung Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist;
dies ist aber nach dem Dargelegten gerade nicht der Fall.
Deutet man § 2 Abs. 5 Satz 1 ALG II-Verordnung demgegenüber als Norm, die eine bereitgestellte Verpflegung auch
dem Grunde nach als Einkommen definiert, ist die Vorschrift nichtig, weil sie von der Ermächtigungsgrundlage des §
13 Satz 1 Nr. 1 SGB II nicht gedeckt ist. § 13 Satz 1 Nr. 1 SGB II ermächtigt das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen ohne Zustimmung des Bundesrates durch
Rechtsverordnung zu bestimmen, welche weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind und wie
das Einkommen im Einzelnen zu berechnen ist. Damit wird aber gerade keine Ermächtigung statuiert, "Einnahmen"
positiv als Einkommen zu definieren, die nach der allein maßgeblichen Vorschrift des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II
gerade kein Einkommen darstellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Berufung war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 144 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.