Urteil des SozG Regensburg vom 24.09.2003

SozG Regensburg: künstliche befruchtung, private krankenversicherung, ivf, krankenkasse, medizinische indikation, sterilität, schwangerschaft, krankheit, hormonbehandlung, eizelle

Sozialgericht Regensburg
Urteil vom 24.09.2003 (rechtskräftig)
Sozialgericht Regensburg S 2 KR 191/03
Bayerisches Landessozialgericht
Bundessozialgericht B 1 KR 3/04 R
I. Der Bescheid der Beklagten vom 24.10.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2003 wird
aufgehoben. II. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der Invitro-Fertilisation und die im Rahmen der ICSI-
Behandlung bei der Klägerin entstandenen Kosten zu übernehmen. III. Die Beklagte trägt die notwendigen
außergerichtlichen Kosten der Klägerin. IV. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte die Kosten für die Maßnahmen zur Herbeiführung einer
Schwangerschaft mittels intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) zu tragen hat, die "an" der Klägerin und
außerhalb des Körpers durchgeführt wurden (In-vitro-Fertilisation = IVF).
Die genannte Technik der extrakorporalen Befruchtung wird im Wesentlichen bei Ehepaaren angewandt, die infolge
einer Fertilitätsstörung des Mannes auf natürlichem Wege keine Kinder zeugen können. In solchen Fällen genügt es in
der Regel nicht, Samen- und Eizellen zur spontanen Verschmelzung im Reagenzglas zusammenzubringen (IVF).
Vielmehr muss ein einzelnes Spermium mit Hilfe einer mikroskopisch dünnen Nadel unmittelbar in die Eizelle injiziert
werden. Die übrigen Einzelschritte des Verfahrens bestehen ebenso wie bei der IVF darin, durch Hormonbehandlung
der Frau mehrere Eizellen verfügbar zu machen, dem Körper zu entnehmen und nach dem Befruchtungsvorgang als
Embryo wieder in den Körper zu übertragen (sogenannter Embryonentransfer). Eine ICSI-Behandlung zerfällt also in
drei Komplexe: Die Maßnahmen "am" Mann, die Maßnahmen "an" der Frau und die extra- korporale Befruchtung
außerhalb der Körper.
Die 1970 geborene Klägerin ist bei der Beklagten versichert, ihr Ehemann ist privat krankenversichert.
Mit Fax vom 11.10.2002 beantragte sie sinngemäß die Kostenübernahme einer ICSI-Behandlung für die "an" ihr
durchzuführenden Maßnahmen und für die IVF, mündlich teilte sie der Beklagten mit, die Ursache für die eheliche
Sterilität liege allein beim Ehemann. Vorgelegt wurde ein Schreiben des privaten Krankenversicherers des Ehemanns
vom 26.09.2002, mit dem eine Kostenzusage für vier ICSI-Versuche erteilt wurde, jedoch lediglich für die "am"
Ehemann durchzuführenden Behandlungsschritte, abgelehnt wurde ausdrücklich eine Kostenübernahme für die IVF
und die Hormonbehandlung der Klägerin.
Mit Schreiben vom 14.10.2002 an den Privatversicherer des Ehemanns der Klägerin stellte die Beklagte fest, dass
nach der Rechtsprechung des BSG in den Fällen, in denen der Ehemann privat versichert sei und er sich gegen das
Risiko der ungewollten Kinderlosigkeit versichert habe, dessen Versicherung die Gesamtkosten für die künstliche
Befruchtung nach der ICSI-Methode zu übernehmen habe, wenn die Ursächlichkeit für die Sterilität bei ihm liege, da
der Ehemann der Klägerin aus der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten ausgetreten sei und Mitglied einer
privaten Krankenversicherung geworden sei, habe die Privatversicherung die Gesamtkosten der ICSI-Behandlung zu
übernehmen.
Der Ehemann der Klägerin teilte der Beklagten telefonisch mit, die private Krankenversicherung übernehme nicht die
Maßnahmen für die IVF und die Behandlung der Ehefrau.
Die Klägerin selbst legte am 18.10.2002 gegen das ihr zugegangene Schreiben der Beklagten vom 14.10.2002
Widerspruch ein, sie bezog sich zur Begründung auf die von der Beklagten genannten Entscheidungen des BSG, mit
einem Schreiben vom 23.10.2002 beantragte sie Kostenerstattung für die durchgeführte ICSI-Behandlung.
Der von der Beklagten eingeschaltete Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kam in einer
Stellungnahme nach Aktenlage vom 19.02.2003 zum Ergebnis, gemäß den Richtlinien des Bundesausschüsse der
Ärzte und Krankenkassen für künstliche Befruchtung bestehe im Falle der Klägerin eine medizinische Indikation zur
Durchführung der ICSI.
Mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2003 wies die Beklagte den Rechtsbehelf als unbegründet zurück, wiederum
mit der Begründung in den Fällen, in denen der privat versicherte Ehemann einer gesetzlich Krankenversicherten
ursächlich für die eheliche Sterilität sei, habe die private Krankenversicherung des Ehemannes die Kosten der ICSI in
vollem Umfang zu zahlen.
Hiergegen erhob die Bevollmächtigte am 12.06.2003 Klage mit der Begründung, entsprechend der Rechtsprechung
des BSG habe die Beklagte die Kosten der IVF und die Hormonbehandlung der Klägerin auch in dem Fall zu zahlen,
wenn die Ursache für die Kinderlosigkeit allein beim privat versicherten Ehemann liege.
In der mündlichen Verhandlung vom 24.09.2003 beantragte die Bevollmächtigte sinngemäß:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 24.10.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2003 wird
aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die Kosten für die erfolgte künstliche Befruchtung im Wege
der Invitro-Fertilisation nebst der hormonellen Vorbehandlung zu erstatten. 3. Die Beklagte trägt die notwendigen
außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Vertreterin der Beklagten beantragte,
die Klage abzuweisen, für den Fall des Unterliegens beantragte sie die Zulassung der Sprungrevision, da der Fall für
die Beklagte grundsätzliche Bedeutung habe, nach ihrer Rechtsauffassung habe bei vorliegender Fallgestaltung nach
dem "Verursacherprinzip" die private Krankenversicherung des Ehemanns der Klägerin die ICSI-Behandlung zu
übernehmen.
Die Bevollmächtigte der Klägerin stimmte der Sprungrevision zu.
Beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten, auf deren
Inhalt sowie auf den Inhalt der gegenständlichen Streitakte wird hinsichtlich des weiteren Sachund Streitstandes
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet, die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der durch die bei ihr durchgeführten
Maßnahmen der IVF-Behandlung entstandenen Kosten.
Zwar hat nach § 2 Abs.2 SGB IV die Beklagte grundsätzlich ihre Leistungen als Sach- und Dienstleistungen zu
erbringen, eine Kostenerstattung darf nach § 13 Abs.1 SGB V anstelle der Sach- oder Dienstleistungen nur erfolgen,
soweit es das SGB V oder das SGB IX es vorsehen. Als einzig mögliche Anspruchsgrundlage für eine
Kostenerstattung ist hier § 13 Abs.3 SGB V anzuwenden. Nach dieser Vorschrift hat die Krankenkasse, wenn sie eine
un- aufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und
dadurch dem Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese dem Versicherten in der
entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Die Voraussetzungen der 2. Alternative dieser Vorschrift sind erfüllt, die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, der
Klägerin die Kosten der IVF-Behandlung zu erstatten.
Unstreitig ist zwischen den Beteiligten, dass die Klägerin grundsätzlich Anspruch auf künstliche Befruchtung nach §
27a SGB V hat, die Voraussetzungen dessen Abs.1 sind unstreitig erfüllt (vgl. MDK vom 19.02.03).
Streitig ist letztlich nur die Auslegung des Abs.3 des § 27a SGB V, wonach die Krankenkasse nur die Kosten der
Maßnahmen nach § 1, die bei ihrem Versicherten durchgeführt werden, zu übernehmen hat. Welchem Ehegatten
diese IVF-Behandlung zugerechnet werden muss und wessen Krankenkasse sie zu erbringen hat, ist dem Gesetz
unmittelbar nicht zu entnehmen. Die wegen des Standes der Vorschrift im Leistungsrecht der Krankenversicherung
naheliegende Annahme, die nicht unmittelbar personenbezogenen Leistungen sollten der Versicherung desjenigen
Partners angelastet werden, dessen Infertilität die Behandlung notwendig macht, also die Ansicht der Beklagten, mit
der sie eine Kostenübernahme abgelehnt hat, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht zwingend. Denn obwohl §
27a Abs.1 SGB V die Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft rechtstechnisch den Leistungen der
Krankenbehandlung zuordnet, handelt es sich nicht um Krankenbehandlung im eigentlichen Sinne. Das Gesetz knüpft
die Leistungspflicht der Krankenkasse nicht an einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand ihres Mitglieds,
sondern an die ungewollte Kinderlosigkeit des Ehepaars und die daraus resultierende Notwendigkeit einer künstlichen
Befruchtung an. Vorausgesetzt wird allein, dass die vorgesehenen Maßnahmen zur Herbeiführung der gewünschten
Schwangerschaft erforderlich und erfolgsversprechend sind. Welche Umstände die Infertilität verursachen und ob ihr
eine Krankheit im krankenver- sicherungsrechtlichen Sinne zugrunde liegt, ist unerheblich. Ein Leistungsanspruch
besteht auch dann, wenn keiner der Eheleute nachweisbar krank ist und die Unfruchtbarkeit des Paares medizinisch
nicht erklärt werden kann (sogenannte idiopathische Sterilität); denn aus medizinischer Sicht wird auch bei dieser
Fallgestaltung eine Indikation zur künstlichen Befruchtung bejaht. Nicht die Krankheit, sondern die Unfähigkeit des
Paares, auf natürlichem Weg Kinder zu zeugen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer künstlichen
Befruchtung bildet den Versicherungsfall (vgl. BSG vom 03.04.2001 - Az.: B 1 KR 22/00 R). Daraus ergibt sich als
Konsequenz, dass auch der gesunde Ehegatte gegen seine Krankenkasse einen Anspruch auf künstliche
Befruchtung erwerben kann, obwohl bei ihm keine behandlungsbedürftige Störung besteht und ein entsprechender
Versicherungsfall der Krankheit nicht eingetreten ist. Hieran zeigt sich wiederum, dass in der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht die Krankheit des versicherten Ehepartners, sondern die Sterilität des Paares den
Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung begründet (vgl. BSG aaO). Hieraus ergibt sich, dass bei
ungewollter Kinderlosigkeit grundsätzlich jeder Ehegatte gegen seine Krankenkasse einen Anspruch auf alle zur
Herbeiführung einer Schwangerschaft notwendigen Maßnahmen hat und nur die in § 27a Abs.3 SGB V genannten
"Nebenleistungen" bei dem anderen Ehegatten hiervon ausgenommen sind. Sind beide Eheleute gesetzlich
krankenversichert, muss allerdings die zuständige Krankenkasse bestimmt werden, weil die Leistungen im Ergebnis
nur einmal beansprucht werden können. Da sich die Einzelansprüche der Eheleute bei dieser Konstellation lückenlos
zu einem Anrecht des Paares auf alle für die künstliche Befruchtung notwendigen Leistungen ergänzen, muss sich die
Kassenzuständigkeit nicht zwangsläufig nach der Ursache der Fruchtbarkeitsstörung richten, sondern kann, ohne
dass dem Ehepaar ein Nachteil entsteht, auch nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten bestimmt werden, um den
beteiligten Kassen eine praktikable, unnötigen Verwaltungsaufwand vermeidende Handhabung zu ermöglichen. Die
Leistungsansprüche der Ehegatten werden dadurch aber nicht berührt, so dass eine Krankenkasse ihrem Versicherten
grundsätzlich nicht entgegenhalten kann, die Kosten der IVF müssten von der Versicherung des anderen Ehegatten
getragen werden. Das gilt namentlich dann, wenn nur der eine Ehegatte Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse und
der andere privat versichert ist. Die Rechtslage in der privaten Krankenversicherung oder im Beihilferecht
unterscheidet sich wesentlich von derjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung. Würde man auf die Ursache der
Sterilität abstellen, so bliebe bei der vorliegenden Fallgestaltung, bei der der Ehemann privat krankenversichert ist und
bei ihm die Ursache der Sterilität liegt, der Klägerin als gesetzlich Versicherte die in § 27a SGB V zugesagte
Behandlung versagt, ein solches Ergebnis lässt sich jedoch mit der gesetzlichen Regelung nicht vereinbaren (vgl.
BSG aaO).
Da also die Beklagte dem Anspruch der Klägerin auf bei ihr durchzuführende Maßnahmen der extrakorporalen
Befruchtung nicht entgegenhalten konnte, für diese Leistung sei die private Krankenversicherung ihres Ehemannes
zuständig, hat sie die Kostenübernahme zu Unrecht abgelehnt, es war daher zu entscheiden wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
-