Urteil des SozG Osnabrück vom 02.12.2010

SozG Osnabrück: verpflegung, sozialhilfe, abgrenzung, vergleich, verordnung, nummer, bedürftigkeit, behandlung, willkürverbot, gestaltungsspielraum

Sozialgericht Osnabrück
Urteil vom 02.12.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Osnabrück S 5 SO 177/09
1) Der Bescheid vom 10.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2009 wird insoweit aufgehoben,
als darin eine Kürzung des Regelsatzes aufgrund des Krankenhausaufenthaltes der Klägerin vorgenommen worden
ist. 2) Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. 3) Die Berufung wird
zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen eine Kürzung ihrer Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)
während eines Krankenhausaufenthaltes.
Die im Jahre 1963 geborene Klägerin ist voll erwerbsgemindert und steht im laufenden Bezug von Leistungen der
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII. Sie gesetzlich krankenversichert, die
Beiträge werden von dem Beklagten übernommen.
Der Beklagte hob die bewilligten Leistungen mit Bescheid vom 10.10.2008 teilweise auf, da die Klägerin am 1.11.2008
in ein Krankenhaus aufgenommen werde und ab diesem Zeitpunkt nur noch Anspruch auf einen reduzierten Regelsatz
i.H.v. 200,07 EUR habe.
Die Klägerin legte gegen den Bescheid mit Schreiben vom 4.11.2008 Widerspruch ein, da es nicht zulässig sei, ihre
Leistungen zu kürzen.
Die Klägerin wurde dann am 1.1.2009 aus dem Krankenhaus entlassen. Der Beklagte gewährte ihr daraufhin ab
diesem Zeitpunkt mit Bescheid vom 14.1.2009 wieder den vollen Regelsatz.
Der Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 23.10.2009 zurück. Zur Begründung
führte er aus, dass die Kürzung des Regelsatzes auf § 28 Abs. 1 SGB XII beruhe, da der Bedarf der Klägerin während
des Krankenhausaufenthaltes teilweise gedeckt gewesen sei. Sie habe dort kostenlose Verpflegung enthalten, so
dass der Regelsatz um den Anteil für Ernährung i.H.v. 122,85 EUR zu reduzieren sei. Darüber hinaus sei eine
Ersparnis im Bereich Energie i.H.v. 28,08 EUR (8% des Regelsatzes) eingetreten. Die Klägerin habe daher während
ihres Krankenhausaufenthaltes lediglich einen Anspruch auf einen Regelsatz i.H.v. 200,07 EUR gehabt.
Die Klägerin hat am 30.11.2009 Klage erhoben. Diese begründet sie damit, dass die Kürzung des Regelsatzes nicht
rechtmäßig sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 10.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2009 insoweit aufzuheben, als
darin eine Kürzung des Regelsatzes aufgrund des Krankenhausaufenthaltes der Klägerin vorgenommen worden ist.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide, die er für rechtmäßig hält.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG
einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die
Verwaltungsakte des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht konnte im vorliegenden Verfahren gem. § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung
entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid vom 10.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2009 erweist sich als rechtswidrig,
denn die Klägerin hatte auch während ihres Krankenhausaufenthaltes Anspruch auf den vollen Regelsatz.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII werden die Bedarfe abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder
teilweise anderweitig gedeckt ist. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn eine solche abweichende
Festlegung ist nur zulässig, wenn der Bedarf durch eine andere Leistung nach dem SGB XII gedeckt wird. Dies ist bei
der Verpflegung im Krankenhaus nicht der Fall, da es sich dabei im Regelfall um eine Leistung nach dem SGB V
handelt.
Eine bedarfsmindernde Berücksichtigung von Zuwendungen nach § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII nur in Betracht, wenn
diese von einem Träger der Sozialhilfe als Leistung nach dem SGB XII erbracht werden. Eine Berücksichtigung als
Einkommen scheidet dann nämlich schon deshalb aus, weil nach § 82 Abs 1 Satz 1 SGB XII Leistungen nach dem
SGB XII von dem Einkommensbegriff ausdrücklich ausgenommen sind. Dies ist der maßgebende Gesichtspunkt für
die Abgrenzung beider Vorschriften. Der Anwendungsbereich des § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII ist deshalb zur
Vermeidung von Doppelleistungen dann eröffnet, wenn es bei der Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt -
etwa als Teil der Eingliederungshilfeleistung - zu Überschneidungen mit den durch den Regelsatz nach § 28 Abs 1
Satz 1 SGB XII pauschal abgegoltenen tatsächlichen Bedarfen kommt. Einer solchen Überschneidung kann nicht im
Rahmen der Einkommensberücksichtigung, sondern allein durch Minderung des Bedarfs nach § 28 Abs 1 Satz 2 SGB
XII begegnet werden, soweit die Voraussetzungen dieser Vorschrift für eine Absenkung des Regelsatzes vorliegen. In
anderen Fällen, in denen - wie hier - die Leistung nicht (institutionell) als Sozialhilfe erbracht wird, ist im Rahmen der
normativen Abgrenzung eine Berücksichtigung als Einkommen iS von § 82 SGB XII zu prüfen; Einkommen mindert
also im Sinne der gesetzlichen Regelung nicht bereits den Bedarf (vgl. BSG, Urteil vom 23.3.2010 – B 8 SO 17/09 R).
Im vorliegenden Fall wurde der Bedarf nicht durch eine andere Leistung nach dem SGB XII gedeckt, denn die Klägerin
ist gesetzlich krankenversichert, so dass die Kosten des Krankenhausaufenthaltes von ihrer Krankenkasse getragen
wurden.
Die kostenlose Verpflegung im Krankenhaus kann auch nicht als Einkommen gem. § 82 Abs. 1 SGB XII auf die
Leistungen angerechnet werden, denn dies würde zu einer Ungleichbehandlung der Klägerin im Vergleich mit
Beziehern von Leistungen nach dem SGB II führen. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 11 der Verordnung zur Berechnung von
Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld
(ALG II-VO) ist Verpflegung, die außerhalb der in den §§ 2, 3 und 4 Nummer 4 genannten Einkommensarten
bereitgestellt wird, nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Eine solche Regelung findet sich in der Verordnung zur
Durchführung des § 82 SGB XII nicht. § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO ist jedoch nach Auffassung der Kammer
entsprechend anzuwenden, denn die Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII dürfen insoweit nicht schlechter
gestellt werden (vgl. Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, § 28, Rn. 58; allgemein zur Notwendigkeit einer Harmonisierung von
SGB II und SGB XII: Stölting/Greiser, SGb 2010, 631 ff.).
Der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu
anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art
und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet
dem Gesetzgeber also, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Zwar hat der
Gesetzgeber bei Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, grundsätzlich einen weiten
Gestaltungsspielraum. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen aber in einem angemessenen
Verhältnis zueinander stehen. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal reichen die Anforderungen
an den Differenzierungsgrund dabei vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an
Verhältnismäßigkeitserfordernisse. Differenzierungen, die dem Gesetzgeber verboten sind, dürfen auch von den
Gerichten im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften nicht für Recht erkannt werden. Ist von mehreren
Auslegungen nur eine mit dem Grundgesetz vereinbar, muss diese gewählt werden. Entsprechend sind unter
Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Bezieher von Leistungen nach dem SGB II und
nach dem SGB XII bei der Bewertung von Sachbezügen gleich zu behandeln, soweit kein (rechtfertigender) Grund für
eine unterschiedliche Behandlung erkennbar ist. Insoweit existiert bei der Bewertung von kostenlosem Essen als
Einkommen im Recht des SGB II kein Bezug zu der dem SGB II immanenten Erwerbsbezogenheit (vgl. BSG, Urteil
vom 23.3.2010 – B 8 SO 17/09 R). In Anbetracht dieser Rechtsprechung – der sich die Kammer anschließt – ist § 1
Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO im vorliegenden Verfahren aus verfassungsrechtlichen Gründen entsprechend anzuwenden,
denn es ist nicht ersichtlich, wie sich die unterschiedliche Anrechnung von kostenloser Verpflegung im SGB II und im
SGB XII rechtfertigen ließe. Wenn es sich nach § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO nicht um Einkommen handelt, dann
muss dies auch für die Bezieher von Leistungen nach dem SGB XII gelten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Die Berufung bedurfte gem. § 144 Abs. 1 SGG der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro
nicht übersteigt. Die Kammer hat die Berufung gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG im Hinblick auf die grundsätzliche
Bedeutung der Sache zugelassen. Über die Frage der analogen Anwendung des § 1 Abs. 1 Nr. 11 ALG II-VO auf die
Leistungen nach dem SGB XII ist – soweit ersichtlich – höchstrichterlich noch nicht entschieden worden.